Kapitel 6
Die Genossenschaft

1 Freundin | 3 Blatt Papier

Nachdem sie sich bei den Kolonisten als nicht feindlich zu erkennen gegeben hatten, drehten die Hummeln bei und gaben ihnen Geleitschutz. Gemeinsam flogen sie durch die Dünentäler zur Kolonie. Adriana manövrierte das Schiff vorsichtig an seinen Stellplatz im vorderen Teil der Höhle und die sie begleitenden Hummeln wurden gleich daneben abgestellt.

Oliver nahm Handschellen aus seiner Reisetasche und steckte sie in eine Hosentasche.

»Wenn es möglich ist, wollen wir jetzt doch gleich jemanden festnehmen«, erläuterte er der ihn fragend anschauenden Adriana.

Vor dem Schiff wurden sie schon von Stanley und – zu Olivers großen Erleichterung – seiner Freundin erwartet.

Stanley fragte: »Habt ihr Kontakt herstellen können?« 

»Nein, das Magnetfeld war zu stark und der große Planet war im Weg«, log Adriana, wie vereinbart.

Oliver sah aus den Augenwinkeln, wie Stanleys Freundin sich ein breites Grinsen zu verkneifen versuchte.

Blitzschnell nahm Oliver seine Handschellen aus der Tasche, bekam die Hände von Stanleys Freundin zu fassen und fesselte sie. Stanley schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

»ICIA! Du bist festgenommen!« 

Stanley fragte: »Weswegen?« 

»Beihilfe zum Mord, Beihilfe zu einer Entführung, Beihilfe zum Betrug; mal sehen, was noch alles zusammenkommt.« 

»Du arbeitest für die Company?«, fragte Stanley.

Zu Olivers großer Überraschung versuchte sie überhaupt nicht, sich herauszureden oder es zu leugnen.

Stattdessen zischte sie: »Du hast gegen uns überhaupt keine Chance, Agent wie-auch-immer-dein-Nachname-lautet.« 

»Wir werden sehen«, entgegnete Oliver.

Gelassen drückte er auf den Kommunikator, der in seinem Ohr steckte.

Eine Tür des Schiffs öffnete sich und die ICIA-Agents traten heraus, Olivers Chef voran.

»Wie du siehst, habe ich Verstärkung mitgebracht«, sagte Oliver.

Sie schaute ihn mit einem jetzt nicht mehr so selbstsicheren Gesichtsausdruck an.

Adriana rief: »Stanley, nicht!« 

Es war allerdings zu spät, denn er verpasste seiner – jetzt ehemaligen – Freundin eine schallende Ohrfeige, so dass etwas Blut aus einem Mundwinkel lief.

Aus dem Schiff stieg jetzt auch noch das SWAT-Team in voller Rüstung und ihre Augen richteten wieder auf Oliver. Er holte seinen Dienstausweis aus der Tasche und klappte ihn auf.

»Ich muss mich doch noch offiziell ausweisen. Gestatten, Hanson, Special Agent Oliver Hanson, Interstellar Crime Investigation Agency.« 

Weiterhin schaute sie ihn nur an und hüllte sich in Schweigen.

Olivers Chef kam auf ihn zu.

»Ich habe schon unser Schiff benachrichtigt. Haben wir hier einen abschließbaren Raum, in dem wir sie wegsperren können?« 

»Ja«, antwortete Oliver, »auf der Anaconda gibt es im Para-Decksbereich ein paar Arrestzellen, da könnt ihr sie hinbringen.« 

Die ICIA-Agents führten Stanleys jetzt sehr finster dreinblickende Freundin ab.

Stanley hatte seine Fassung wiedergewonnen.

»Soso, ICIA. Undercover, nehme ich an?« 

Oliver sagte: »Bitte entschuldige meine Heimlichtuerei; ich durfte niemanden gefährden.« 

»Aber Adriana?« 

»Die Company hatte sie wohl im Verdacht, ebenfalls eine Undercover-Agentin zu sein. Als wir dann gemeinsam in der Hummel waren, hatte sie die Chance ergriffen, uns beide auf einen Schlag auslöschen zu können.« 

Wohlweislich hatte Oliver aber nicht erwähnt, dass sie eine Seherin war. Stanley bohrte weiter nach.

»Du bist also ein Cop, ein Undercover-Cop! Bist du denn kein richtiger Techniker? So habe ich dich zumindest bei der Company kennengelernt.« 

»Doch, ich habe tatsächlich eine richtige technische Ausbildung. Die Chefetage war der Meinung, dass sie jemanden braucht, der einen unauffälligen Lebenslauf fernab irgendeiner Ermittlungsbehörde hat, um ihn besser in die Company einschleusen zu können. Wie du weißt, war es ja nicht der erste Versuch.« 

»Nachdem also welche von euch aufgeflogen waren, hattet ihr als letzte Möglichkeit gesehen, einen Technik-Nerd zu nehmen?« 

»Wenn du mich als ›Technik-Nerd‹ bezeichnen magst, dann: Ja.« 

Olivers Chef gesellte sich zu ihnen.

»Wir brauchen Hilfe von euch Kolonisten«, sagte er.

Stanley meinte: »Wenn es gegen die Company geht, jederzeit gerne!« 

Dem inzwischen eingetroffenen ICIA-Raumschiff wurde von Stanley ein Stellplatz in der Höhle zugewiesen.

Nach und nach trafen sich alle in der »Passagier-Lounge« der Anaconda, um ihr weiteres Vorgehen zu besprechen.

Olivers Chef begann mit den Worten: »Hauptpunkt ist, wie wir ungesehen zum Nordpol zur DMMC-Zentrale gelangen können. Ich gehe davon aus, dass außerhalb des ›Piraten-Gebiets‹ alles gut überwacht ist.« 

Oliver nickte.

»Also, wer hat eine Idee?« 

Adriana meldete sich.

»Stanley, wann ist die nächste längere Finsternis?« 

»Ich weiß, worauf du hinaus willst«, meinte dieser.

Olivers Chef regte an: »Vielleicht können wir das sogar mit einem Sandsturm kombinieren.« 

»Das geht nicht«, entgegnete Oliver. »Sandstürme und Finsternisse gehen nicht zusammen. Sandstürme brauchen Sonnenlicht, viel Sonnenlicht.« 

»Bleibt also nur die Finsternis«, stellte Olivers Chef fest.

Stanley schaute in seinem Rechner nach und tatsächlich fand für sie genau passend am Tag der Trauerfeier eine lange Finsternis statt, so dass es an diesem Tag nur wenige Stunden hell war.

»Das hat sich die Company ja den richtigen Tag ausgesucht! Adriana, was ist los?« 

Die Angesprochene schien scheinbar vollkommen abwesend zu sein und starrte aus dem Fenster. Vor der Höhle bemerkte sie eine vorbei fliegende Hummel, die eine kleine Staubwolke hinter sich herzog.

»Ich weiß«, sagte sie, »das klingt jetzt völlig irre: Können wir und nicht in der Staubwolke eines großen Schiffs der Company, also direkt dahinter, zum Nordpol kommen? Durch den Metallerzgehalt des Staubs wären wir für ein Radar oder die Überwachung der Company nahezu unsichtbar. Ich weiß auch, dass viel Sand und Staub in unsere Triebwerke gelangen könnte. Wir könnten aber auch dann im ›Sandsturmmodus‹ fliegen.« 

»Alles klar, welches Schiff können wir nehmen?«, fragte Olivers Chef.

Adriana hob ihre Hände. »Moment mal, ich habe eigentlich nur laut gedacht!« 

Oliver legte seinen Arm um sie.

»Mädchen, das ist genau die Art Idee, die wir jetzt brauchen. Können wir, wenn ihr Kolonisten es entbehren könnt, wieder das kleine Bergungsschiff nehmen?« 

»Aber nur, wenn ich mitkommen darf«, bestimmte Stanley.

Olivers Chef erwiderte: »Wir wollen die Hauptverdächtigen festnehmen, also gibt es keine eigenmächtigen Aktionen, um irgendwelche persönlichen Rechnungen begleichen zu können!« 

Stanley willigte zähneknirschend ein und Olivers Chef schaute auffordernd zu Adriana und Oliver.

»Das gilt für alle, Agent Hanson!« 

»Verstanden, Sir«, bestätigte Oliver.

Adriana brachte nicht mehr als ein grimmiges »ja, ja« heraus.

Jetzt erst rückte Olivers Chef mit der Nachricht heraus, dass sich noch ein größeres Raumschiff des ICIA auf der vom Wüstenmond abgewandten Seite des Gasriesen aufhielt und in Bereitschaft stand.

»Wie nehmen wir Kontakt auf, von hier aus geht es ja nicht?«, fragte Oliver.

Der Chef antwortete: »Wenn wir am Nordpol alles halbwegs unter Kontrolle haben, geben wir von dort aus das Signal.« 

»Halbwegs?« 

»Ich will ganz offen sein«, meinte der Chef, »Ich rechne durchaus mit einigem Widerstand der DMMC. Besonders die Paras, wie ihr sie nennt, könnten uns ein paar unverhoffte Probleme bereiten.« 

Sie hatten noch etwas eineinhalb Erdtage Zeit, um alles vorzubereiten. Das ICIA-Raumschiff wurde wieder an Deck des Bergungsschiffs gebracht und festgezurrt. Oliver beschaffte sich Zugang zu den IT-Systemen der Company, um die Flugpläne nach geeigneten Schiffen zu durchsuchen, an die sie sich anhängen konnten. Schon nach kurzer Zeit hatte er ein Schiff gefunden, das einerseits recht nah an der Kolonie vorbei kam und andererseits auch rechtzeitig am Nordpol ankommen würde. Das Schiff war sogar auf einer direkten Route ohne Zwischenhalt zum Nordpol unterwegs, so dass sie sich nicht bei jedem Zwischenhalt erst verstecken und dann wieder an das Schiff anhängen mussten. Auch war wegen der langen Finsternis kein Sandsturm zu erwarten, der sie womöglich viel zu spät am Pol ankommen gelassen hätte. Sich an dieses Company-Schiff anzuhängen hatte nur einen kleinen Nachteil, nämlich dass sie schon in ein paar Stunden aufbrechen mussten, um ihren von Stanley ermittelten Rendezvouspunkt rechtzeitig erreichen zu können. So brach doch eine recht geschäftige Hektik aus, um das Bergungsschiff endgültig reisefertig machen zu können.

Wieder hieß es für Adriana und Oliver von den Kolonisten Abschied zu nehmen. Als sie an Bord des Bergungsschiffs gingen, nahm Olivers Chef Adriana zur Seite.

»Miss Dubajič, ich falle gleich mit der Tür ins Haus, aber ich glaube, das haben Sie bereits vorausgesehen, oder?« 

Sie schaute ihn erstaunt an.

»Wir, beziehungsweise die ICIA, wissen, dass Sie eine Seherin sind. Eine spezielle Einheit von uns macht diesbezüglich laufende Beobachtungen, auch um neues Personal rekrutieren zu können.« 

Adriana sagte immer noch nichts.

»Ich habe vollstes Vertrauen in Sie, Miss Dubajič! Vertrauen, uns still und heimlich hinter das DMMC-Schiff zu bringen – und vor allem im Zweifelsfall die ganze Übung auch abzubrechen.« 

Sie fühlte sich geehrt und merkte, wie sie heiße Ohren bekam.

»Sie brauchen nicht rot zu werden! Wer hat sonst noch davon Kenntnis?« 

Sie hatte ihre Sprache wiedergefunden und fragte: »Von was?« 

»Dass Sie eine Seherin sind.« 

»Eigentlich nur Oliver, wahrscheinlich aber das ganze ICIA – und natürlich vielleicht die Company.« 

»Die DMMC, das könnte tatsächlich noch ein Problem werden. Ich hoffe allerdings – bitte jetzt nicht falsch verstehen –, dass Sie nur eine Art Kollateralschaden waren, als Agent Hanson von der DMMC ausgeschaltet werden sollte.« 

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Erst Oliver hat mir die Augen geöffnet und mir erklärt, was und wer ich wirklich bin. Und im Kasino habe ich mich zurückgehalten, um nicht aufzufallen.« 

»Sie wissen schon, dass Sehende in diversen Sonnensystemen in allen Spielkasinos Hausverbote haben…« 

Sie lachte und meinte: »Ich habe nur der Company etwas Schmerzensgeld abgeluchst.« 

Gemeinsam gingen sie zur Brücke und Adriana bereitete den Abflug vor.

Kurz nachdem die Dämmerung eingesetzt hatte, flogen sie los. Oliver hatte aus den Informationen der Company herausgefunden, dass das andere Schiff nur eine leichte Verspätung hatte. Als es vollkommen dunkel war, kamen sie am Rendezvouspunkt an und legten sich neben einer sehr hohen Düne auf die Lauer. Oliver flog mit Stanley in einer Hummel auf den Dünenkamm und sie stellten die Hummel so ab, dass sie von der anderen Seite der Düne nicht zu sehen war. Sie stiegen aus der Hummel aus und krochen vorsichtig durch den losen Sand auf den Dünenkamm hinauf. Auf dem Kamm angekommen war nur ein leichter Wind zu spüren. Vor ihnen lag noch ein Feld mit kleineren Dünen und dahinter begann schon die große Ebene, die sich bis zum Nordpol erstreckte.

Sie setzten ihre Nachtsichtgeräte auf und schauten in die Richtung, aus der sich das Company-Schiff nähern sollte. Schon nach einer Viertelstunde hatte Stanley etwas entdeckt.

»Bewegung in eins-sechs-null Grad!« 

Oliver peilte mit seinem Nachtsichtgerät in die angegebene Richtung und dann sah er es auch.

»Ja, da könnte ein Schiff sein!«, bestätigte er.

Diese Dünen vor dem Übergang in die Ebene waren nicht mehr als »Piratengebiet« ausgewiesen und so war das Schiff in voller »Festbeleuchtung« zu sehen, wie Oliver es beschrieb. Regelmäßig sahen sie die Antikollisionsbeleuchtung aufblitzen, wenn das Schiff eine Düne überquerte.

Oliver schaute auf seine Uhr.

»Das ist ja unsere Mitfahrgelegenheit – und sogar pünktlich!« 

Oliver gab die Ankunft des anderen Schiffs an das Bergungsschiff weiter und Adriana meldete, dass sie jetzt starten wollte. Oliver und Stanley rutschten vorsichtig die Düne herunter und bestiegen die Hummel. Sie mussten auf jeden Fall wieder an Bord des Bergungsschiffs sein, bevor dieses in den Bodeneffektflug ging, da ihre Hummel älteren Baujahres nicht für diese hohe Geschwindigkeit ausgelegt war.

Unter ihnen sahen sie das unbeleuchtete Bergungsschiff schemenhaft an sich vorbeiziehen. Mit einer unbeleuchteten Hummel unter Zeitdruck auf einem ebenfalls unbeleuchteten Wüstenschiff in stockdunkler Nacht sicher zu landen, war ein sehr anspruchsvolles Manöver, zumal das Dünental nicht viel Manövrierspielraum bot. Oliver war sichtlich erleichtert, als er die Hummel sicher auf dem Ladedeck neben dem ICIA-Raumschiff abgestellt hatte. Noch vom Ladedeck aus konnten sie beobachten, wie die Tragflächen ausgefahren wurden, um das Schiff für den Bodeneffektflug vorzubereiten.

Auf der Brücke übernahm Oliver wieder die technische Kontrolle und Stanley setzte sich wieder ans Radar. Aus den Steuerbordfenstern konnte man schwach die rot aufblitzenden Backbord-Antikollisionsleuchten des anderen Schiffs erkennen.

Mit der Zeit wurden die Dünen flacher und Adriana ließ ihr Schiff etwas zurückfallen, damit sie nicht gleich auffielen. Dann begann die Ebene, das andere Schiff fuhr ebenfalls seine Tragflächen aus und beschleunigte. Oliver machte über die Lautsprecheranlage eine Durchsage, dass sich alle hinzusetzen und anzuschnallen hatten. Kurz darauf brachte Adriana mit einem waghalsigen Manöver ihr Schiff mitten in die Staubwolke, die das Company-Schiff hinter sich herzog.

Glücklicherweise handelte es sich bei dem Schiff der Company um ein älteres Modell und dieses besaß in etwa die gleiche Höchstgeschwindigkeit wie das Bergungsschiff. So schafften sie es, dem Schiff in gleichmäßigem Abstand im Bodeneffektflug folgen zu können. Adriana saß im Steuerstand und flog im manuelles Modus mehr oder weniger nach Gefühl, indem sie jeden Geschwindigkeitswechsel und jede Kursänderung des anderen Schiffs schon erahnte, bevor er überhaupt stattgefunden hatte. Auch versuchte sie, möglichst immer in der Mitte der Staubschleppe zu bleiben, wo der Staub am dichtesten war.

»Was passiert, wenn das andere Schiff plötzlich stoppt?«, wollte Olivers Chef wissen.

Oliver antwortete: »Dann knallen wir mit Schmackes achtern drauf. Die Triebwerke bohren sich dann hier in die Brücke. Wenn wir Glück haben, sind wir dann sofort tot und werden nicht verstümmelt. Man kann so ein Wüstenschiff im Bodeneffektflug nicht einfach auf der Stelle anhalten – ähnlich wie auch bei einem Raumschiff.« 

»Außer man hat natürlich eine Seherin am Ruder«, sagte Olivers Chef leise.

»Natürlich.« 

So verbrachte Adriana mehrere Stunden unter höchster Anspannung im Steuerstand. Oliver schaute auf seine Monitore.

»Noch haben wir nahezu volle Leistung«, stellte er fest. »Der Sand scheint uns nicht zu schaden. Noch nicht.« 

Er wusste, dass ihr Schiff nicht ewig so dem Sand ausgesetzt weiterfliegen konnte. Irgendwann kam der Zeitpunkt, ab dem sie das Schiff wie in einem Sandsturm fliegen mussten, und das war natürlich viel langsamer als die jetzige Geschwindigkeit. Zu Olivers großen Erleichterung verlangsamte das andere Schiff aber bald seine Fahrt und verließ den Bodeneffektgeschwindigkeitsbereich.

»Wir nähern uns der Nordpolregion«, meldete Stanley.

Der Uhrzeit nach sollte jetzt eigentlich die Sonne aufgehen, aber der Gasriese verdeckte sie, so dass es noch recht dunkel blieb. An sich waren das ideale Voraussetzungen, um sich unbemerkt dem Wüstenschiffhafen nähern zu können. Adriana hielt sich immer noch direkt hinter dem Company-Schiff und ohne von Paras beschossen oder gestoppt worden zu sein, stellte sie das Schiff auf dem Company-Schrottplatz zwischen zwei ausgemusterten Schiffen ab. Vollkommen erschöpft und durchgeschwitzt verließ sie den Steuerstand.

»Sehr, sehr gute Arbeit, Miss Dubajič!«, sagte Olivers Chef.

Die Angesprochene bekam ein flaues Gefühl in der Magengegend. Dieser Satz erinnerte sie an den Kapitän der Anaconda und sie fragte sich, ob er tatsächlich einer der Drahtzieher war.

Olivers Chef schaute sie an und fragte: »Habe ich etwas Falsches gesagt?« 

»N–nein, g–ganz und gar nicht«, stammelte sie.

Olivers Chef wechselte flugs das Thema und fragte: »Wie können wir uns hier jetzt möglichst unbemerkt bewegen?« 

»Hummeln!«, schlug Oliver vor. »Solange wir den großen Schiffen nicht allzu sehr in die Quere kommen und uns unauffällig verhalten, können wir mit Hummeln nahezu überall herum fliegen.« 

Stanley hatte auch herausfinden können, wo genau die Trauerfeier stattfinden sollte, und so würde es auch nicht weiter auffallen, wenn an den Ort noch ein paar Hummeln hinzukamen.

Der Gasriese bewegte sich langsam von der Sonne weg und allmählich wurde es hell. Oliver schaute sich die Schiffe an, die neben ihnen abgestellt waren. Ihr durch den langen Flug in der Staubwolke des Companyschiffs vollkommen eingestaubte Schiff fiel seiner Meinung nach zwischen diesen ausgemusterten und ebenfalls ziemlich eingestaubten Schiffen überhaupt nicht auf, zumal es ja auch ein altes Schiff der Company war und sich darüber hinaus nur selten jemand in diesen hintersten Winkel des Nordpolhafens verirrte. Auch das kleine Raumschiff der ICIA war unter einer dicken Sand- und Staubschicht fast gar nicht mehr als solches zu erkennen. Er hatte sich schon Gedanken gemacht, wir ihre Schiffe jetzt am besten zu tarnen waren, aber Sand und Staub hatten dies schon zu seiner vollsten Zufriedenheit von selbst erledigt.

Bis zum voraussichtlichen Beginn der Trauerfeier hatten sie noch etwas Zeit, die vor allem Adriana für ein ausgiebiges Nickerchen nutzte. Olivers Chef schickte eine kleine Vorhut zur Veranstaltungshalle, in der die Trauerfeier stattfinden sollte. Die Vorhut sollte sie benachrichtigen, wann sie nachrücken konnten. Alle anderen überprüften nochmals ihre Ausrüstung und setzten sich in die Hummeln, um auf das Startsignal zu warten.

Adrianas Bruder schaute aus einem Fenster auf das eingestaubte ICIA-Raumschiff.

»Was habt ihr denn mit meinem Schiff gemacht?«, fragte er. »So dreckig war es ja noch nie!« 

Oliver antwortete lachend: »Gute Tarnung, oder?« 

Dann erfolgt das Startsignal und die Hummeln flogen nacheinander aus dem Hangar des Bergungsschiffs heraus. Vollkommen unbehelligt flogen sie quer über das Hafengebiet und reihten sich in die abgestellten Hummeln vor der Veranstaltungshalle ein. Noch immer war niemand auf sie aufmerksam geworden, was Stanley merkwürdig vorkam.

»Die Company ist wahrscheinlich wieder einmal viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie so etwas merken würde«, meinte Adriana, die aus der anderen Hummel ausgestiegen war.

Olivers Chef bekam von der Vorhut das Zeichen, dass sich jetzt alle Teilnehmer der Trauerfeier in die Halle begeben hätten. Die ICIA-Agents und das SWAT-Team nahmen daraufhin hinter den Hummeln Aufstellung. Dies blieb aber nicht unbemerkt und eine Reporterin nebst Kameramann gesellte sich zu ihnen.

»Oh nein, das Fernsehen!«, entrüstete sich Oliver.

Die Reporterin sah das auf den Schutzwesten aufgedruckte Wappen und fragte: »ICIA? Was ist hier los?« 

Olivers Chef winkte sie zu sich.

»Wollen Sie eine Exklusivgeschichte?«, versuchte er die Situation zu seinen Gunsten zu nutzen.

»Es kommt darauf an.« 

»Soso, es kommt darauf an. Dann stelle ich noch eine andere Frage: Warum sind Sie eigentlich nicht in der Halle? Die DMMC lässt doch sonst keine Gelegenheit zur Selbstdarstellung aus.« 

»Ich hatte ein paar Mal – wahrscheinlich ein paar Mal zu viel – kritisch über die Company berichtet. Zuerst wollten sie uns hier an der Grenzkontrolle gar nicht hereinlassen, aber ich wurde dann ein wenig lauter und hatte mich dann unter Zeugen und vor allem mit laufender Kamera auf diverse Informations- und Pressefreiheitsgesetze berufen. Soweit ging die Informationsfreiheit für die Company dann aber doch nicht, so dass wir zwar bis vor, aber nicht in die Halle durften.« 

Sie schaute sich um.

»Das ICIA alleine ist für mich noch keine Exklusivgeschichte, wobei es schon erstaunlich ist, dass hier überhaupt jemand anderes als die Paras in voller Kampfmontur steht. Wie seid ihr hier überhaupt unbemerkt durch die Kontrollen gekommen? Was also ist hier los?«, fragte sie erneut.

Adriana und Oliver gingen zu ihr und klappten ihre Helmvisiere hoch.

Oliver antwortete: »Das ist hier los!« 

Die Reporterin schaute sie mit weit aufgerissenen Augen an.

»Sind Sie nicht…?« 

»Ja, sind wir!«, antwortete Adriana.

Die Reporterin zeigte auf den Halleneingang.

»Ist das nicht…?« 

»Ja, das ist unsere Trauerfeier!« 

»Nachdem Sie nun wissen, worum es geht«, fuhr Olivers Chef fort, »brauchen wir Ihre Hilfe. Sie möchten doch sicherlich immer noch Ihre Exklusivgeschichte haben, nicht wahr? Wir dagegen brauchen noch ein paar – möglichst live gesendete – nicht wegdiskutierbare Beweise.« 

Die Reporterin hatte sich immer noch nicht wieder gefangen und so antwortete der Kameramann.

»Solche Bilder können wir immer gebrauchen. Und bis auf eine gewisse Latenzzeit der Signale zur Erde und zu den extrasolaren Kolonien ist das dann auch mehr oder weniger live.« 

»Ich verstehe nicht…« 

»Aber ich, Chef«, meinte Oliver.

Der Reporterin und dem Kameramann wurden zwei Schutzwesten gebracht, die sie überzogen.

Noch einmal wandte sich Oliver an den Kameramann und fragte: »Gibt es auch eine Möglichkeit, dass wir irgendwie mitbekommen können, was in der Halle vor sich geht?« 

»Oh ja, ich könnte eure Technik in einer Hummel auf einen Livestream eines Konkurrenzsenders aufschalten, der von drinnen in der Halle sendet. Das dürfte kein Problem darstellen.« 

Oliver hatte aber noch eine für ihn wichtige Frage an den Kameramann.

»Nun seid ihr auch nicht gerade dafür bekannt, neben der Company ebenfalls freundlich zu staatlichen Organisationen wie uns zu sein. Warum helft ihr uns dann?« 

»Erstens: Eine Exklusivgeschichte, die schon gut gestartet ist. Das sind doch Chief und Steuermann der Anaconda und eigentlich verschwunden und tot, oder? Zweitens: Eigene Aufnahmen aus der Halle, ›embedded‹ beim ICIA sind sehr authentisch, das lieben die Zuschauer. Und vor allem drittens: Ihr habt meine Chefin sprachlos gemacht. Das schafft nicht jeder! Mal sehen, was dabei herauskommt. Einen Versuch ist es wert. Besser als hier draußen herumstehen ist es allemal.« 

»Also los!« 

Dank des Fernsehbilds des anderen Senders konnten sie genau den besten Zeitpunkt zum Stürmen der Halle bestimmen. Als alle Vorstandsmitglieder der DMMC, die üblicherweise bei so einer Veranstaltung anwesend waren, auf der Bühne Platz genommen hatten, gab Olivers Chef das Fünf-Minuten-Zeichen.

Bei Minute Zwei nahmen sie vor der Halle Aufstellung und sie nahmen gleich einige Paras fest, die vor der Halle postiert waren. Dann kam das Signal zum Zugriff. Auch die sich im Foyer befindlichen Paras ergaben sich kampflos.

»Die geben ja schnell auf«, stellte Adriana fest.

Oliver antwortete leise: »Loyalität ist dann sehr volatil, wenn sie sich nur darauf beschränkt, von wem man gerade sein Gehalt bekommt. Und da es für den Fortbestand der Company nicht sehr gut aussieht, ist diese Grenze wohl bald erreicht. Da heißt es für einige Paras, rechtzeitig abzuspringen. Im Zweifelsfall kann man sich außerdem darauf berufen, nur Befehle ausgeführt zu haben. Oh, es geht los.« 

Er klappte wieder sein Helmvisier herunter.

Der Vorstandsvorsitzende der DMMC wurde jäh in seiner Rede unterbrochen, als die Türen zum Foyer aufsprangen und und die ICIA im Mittelgang und in den Seitengängen zur Bühne vorrückte.

Adriana betrachtete die Szenerie, in der eindeutig der Vorstandsvorsitzende dominierte, der am Rednerpult wie versteinert dastand. Vor dem Pult war ein großes Firmenlogo der DMMC und daneben ein ebenso großes Schlangenwappen der Anaconda angebracht worden. Auf der rechten Seite der Bühne waren mehrere Stellwände aufgestellt worden, auf denen die jeweils mit einem schwarzen Trauerflor versehenen Bilder der verstorbenen Besatzungsmitglieder der Anaconda aufgehängt waren. Ihre Augen wanderten über ihr eigenes und Olivers Bild und blieben dann bei Mollys Bild stehen. Sofort bekam sie bei diesem Anblick ein flaues Gefühl in der Magengegend.

Auf der linken Seite der Bühne saßen die Vorstandsmitglieder und ganz außen der Kapitän der Anaconda. Er hatte entweder überlebt oder war einer der Drahtzieher, der unter anderem hinter Mollys Tod steckte, was die wahrscheinlichere Variante war. Sofort hatte Adriana das flaue Gefühl vergessen und sie merkte, wie Wut in ihr hochkochte.

Der Vorstandsvorsitzende hatte sich wieder gefangen.

»Was soll das? Sehen Sie nicht, dass Sie eine Trauerfeier stören?», brüllte er mit hochrotem Kopf in das Mikrofon, so dass die Lautsprecher übersteuerten.

Olivers Chef antwortete ruhig: »ICIA, Sie sind alle vorläufig festgenommen.« 

»Festgenommen? Warum?« 

Oliver trat direkt an die Bühne und klappte sein Helmvisier hoch. Adriana tat es ihm nach.

»Darum!«, rief Oliver und ein Raunen ging durch die Anwesenden.

Augenblicklich wurde der Vorstandsvorsitzende sehr blass, so dass seine Gesichtsfarbe fast nicht mehr von der seines weißen Hemds zu unterscheiden war.

»Oliver!«, rief Adriana und riss ihn zu Boden. Nahezu zeitgleich ertönte ein Schuss und sie schrie auf. Ihr Bruder sprang wie ein Hürdenläufer über eine Sitzreihe und sprintete in Richtung der linken Bühnenseite. Auf der Bühne warf der Kapitän der Anaconda eine noch leicht rauchende Waffe fort und bewegte sich schnell zur Notausgangstür neben der Bühne. Adrianas Bruder war ihm dicht auf den Fersen, als er durch den Notausgang ins Freie lief.

»Halt, der gehört mir!», rief Adrianas Bruder der SWAT-Einheit zu, die sich neben der Halle im Freien postiert hatte.

Kurz darauf hatte er den Kapitän eingeholt und stellte ihn ein Bein, so dass er der Länge nach auf den Boden schlug. Adrianas Bruder setzte sich auf den Kapitän, bog dessen Arme sehr grob auf den Rücken und legte ihm Handschellen an.

»Viel zu eng!«, protestierte der Kapitän und der Leiter des SWAT-Teams beschwerte sich ebenfalls.

»Jetzt passt mal alle auf! Wenn jemand meiner Schwester etwas antut, dann werde ich maximal unentspannt! Verstanden?« 

Der Leiter des SWAT-Teams nickte und ließ Adrianas Bruder gewähren. Dieser zog den Kapitän wieder auf die Beine und führte ihn in die Halle zurück. Stanley kam ihnen entgegen.

»Unglaublich!«, wunderte er sich. »Für jemanden, der hauptsächlich in der Schwerelosigkeit lebt, bist du erstaunlich gut zu Fuß!« 

»Danke!« 

Das Fernsehteam folgte ihnen und der Kameramann hatte ein breites Grinsen auf seinem Gesicht.

»Oh Mann!«, meinte er. »Uns haben ja schon viele Leute eine Exklusiv-Story versprochen – und dann war’s nix. Aber das hier: Das is’ ’n dicker Hund! Die Einschaltquoten werden durch die Decke gehen!« 

Stanley schob ihn zur Seite

»Halt’ die Klappe! – Adriana?« 

Sie hatte ihre Augen verdreht und war zusammengesunken. Aus ihrem linken Ärmel floss Blut, viel Blut. Ihr Bruder übergab den Kapitän einem ICIA-Agent und rannte mit Stanley zu ihr. Oliver hatte sie auf den Arm genommen und sie gingen schnellen Schrittes auf eine Tür im Backstagebereich zu, auf der Sanitätsraum stand.

»Nicht jetzt, Mädchen!«, flehte Oliver sie an.

Im Sanitätsraum wurde sie vom dort anwesenden Arzt versorgt. Dieser zeigte sich besorgt über den starken Blutverlust und meinte, dass der Schuss wohl eine Arterie im Arm getroffen hatte.

»Sie muss sofort in die Klinik! Aber irgendwie ist die gesamte Kommunikation unterbrochen.« 

Stanley sprintete durch die Halle nach draußen und ließ sich eine Hummel geben. Mit der Hummel flog er, mehrere Mülltonnen beiseite stoßend, neben der Halle entlang bis zu der Tür, die in den Backstagebereich führte. Gemeinsam luden sie Adriana in die Hummel und flogen sie ins Hospital der Company, welches sich auf der gegenüberliegenden Seite des Nordpolhafens befand.

Neben der Kommunikation war jeglicher Oberflächen- und Luftverkehr eingestellt worden, da mittlerweile das andere Raumschiff der ICIA gelandet und der gesamte Wüstenmond ab sofort unter die vorläufige Verwaltung des Ministeriums für extrasolare Angelegenheiten gestellt worden war. Für die Hummel wurde aber eine Ausnahme gemacht und so kamen sie sehr schnell voran.

Im Operationsraum in der Notaufnahme war schon vorbereitet und schon nach kurzer Zeit konnte die Operation starten. Flugs wurde auch der Bordarzt des ICIA-Raumschiffs hinzugezogen und gemeinsam mit den Ärzten der Company gelang es, die Blutung in Adrianas Arm zu stoppen. Das Blutgefäß war durch den Schuss so zerfetzt worden, dass ein kleines Stück eines künstlichen Gefäßes eingesetzt werden musste. Auf diese Weise konnte aber der Verlust von Adrianas Arm verhindert werden.

Als sie aus der Narkose erwachte, konnte Adriana sich aber an nichts mehr erinnern, seit sie vor der Bühne ihr Helmvisier geöffnet hatte. Oliver und ihr Bruder klärten sie auf, was passiert war.

»Schön, dass du wieder da bist«, meinte Oliver.

Nachdem Adriana nach etwa eineinhalb Wochen wieder aus der Klinik entlassen wurde, kehrte sie mit Oliver zurück zur Erde, um in der ICIA-Zentrale ihre Aussage zu machen. Die Berichterstattung des Kamerateams hatte natürlich für großes Aufsehen gesorgt.

Es brauchte fast ein Dreivierteljahr, um die Anklage gegen die DMMC vorzubereiten und den Prozess zu führen. Beim Prozess war es auch, als Adriana zum ersten Mal Mollys Eltern traf und prompt in Tränen ausbrach. Obwohl die Verteidigung sehr gut vorbereitet war, hatte sie doch nichts gegen die von Oliver und Adriana undercover gesammelten Beweise entgegenzusetzen. Das Urteil gegen die Company fiel entsprechend vernichtend aus. So wurden mehrere Vorstandsmitglieder unter anderem wegen Anstiftung zum Mord und Versicherungsbetrug zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Oliver und Adriana waren erleichtert. Beide gönnten sich eine Auszeit auf der Erde und besuchten gegenseitig beide Familien, wollten aber auf jeden Fall wieder auf den Wüstenmond zurückkehren.

Adrianas Familie besaß ein schönes Anwesen mit Blick auf das Mittelmeer. Es war Sommer auf der Nordhalbkugel, als sie auf der Erde eintrafen, und so warm, dass sie im Meer baden konnten. Ein richtiger Badestrand fehlte natürlich auf dem Wüstenmond, genügend Sand wäre aber vorhanden.

Nachdem sie »genug Wärme getankt« hatten, wir Adriana es ausdrückte, begaben sie sich nach Irland, um Olivers Familie zu besuchen. Sofort waren Olivers Mutter und Adriana ein Herz und eine Seele – Seherinnen fühlten sich nun einmal instinktiv zueinander hingezogen. Oliver war dann aber nach kurzer Zeit genervt, da Adriana und seine Mutter bei einer lustigen Situation schon weit im Voraus anfingen zu kichern. Alles in allem war er aber erleichtert, dass Adriana so gut von seiner Familie aufgenommen wurde.

Nachdem sie nach ein paar Wochen wieder auf den Wüstenmond zurückgekehrt waren, bestiegen sie am Nordpolhafen eine der neuen Kleinfähren, auch »Langstrecken-Hummeln« genannt. Oliver wies den Piloten an, zu bestimmten Koordinaten in der Wüste zu fliegen und sie dort aussteigen zu lassen.

Auf dem Mond hatte sich inzwischen einiges verändert. Die Company war in eine Genossenschaft umgewandelt worden, an der die Mitarbeiter selbst den Hauptanteil der Genossenschaftsanteile besaßen. Nach dem Prozess wurde die Erzförderung wieder zügig aufgenommen, auch weil sich der Erzpreis mittlerweile wieder auf sein vorheriges Niveau eingependelt hatte, da die Konkurrenz Schwierigkeiten mit der Erschließung ihrer neuen Vorkommen bekam. Die Kolonie war weiterhin eine Wohnsiedlung, aber sie war jetzt in Schiffsrouten mit eingebunden, so konnten die Bewohner erstmals wieder Reisen durchführen und es bestand jetzt auch eine regelmäßige Lebensmittelversorgung. Nicht alle Kolonisten wollten ihre neue Heimat aber auch wieder verlassen und so wurde die Kolonie ein bevorzugter Altersruhesitz.

Die Hummel landete in einem Dünental. Oliver nahm sich eine große Tasche und kletterte mit Adriana die Düne herauf. Auf dem Dünenkamm holte er eine Decke aus der Tasche, breitete sie auf dem Sand aus und bat Adriana, sich hinzusetzen.

»Was machen wir hier?«, fragte sie.

Zur Antwort holte er eine Mappe aus der Tasche, entnahm ihr zwei Blatt Papier und reichte sie Adriana.

»Oliver, eine Versicherung hatte eine Belohnung ausgesetzt?« 

»Ja, aber sie nicht an mich, da ich als ICIA-Agent keine solche Belohnung kassieren darf, sondern an dich ausbezahlt.« 

»Genossenschaftsanteile? Adriana Dubajič, Mitglied des Verwaltungsrats?« 

»Ich habe den Großteil des Belohnungsgelds in Anteile umgewandelt. Das waren so viel, dass die den Prozentsatz überschritten hast, bei dem man einen Sitz im Verwaltungsrat bekommt.« 

Sie war noch immer etwas verwirrt und hatte diese Informationen noch nicht richtig verarbeitet, da holte Oliver ein weiteres Blatt aus der Mappe.

»Wie bitte: Agent Hanson verlässt uns auf eigenen Wunsch?«, las sie vor und schaute ihn fragend an.

»Pro forma habe ich ja immer noch die Anstellung bei der Company – beziehungsweise deren Nachfolgeorganisation, der Genossenschaft. Und außerdem muss ich hier den Bau des Nachfolgers der Anaconda beaufsichtigen; die Company hat ja gerade einen etwas angespannten Schiffsbestand.« 

Er holte ein weiteres Blatt aus der Mappe. Adriana nahm es in die Hand.

»DMMC-Eins-Fünf-Drei, Molly Kingfisher?«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Ich wusste gar nicht, dass ihr Nachname ›Kingfisher‹ war, wir kannten uns ja nur kurz. Ihr habt das Schiff tatsächlich nach Molly benannt?« 

Er nickte und reichte ihr eine kleine Schachtel, die in buntes Geschenkpapier eingepackt war. Sie strahlte über das ganze Gesicht und sagte, ohne etwas gesehen zu haben: »Das ist aber schön!« 

Er hatte sich zwar daran gewöhnt, dass sie in ihren Reaktionen ihm einige Sekunden voraus war, dennoch sagte er: « Nun pack’ es doch erst einmal aus!« 

Sie löste vorsichtig die Klebestreifen des Geschenkpapiers und öffnete die Schachtel.

»Das ist aber wirklich schön. Was ist das? Edelsteine? Glas?« 

Er nahm eine Hand voll Sand und ließ ihn zwischen den Fingern hindurch rieseln.

»Das ist geschmolzener Sand von einer Hover Unit. Genauer gesagt, von einer HU der Hummel, mit der wir abgestürzt sind. Noch genauer gesagt, von fast genau von dieser Stelle hier. Es ist nicht genau die Stelle, weil die Dünen ja wandern, aber im Großen und Ganzen kommt es ungefähr hin. Ich habe die schönsten Glasstücke einer Mitarbeiterin der Company-Schiffswerkstatt, die Hobby-Goldschmiedin ist, gegeben. Sie hat daraus die Kette, den Armreif, die Ohrringe und den gemacht. Nimm’s als Erinnerung daran, wo und wie wir uns näher gekommen sind.« 

Sie hatte wieder Tränen in den Augen.

»Heute ist unser Jahrestag. Der Jahrestag des Absturzes«, sagte Oliver.

Er legte ihr die Kette um den Hals und sie nahm ihre Ohrringe heraus, damit sie die neuen einsetzen konnte.

Adriana erwiderte: »Ja, ich weiß. Du hast tatsächlich bei der Agency gekündigt?« 

»Ja, Fernbeziehungen funktionieren nicht wirklich. Ich werde Cheftechniker bei der Company, zuständig für Schiffsbau und Schiffswartung, du bist ab jetzt meine Partnerin und Testpilotin.« 

Er holte einen Ring aus seiner Jackentasche, der im gleichen Stil wie Kette und Ohrringe gehalten war.

»Und außerdem«, fuhr er fort, »könnten sich Mr. Oliver Hanson und Mrs. Adriana Dubajič Hanson so öfters sehen.« 

Er schob ihr vorsichtig den Ring auf einen Finger.

Sie schaute ihm tief in die Augen und hauchte ein kaum hörbares »Ja!« 

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