Kapitel 1
Die Jungfernfahrt

950 TEU | 6.000 Seemeilen

Endlich setzte wieder die Schwerkraft ein.

Lange interstellare Flüge brachten nun einmal auch lange Phasen der Schwerelosigkeit mit sich, die erst dann beendet wurden, wenn Kursänderungen, Beschleunigungs- oder Bremsmanöver durchgeführt wurden. Dass das Schiff sich gedreht hatte und mit den Haupttriebwerken gebremst wurde, spürten die Passagiere deutlich.

Luxuriöse Schiffe besaßen wenigstens in den Passagierbereichen Schwerkraftaggregate, aber je weiter man ans Ende der Galaxie kam, desto geringer wurde der Komfort.

Schon ertönte ein Gong und eine Durchsage, dass sie nun »in wenigen Minuten« am Ziel ankommen würden. Adriana Dubajič schaute aus dem Fenster des Raumschiffs, das sich im Landeanflug auf den Nordpol des so genannten »Wüstenmonds« befand. Der Wüstenmond war ein Trabant, der in einem mehrere Lichtjahre von der Erde entfernten Sonnensystem einen großen Gasriesen ähnlich des Jupiters umkreiste. Der Mond hatte sogar eine erdähnliche Atmosphäre, die durch Terraforming entstanden war – beziehungsweise war die Atmosphäre das einzige, was vom Terraforming übriggeblieben war. Leider war die Umwandlung nicht sehr erfolgreich gewesen, und so bestand der Mond immer noch zum überwiegenden Teil aus Wüste. Besonders an ihm waren aber seine ergiebigen Erzvorkommen, weswegen sich an vielen Stellen große Erzminen befanden.

Der Raumhafen befand sich in der Nordpolregion des Mondes. Hierher wurden die auf dem Mond geförderten Erze angeliefert und in Raumfrachter umgeladen. In der entgegen gesetzten Richtung wurden Versorgungsgüter, wie Lebensmittel oder Bergbaugeräte, zu den Minen geliefert. Der gesamte Mond war an die Desert Moon Mining Company, auch »DMMC« oder einfach »die Company« genannt, zum Zwecke der Erzgewinnung verpachtet worden. Die Company war daher der einzige Arbeitgeber, sowohl für den Bergbau selbst, als auch im Transport- und Verwaltungswesen.

Das Schiff trat jetzt in die Atmosphäre ein und nahm Kurs auf den Nordpolhafen. Deutlich konnte man die große Atmosphären-Anreicherungsanlage erkennen, über der ein paar kleine Wolken hingen, durch die das Schiff jetzt hindurch flog.

Adriana freute sich schon auf ihre neue Arbeitsstelle. Sie hatte von Raumschiffpilot auf Steuermann eines vollkommen anderen Fahrzeugtyps umgeschult, weil sie sich davon eine höhere Bezahlung erhoffte. Da wegen des besonderen Magnetfelds des Mondes kein Raumschiffverkehr von und zu den Minen möglich war, wurden alle Transporte mit Bodeneffektfahrzeugen durchgeführt, die nur wenige Meter über dem Boden schwebend recht hohe Geschwindigkeiten erreichten und somit die Transporte vergleichsweise wirtschaftlich abgewickelt werden konnten. Es hatte sich »Wüstenschiff« als Bezeichnung für diese Fahrzeuge eingebürgert.

So ein Wüstenschiff war natürlich kein Schiff, welches auf dem Wasser fährt oder darüber fliegt – mangels ausreichender Wasservorkommen auf dem Wüstenmond wäre dies auch gar nicht möglich gewesen. Adriana fand diese Bezeichnung eher unpassend, wurde sie doch auf der Erde eher für Kamele verwendet, da diese aufgrund ihres Passgangs sehr schaukelten. Wenn sie einer Broschüre der Company Glauben schenken durfte, schaukelten die hiesigen Fahrzeuge, ordentlich bedient, jedoch recht wenig bis gar nicht und sahen auch gar nicht wie ein Kamel aus. Und für die ordentlichen Bedienung eines solchen Schiffs war Adriana zukünftig verantwortlich.

Sie durfte sich jetzt nämlich mit dem etwas sperrigen Titel DMMCCEHO oder »Desert Moon Mining Company Certified Ekranoplan Helm Operator« schmücken, zertifizierter Ekranoplan-Steuermann der Company, was ihrer Meinung nach sehr aufregend und wichtig klang. Sie beugte sich vor und erspähte eines der Schiffe, welches sich gerade vom Raumhafen entfernte und eine immer größer werdende Staubwolke hinter sich herzog. Adriana hatte die Schiffe, auf denen sie zukünftig arbeiten sollte, noch nie in natura gesehen und hatte sich diese auch nicht so groß vorgestellt. Ihre Ausbildung hatte sie auf einem deutlich kleineren Fahrzeug und in Simulatoren absolviert und sie war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob dies tatsächlich die richtige Jobwahl gewesen war. Aus dem Fenster erblickte sie das größte Gebäude am Nordpol, die Wüstenschiffswerft. Dort wurden und werden die Schiffe gebaut, deren Bedienung Adriana nun anvertraut wurde. Der Raumhafen befand sich neben dem Wüstenschiffhafen und war von diesem durch einen langgestreckten Gebäudekomplex getrennt.

Das Raumschiff landete sanft und wirbelte eine kleine Staubwolke auf.

Aus dem Fenster konnte Adriana verfolgen, wie eine Andockbrücke an das Schiff herangefahren wurde. Wieder ertönte der Gong und die Durchsage bat, dass alle Passagiere nun ausstiegen. Sie nahm sich ihr Handgepäck und ging mit den anderen Passagieren zusammen durch die Andockbrücke in das Terminalgebäude.

Vor der ersten Sicherheitskontrolle bildete sich ein kleiner Stau, der sich aber rasch auflöste, als weitere Kontrollschalter geöffnet wurden. Adriana wies sich am Schalter mit einer Ausweiskarte der Desert Moon Mining Company als »Adriana Dubajič, DMMCCEHO« aus. Kurzzeitig brandete etwas Unruhe auf, weil jemandem die Einreise verweigert wurde. Sofort wimmelte es von vielen uniformierten Gestalten, die auch gleich wieder die Unruhe abebben ließen. So etwas hatte Adriana noch nicht erlebt, die Sitten auf diesem Mond schienen etwas strenger zu sein. Sie bekam aber nicht mehr alles mit, da sie ihre Einreisekontrolle abgeschlossen hatte und durch eine Personenschleuse gehen konnte.

Große Schilder wiesen den Weg zur Verwaltung der Company und am Eingang musste Adriana erneut durch eine Sicherheitskontrolle gehen. Sie war froh, dass sie ihr Großgepäck direkt auf das Wüstenschiff hatte schicken lassen und somit die Hände frei zu haben. Außer ihr waren noch weitere neue Mitarbeiter der Company auf ihrem Flug gewesen, und so musste sie erst einmal eine Wartenummer ziehen, bevor sie das Personalbüro betreten konnte. Ihre neue Arbeitsstelle war als Steuermann der Anaconda, des neuesten Schiffs der Company, ausgeschrieben worden. Sie hatte sich beworben und war gleich genommen worden – und das ohne ein Vorstellungsgespräch oder Ähnliches, lediglich ein kurzes Videointerview fand statt, was sie zwar recht merkwürdig, aber dann doch recht befriedigend fand. Verschiedenen Quellen nach war die Company eigentlich noch nie so richtig für eine wirklich transparente Geschäftsabwicklung bekannt, Adriana hatte aber trotzdem angeheuert, da die Vertragskonditionen allzu verlockend aussahen.

Im Personalbüro hatte sie dann doch noch eine Art Vorstellungsgespräch mit einer richtigen Personalsachbearbeiterin zu absolvieren, welches aber vollkommen unspektakulär ablief.

Nachdem die Sachbearbeiterin Adrianas Papiere noch einmal gegengeprüft hatte, holte sie eine in Plastik eingeschweißte Uniform aus dem Schrank und bat Adriana, diese anzuziehen.

»Damit geht es hier schneller voran«, meinte die Sachbearbeiterin.

In einem Nebenraum tauschte Adriana ihre Zivilkleidung in die Company-Uniform ein und verließ anschließend das Personalbüro.

Die neue Uniform saß tatsächlich gut, die Personalsachbearbeiterin hatte ein gutes Auge gehabt. Je weiter Adriana sich durch das Empfangsgebäude des Wüstenschiff-Hafens fortbewegte, umso mehr Uniformen sah sie. Auch bildete sie sich ein, in dieser Uniform nicht mehr so sehr angestarrt zu werden, hatte sie doch recht aktuelle Zivilkleidung getragen, deren Stil wohl noch nicht bis in diesen Winkel des Weltraums vorgedrungen war.

Auf dem Weg zum Gate, an dem die Anaconda festgemacht hatte, sah sie durch die Fenster zum erstem Mal ihr neues Schiff. An der Seite konnte man das Schiffswappen mit einer kleinen Schlange erkennen, welches durch Registriernummer und Schiffsnamen komplettiert wurde. Die Namenswahl kam ihr etwas ungewöhnlich vor, lebte die Schlange auf der Erde doch vorrangig an und in Gewässern.

Das erste Wüstenschiff der so genannten »A-Klasse«, daher kam auch der mit A beginnende Name. Es war das neueste, modernste, größte Schiff seiner Art. Und sie durfte es steuern. Ihre Gedanken kreisten darum, dass dieses Schiff nun für einige Zeit ihr neues Zuhause sein wird. Wenigstens passte der Name einer Riesenschlange zur Größe des Schiffs. Die Anaconda hatte erst ein paar Testfahrten hinter sich, dies sollte die erste offizielle Tour mit Fracht und Passagieren sein. Es hieß, der ursprünglich angeheuerte Steuermann hatte nach der ersten Testfahrt gleich wieder gekündigt. Das Ganze war eine etwas undurchsichtige Aktion, und Adriana nahm sich vor, bei Gelegenheit jemand Passenden darauf ansprechen zu wollen.

Adriana hatte sich am Gate, an dem die Anaconda lag, als Besatzungsmitglied ausgewiesen und durfte so an den wartenden Passagieren vorbei direkt an Bord gehen. Sie betrat das Schiff durch die Personenschleuse und wies sich erneut bei einem Sicherheitsposten aus. Anhand seiner Uniform konnte man erkennen, dass es sich um einen Soldaten der paramilitärischen Schutztruppen der Company, den so genannten »Paras«, handelte. Die Paras waren seit einiger Zeit immer an Bord eines Schiffes, um bei Angriffen auf das Schiff auch militärisch eingreifen zu können. Da es sich allerdings um eher grobschlächtige Söldner handelte, waren sie bei den Schiffsbesatzungen nicht sonderlich beliebt.

In der Mitte des Schiffs befand sich ein großer Empfangstresen. Adriana stellte ihr Handgepäck vor dem Tresen ab. Der Steward hinter dem Tresen bestätigte, dass ihr Großgepäck bereits an Bord gebracht worden war und sich gerade auf dem Weg in ihre Kabine befand. Sie schaute sich um. Überall sah es noch nach frischer glänzender Farbe aus und es roch auch so.

»Sie müssen Miss Dubajič sein. Willkommen an Bord!«, ertönte eine tiefe Stimme aus dem Hintergrund. Ein großer Mann ging aus einem Korridor heraus auf sie zu. Seine Uniformabzeichen wiesen ihn als Kapitän aus.

Sie nickte und sagte: »Vielen Dank, Käpt’n.« 

Dieser Mann sollte nun also für unbestimmte Zeit ihr neuer Chef werden.

»Schön, dass es so kurzfristig zu dieser Fahrt noch geklappt hat«, meinte er.

»Ja, es ist gar nicht so einfach, eine Verbindung ohne viel Umsteigen und Zwischenpausen hierher zu bekommen.« 

»Ich hoffe, dass die Papierform Ihrer Bewerbungsunterlagen sich auch in Natura wiederfinden lässt, Miss Dubajič.« 

»Aber natürlich, Käpt’n.« 

Kurz danach hatte sich aus einem anderen Korridor eine Frau zu ihnen begeben. Adriana sah das Schlangenwappen auf dem Ärmel ihrer Uniform und freute sich, dass es außer ihr mindestens noch ein weiteres weibliches Besatzungsmitglied an Bord gab.

Der Kapitän sagte: »Gut, dass du kommst. Molly, führe bitte Miss Dubajič, unseren neuen Steuerma – ääh – Steuerfrau, zu ihrem Quartier. Danach könnt ihr noch einen kurzen Schiffsrundgang machen; wir wollen ja bald ablegen.« 

»Schon gut, Käpt’n, ich finde Steuermann ganz in Ordnung. Und den Buchstabenwurm, mit dem die Company das bezeichnet, finde ich viel zu kompliziert«, sagte Adriana.

Molly lachte und wünschte sie ebenfalls herzlich an Bord willkommen.

Adriana reichte ihr die Hand.

»Adriana Dubajič, freut mich. Adriana reicht vollkommen.« 

Molly war noch fast einen halben Kopf kleiner als Adriana, die ihrerseits mit ihren knapp einen Meter fünfundsechzig – »die Größe variiert aber je nach Dauer der Schwerelosigkeit«, wie sie immer sagte – auch nicht gerade eine Riesin darstellte. Molly war das, was man gewöhnlich als »knuffig« bezeichnete, hatte eine kleine Stupsnase, kleine blaue Augen und kurze blonde Locken. Sie stelle sich als Leitende Navigatorin vor, war daher auf der Brücke stationiert und würde wahrscheinlich mit Adriana direkt zusammenarbeiten.

Der Kapitän meinte: »Ich sehe, ihr kommt gut zurecht, daher lasse ich euch beide jetzt alleine, ich muss noch Ablegeformalitäten organisieren.« 

»Alles klar, Käpt’n.« 

Molly schaute auf ihre Uhr.

»Gut, wir haben noch etwa eine halbe Stunde, bis die Passagiere an Bord kommen und dann noch eine weitere, bis wir ablegen sollen: das dürfte reichen. Fangen wir hier auf diesem Deck an. Vorne sind die Passagierquartiere und achtern ist die sogenannte ›Lounge‹, in der sich die Passagiere während der Fahrt aufhalten können.« 

Sie überreichte Adriana eine kleine schwarze Armbanduhr, die nicht nur eine Uhr, sondern auch einen Kommunikator und einen Türöffner darstellte.

»Verliere sie nicht!«, sagte Molly. »Und wenn, dann sage sofort dem Chief Bescheid.« 

Adriana nickte und band sich die Uhr um ihr linkes Handgelenk. Molly führte sie zu einer Schleuse, auf der ein großes Schild mit der Aufschrift Nur für Besatzungsmitglieder! prangte.

»Jetzt darfst du die Uhr gleich mal ausprobieren«, forderte Molly sie auf.

Adriana hielt die Uhr an ein Lesegerät. Die Anzeige wechselte auf eine grüne Farbe, es piepste und die Tür öffnete sich. Laut einer Tafel an der Wand befanden sich sich im »Backbord-Haupttreppenhaus« auf der Deckebene Drei. Sie nahmen die Treppe und gingen eine Ebene nach unten.

Etwa in der Mitte eines langen Korridors blieb Molly vor einer Tür stehen und zeigte auf das Namensschild an der Wand. Unter dem mit Dubajič, Adriana beschrifteten Schild befand sich ein Lesegerät für die Türöffnung. Adriana hielt ihre Uhr davor und die Tür öffnete sich mit einem leisen Klicken.

Sie hatte eine schöne geräumige Einzelkabine zugeteilt bekommen. Sie war viel schöner als die Kabinen auf den Raumschiffen, auf denen sie bisher gearbeitet hatte, und besaß sogar ein Fenster, aus dem man das wuselige Treiben auf dem Containerterminal beobachten konnte. Der größte Unterschied war natürlich das Fehlen aller speziellen Einrichtungen für das Leben in der Schwerelosigkeit, und so konnte Adriana sich über eine richtige Koje und eine richtige Dusche freuen.

»Endlich muss ich nicht mehr in einem Bett schlafen, das eher an eine Gummizelle erinnert.« 

Molly lachte und meinte: »Die Company hat den höheren Dienstgraden der Kernmannschaften – und dazu zählen auch wir beide – auf den neuen Schiffen etwas mehr Luxus spendiert.« 

Adriana stellte ihr Handgepäck ab. Mitten im Raum stand Adrianas Großgepäck, welches sich nach einem kurzen Blick darauf als vollständig herausstellte. Sie schaute sich um. Ihr neues Zuhause war gar nicht einmal so schlecht; hier würde sie es auch längere Zeit aushalten.

Sie befestigte die auf einem Tisch liegenden Rangabzeichen an ihrer Uniform und schaute sich in einem Spiegel an.

»Deine Sachen kannst du nachher einräumen, jetzt zeige ich dir erst einmal das Schiff«, sagte Molly. »Außerdem müssen wir bald ablegen, und da bist du gefragt.« 

In diesem Korridor auf der Backbordseite befanden sich alle Kabinen der Schiffsmannschaft; die höheren Dienstgrade hatten Außen-, die niedrigeren Innenkabinen. Den gesamten achteren Bereich der Deckebene Zwei nahm die Schiffskantine ein.

»Was ist auf der Steuerbordseite?«, wollte Adriana wissen.

»Para-Quartiere, da möchte niemand von uns freiwillig hin.« 

Die Schiffskantine war einer der Bereiche, zu denen auch Passagiere Zugang hatten, und so mussten sie wieder durch eine Schleuse gehen. Hinter der Kantine befand sich die Küche. Sie warfen einen kurzen Blick hinein. Da die Passagiere demnächst an Bord kommen sollten, herrschte hier ein hektischer Betrieb. In der Küche waren auch die einzigen weiteren Frauen außer ihnen beschäftigt. Molly winkte kurz hinein und sie begaben sich wieder durch eine Schleuse zum Steuerbord-Haupttreppenhaus. Über eine Treppe gelangten sie in die darunterliegende Deckebene.

Sie befanden sich nun in einem Bereich auf der Deckebene Eins, zu dem nur wenige Personen Zutritt hatten. Ein langer Korridor führte an dem Hangar der Kleinfluggeräte entlang. Durch ein paar Fenster sah man die in zwei Reihen nebeneinander aufgestellten, »Bumblebee«, »Hummel« genannten Fluggeräte. Hummeln waren kleine Beiboote, die ihren Namen sowohl aufgrund der Form als auch durch ihr brummendes Motorengeräusch bekommen hatten. Adriana hatte in ihrer Stellenbeschreibung gelesen, dass sie neben dem großen Wüstenschiff auch dessen kleinere Brüder fliegen sollte und einschließlich einer eigenen Prüfung auch auf diese geschult wurde. Durch große Fenster konnte sie auch das an beiden Seiten jetzt noch geöffnete Flugdeck sehen, von dem sie starten und landen sollte. Da die Anaconda selbst ja mit teilweise recht hohen Geschwindigkeiten unterwegs sein würde, war dies bestimmt keine leichte Aufgabe. Im Simulator hatte es sich als schwierig, aber machbar herausgestellt, aber hier in der Realität war es noch etwas anderes.

»Oh, ihr habt hier ja sogar das neueste Modell«, freute sich Adriana.

Sie hatte eine Hummel der neuesten, fünften, Generation bisher nur auf Bildern gesehen und war dieses Modell bisher auch nur im Simulator geflogen. Sie freute sich schon auf diese weitere Herausforderung, die ihre neue Arbeitsstelle mit sich brachte, vor allem auf die ersten Trainingsflüge.

Eine weitere Deckebene tiefer befanden sich die Wasserstofftanks und die Brennstoffzellen-Maschinenanlage. In einem Korridor trafen sie den Chief, der hier unten die letzten Checks vor dem Verlassen des Hafens durchführte.

»Willkommen auf Ebene Null. Ich bin Chief Oliver O’Toole«, begrüßte er sie.

»Adriana Dubajič.« 

»Unser neuer Steuermann ist da. Sehr schön! Dann dürfen Sie ja gleich beim Ablegen zeigen, ob die Personalentscheidung der Company richtig war.« 

Der Chief hatte etwa die gleiche Körpergröße wie der Kapitän, besaß aber nicht dessen durchtrainierte Figur. Molly hatte sie schon vor dem Chief als launischem Kauz gewarnt und ob die Personalentscheidung der Company richtig war, empfand Adriana daher auch nicht wirklich als freundliche Begrüßung, aber vielleicht hatte der Chief es auch gar nicht so gemeint. Ihre Liste von Dingen, die sie nochmals mit jemandem ansprechen wollte, füllte sich stetig.

Nun hatte sie wohl alle Besatzungsmitglieder kennengelernt, mit denen sie direkt auf der Brücke zusammenarbeiten sollte.

Gemeinsam fuhren sie dann mit dem Aufzug zur Brücke auf der obersten Deckebene Vier. Das Boarding der Passagiere, die bei dieser Fahrt alles Minenarbeiter waren, war fast abgeschlossen, und so stand das Ablegen kurz bevor. Adriana setzte sich gleich in den Steuerstand, legte die Sicherheitsgurte an und begann, die Checkliste abzuarbeiten.

Trotz der Jungfernfahrt mit Fracht und Passagieren fand keine Zeremonie statt, laut Molly hatte es die Taufe und Reden hoher Company-Chefs bei der ersten Testfahrt gegeben.

Als der letzte Passagier die Anaconda betreten hatte, war auch Adriana mit der Checkliste fertig, und sie waren bereit zum Ablegen.

Schon befahl der Kapitän: »Fertig zum Ablegen!« 

»Wir sind auf eigener Energieversorgung. Brennstoffzellen und Reaktor grün. Nabelschnur und Zugangsbrücke sind entfernt«, meldete der Chief.

Adriana beugte sich zur Seite und betätigte einen etwas versteckt angebrachten Hebel, um mit dem Steuerstand nach oben in die so genannte »Käseglocke«, die Aussichtskanzel für den Steuermann oberhalb der Brücke, hineinzufahren. Mit einem anderen Hebel drehte sie den Steuerstand um hundertachtzig Grad, so dass sie nach achtern sehen konnte. Sie fand die Bedienung der Hebel zwar sehr unpraktisch, hatte aber im Handbuch gelesen, dass diese so angebracht wurden, um eine versehentliche Fehlbedienung auszuschließen.

In dieser Sitzposition schien ihr die Sonne direkt ins Gesicht. Aus einer Jackentasche holte sie daher eine Sonnenbrille mit gelborange getönten verspiegelten Gläsern heraus, setzte sie auf und sah jetzt eher wie ein Insekt aus. Molly fand die Brille aber »cool«, wie sie Adriana am Ende ihrer Wache mitteilte.

»Steuerstand für Achterausfahrt bereit«, meldete Adriana.

Von Deck kam die Meldung, dass die Dockklammern gelöst seien. Nun war sozusagen »Leinen los«.

»Nordpol Control, hier ist DMMC Eins-Fünf-Zwei. Erbitten Freigabe«, funkte Molly.

»Eins-Fünf-Zwei, hier ist Control. Warten, bis DMMC Zehn-Sechsundsechzig achtern passiert hat, dann Freigabe.« 

Sie mussten also noch auf ein anderes Schiff warten.

»Control, warten auf Zehn-Sechsundsechzig, dann Freigabe. Eins-Fünf-Zwei, Over.« 

»Korrekt, Eins-Fünf-Zwei.« 

Adriana sah aus ihrer erhöhten Position einen mittelgroßen Schlepper langsam vorbei schweben, an dessen Seitenwand ein großes Schild DMMC–1066 prangte.

»Zehn-Sechsundsechzig ist durch, wir können«, meldete sie nach kurzer Zeit nach unten auf die Brücke.

Kurz danach sagte der Chief: »Alle HU grün. Ich gehe auf zwei Meter fünfzig Schwebe. Stützen werden eingefahren. Wir beginnen zu schweben.« 

Ein sehr leichtes Vibrieren ging durch das Schiff, als die sich an der Unterseite befindlichen Schwebeeinheiten, »Hover Units« oder HU genannt, zu arbeiten begannen und es sich langsam etwas erhob.

»Sehr schön!«, stellte der Kapitän fest. »Steuermann, langsam achteraus!« 

Adriana bestätigte: »Aye, Käpt’n!« 

Sie schob die beiden Hebel an den Enden ihrer Stuhllehnen leicht nach vorne und das Schiff bewegte sich langsam rückwärts aus der Dockbucht.

Aus den Brückenlautsprechern ertönte die Antwort: »Roger, Eins-Fünf-Zwei. Keine weiteren Schiffe auf Ihrem Kurs. Frei bis Frachtbereich Delta-Fünf.« 

»Control, hier Eins-Fünf-Zwei. Haben abgelegt. Fahren bis Delta-Fünf «, sagte Molly in ihr Mikrofon.

Adriana wiederholte: »Bis Delta-Fünf.« 

Wie sie es gelernt hatte, wiederholte sie die Befehle. Sie fand es zwar etwas lästig, aber so waren nun einmal die Vorschriften.

Das als »Hafen« bezeichnete Gebiet war eine große planierte dreieckige Fläche mit dem Terminalgebäude und den Dockbuchten auf einer sowie dem Containerterminal mit seinen weithin sichtbaren Kränen auf der anderen Seite. Auf der dritten Seite befanden sich die Gebäude des Raumschiffterminals und weiter hinten der Gebäudekomplex der Company-Verwaltung und die alles überragende Werfthalle. Adriana steuerte das Schiff langsam auf das Containerterminal zu.

Zu beiden Seiten einer breiten Gasse, durch die die Anaconda schwebte, reihten sich abgestellte so genannte »Lademodule« auf, das waren große Plattformen, auf denen die Container befestigt werden. Die Lademodule besaßen eigene Hover Units, so dass sie mit einem Schiff gekoppelt ebenfalls schweben konnten. Mehrere Lademodule konnten ihrerseits an beliebigen Seiten zusammen gekoppelt werden.

Weiter entfernt sah man die kleinere Wartungshalle für die so genannten »Heckmodule«, die Antriebseinheiten mit großen Düsentriebwerken und dem dazwischen angeordneten Heckleitwerk. Eine vollständige Transporteinheit bestand immer aus einem Schiffsmodul mit Brücke und Kabinen, einem oder mehreren Lademodulen sowie einem oder zwei Heckmodulen.

»Käpt’n, unsere Fracht für diese Tour: Ein paar Passagiere, aber vor allem drei mal vier Module mit Containern, insgesamt neunhundertfünfzig TEU, ein paar Reihen Minenausrüstung und ganz vorne Lebensmittel, darüber ein paar Reihen leere Erzcontainer. Und sehr schön: keine giftigen oder explosiven Sonderladungen dabei!«, stellte der Chief fest, der gleichzeitig auch Lademeister war.

Er schaute auf seine Liste und fuhr fort.

»Oh, und wir werden sogar zwei Heckmodule bekommen, also gibt’s genügend Dampf von achtern. Die Ladung dürfte uns daher wohl nicht überanstrengen. Drei Module verlassen uns schon wieder beim ersten Zwischenhalt. Und dort bekommen wir noch von einem anderen Transport neue Ladung.« 

»Neunhundertfünfzig Twenty Foot Container Equivalent Units, aber viele leere Kisten. Das wird zwar nicht die tollste Frachtprovision geben, aber besser als nichts«, meinte der Kapitän.

»Sie haben Recht, Käpt’n, das ist besser als nichts!« 

Die Anaconda hatte schon nach kurzer Fahrt ihr Ziel erreicht, das an einem großen Schild D5 zu erkennen war. Adriana kuppelte das immer noch in Rückwärtsfahrt befindliche Schiff mit der Rückseite gefühlvoll an die Lademodule an, nachdem die Schwebehöhe soweit abgesenkt wurde, dass sich die Kupplungszapfen exakt auf gleicher Höhe befanden. Wiederum gab es nur einen leichten Ruck, als die Kupplungen einrasteten, da Adriana rechtzeitig den Schub verminderte. Die etwa zwei Meter langen Zapfen waren notwendig, um eine stabile und auch für dreistellige Knoten-Geschwindigkeiten geeignete Verbindung herzustellen.

Der Chief ließ sofort danach die Energieversorgung und die Steuerleitungen von der Anaconda mit den Lademodulen verbinden.

»HU der Module werden aktiviert«, sagte er.

Das Schiff neigte sich leicht nach achtern, bis die Schwebeeinheiten der Module volle Leistung brachten, richtete sich aber schnell wieder in die Waagerechte aus. Das gesamte Gebilde aus Anaconda, der Transporteinheit und den Heckmodulen schwebte nun unter der Kontrolle der Brücke auf der Stelle.

Adriana drehte den Steuerstand wiederum um hundertachtzig Grad, so dass sie jetzt nach vorne sehen konnte.

»Steuerstand wieder für Vorausfahrt bereit«, meldete sie.

»Danke, Miss Dubajič. Schönes Manöver«, lobte der Kapitän sie.

Er wandte sich an Molly. »Freigabe von Control?« 

Molly schüttelte den Kopf und antwortete: »Nein, Käpt’n. Wir müssen wieder noch ein anderes Schiff vorbei lassen.« 

Adriana konnte aus der Steuerkanzel das andere Schiff sehen, das jetzt ihren Kurs kreuzte. Es war etwas kleiner als die Anaconda und war lediglich mit neun Lademodulen und nur einem Heckmodul gekoppelt. Kurz nachdem das andere Schiff den Bug der Anaconda passiert hatte, erteilte die Hafenkontrolle die Freigabe.

»Eins-Fünf-Zwei, hier ist Control. Frei über Taxiway Foxtrott nach Start Blau.« 

Molly bestätigte: »Roger, Control. Frei über Foxtrott nach Blau.« 

»Über Foxtrott nach Blau«, wiederholte Adriana.

Sie bewegte wieder vorsichtig die Schubhebel nach vorne und das Schiff setzte sich langsam in Bewegung. Die Anaconda verließ das Hafengebiet und schwebte über eine breite planierte Fahrbahn, die mit leuchtend gelben Schildern mit dem Buchstaben F bezeichnet war, zur Abzweigung, welche den Beginn der so genannten »Blauen Route« markierte, die vom Hafen zu ihrem ersten Ziel, einer Iridiummine, führte. Sie schwebten an dem großen Komplex der Atmosphären-Anreicherungsanlage vorbei, ohne den die Luft auf dem Wüstenmond nicht wirklich atembar wäre – dies war wegen des hohen Staubanteils aber immer noch schwierig genug.

Die Abzweigung zur Blauen Route wurde von der sogenannten »Bake Blau« markiert. Die Bake war ein kleiner blau-weiß gestreifter Mast mit einem blauen Blinklicht an der Spitze und markierte den Beginn der »Blauen Route« zur Iridiummine. Adriana hatte zwar bei ihren Prüfungsvorbereitungen zum Steuermannpatent von diesen kleinen Leuchttürmen gelesen, aber hier jetzt einen wirklich in natura abseits jeglicher Gewässer zu sehen, war noch einmal etwas anderes.

Noch war ein wenig Vegetation zu sehen, Flechten, Moose und kleines bodendeckendes Gestrüpp, die hier vom Terraformingprozess übriggeblieben war und im noch relativ gemäßigten Klima der Polregion gedeihen konnte. Aber schon nach ein paar Seemeilen war die Vegetationsgrenze erreicht und eine weite staubige Geröllebene lag vor ihnen.

Vom Kapitän erhielt Adriana die Anweisung, auf Autopilot zu gehen. Sie fuhr mit dem Steuerstand aus der Kuppel zurück nach unten auf die Brückenebene. Sie nahm ihr Headset ab, schob ihre Sonnenbrille ins Haar, streckte sich kurz und nahm einen großen Schluck aus einer Wasserflasche. Sie war der Ansicht, dass ihr Einstand wohl auch hätte schlechter laufen können und war eigentlich sehr zufrieden. Sie liebte jetzt schon ihren neuen Job, alles war viel besser als die ständigen Schwerkraftwechsel auf einem Raumschiff. Und endlich gab es wieder Tageslicht. Adriana war regelmäßiges Tageslicht nach vielen Jahren auf Raumschiffen gar nicht mehr gewohnt. Wobei »regelmäßig« auf diesem Mond relativ zu sehen war, hatte sie doch gelesen, dass der große Gasplanet hier für viele Sonnenfinsternisse sorgte.

Sie waren jetzt weit genug von jeglicher Vegetation entfernt und konnten diese daher auch nicht mehr beschädigen, so dass der Kapitän befahl, die Tragflächen auszufahren und anschließend zu beschleunigen. Da der Wüstenmond zwar über keine Wasserflächen, dafür aber über ausreichend ebenes Gelände sowie eine recht einheitliche Bodenbeschaffenheit verfügte, bot er somit ideale Voraussetzungen für Bodeneffektfahrzeuge. Diese Fahrzeuge gleiten auf einer durch ihrem Rumpf und ihre Tragflächen erzeugten Luftwelle. Die Hover Units dienten den Schiffen dabei nur zum Schweben bei langsamen Geschwindigkeiten, zum Beispiel beim Überqueren von Dünen oder für Hafenmanöver, und konnten bei Erreichung des Bodeneffekts abgeschaltet werden.

Die Triebwerke hatten nun ihre höchste Leistung erreicht, das Schiff beschleunigte gleichmäßig und schwebte sehr bald eigenständig im Bodeneffektflug mit einer Geschwindigkeit von etwas mehr als dreihundert Knoten. Sobald die volle Geschwindigkeit erreicht war, wurde die Triebwerksleistung etwas zurückgefahren und die Hover Units wurden abgeschaltet.

Noch lag der Nordpol knapp in Funkreichweite, die wegen der Sandstürme und des dadurch vorhandenen erzhaltigen Staubes in der Luft nur begrenzt war. Auch Satelliten waren nicht zu erreichen, so dass Molly eine letzte Meldung abgeben konnte.

»Control, hier ist Eins-Fünf-Zwei. Weiterhin auf Blau auf Kurs, verlassen gleich den Sendebereich.« 

»Roger, Eins-Fünf-Zwei. Auf Blau auf Kurs. Gute Reise!« 

»Danke, Control.« 

Der Kapitän stellte befriedigt fest: »So, meine Damen und Herren! Ich danke Ihnen allen für das Manöver. Sechstausend Meilen liegen nun bis zur Mine vor uns, also etwa zwanzig Stunden Fahrt. Das Wetter sieht auch gut aus, nur mäßiger Wind und kein Sandsturm in Sicht. Ab jetzt ist All Hands On Deck aufgehoben. Wachdienst nach Plan.« 

Adriana blieb auf der Brücke, denn »die Neue« war durfte auch gleich die erste Schicht nach dem Ablegen absolvieren.

Ein Tag auf dem Wüstenmond war ziemlich genau zwanzig Stunden lang, dennoch hatte die Company die offiziell geltende Uhrzeit an Erdtagen orientiert und darüber ein Acht-Stunden-Schichtraster gelegt. Der Wachdienst auf der Anaconda war daher außerhalb von Hafen- oder sonstigen Manövern in drei Schichten zu je acht Stunden aufgeteilt. Nach acht Stunden Dienst folgten acht Stunden Bereitschaft und dann acht Stunden Freiwache.

Die Wachen waren so eingeteilt, dass Adriana und Molly ihren ersten gemeinsamen Dienst auf der Brücke hatten, und Adriana hatte den Chief in Verdacht, Molly somit etwas Gutes tun zu wollen. Zwei Personen war die Minimalbesetzung auf der Brücke, wenn das Schiff keine besonderen Manöver durchführen musste; insofern waren die beiden Frauen jetzt acht Stunden für sich alleine. Adriana hoffte, dass ihr erster Wachdienst ruhig blieb.

Nach etwa zwei Stunden dämmerte es schnell, obwohl erst vor etwa sechs Stunden die Sonne aufgegangen war. Eine der unzähligen Sonnenfinsternisse auf dem Wüstenmond stand bevor. Adriana sah aus dem Fenster den Gasriesen langsam vor die Sonne ziehen. Sie schaute auf die Anzeige vor ihr. So wie es schien, sollte ihre Schicht im Dunkeln enden. Molly schaltete die Antikollisionsbeleuchtung ein, starke Blitzleuchten an Bug, Heck und den Seiten des Schiffs.

Schnell war es fast komplett dunkel und Adriana sah aus den Seitenfenstern der Brücke, wie sich die Blitze der roten Backbord- und der grünen Steuerbord-Antikollisionsleuchten in der vom Schiff aufgewirbelten Staubwolke reflektierten.

Durch die fehlende Sonneneinstrahlung war auch der Wind vollkommen eingeschlafen und so flog die Anaconda weiterhin recht ruhig mit Höchstgeschwindigkeit auf ihrem vorbestimmten Kurs. Laut Anzeige sollte die Sonnenfinsternis direkt in die Nacht übergehen, sie würden also erst am nächsten Tag wieder die Sonne sehen. Adriana fand es aber immer noch besser als in Weltraum außerhalb von Sonnensystemen, so war immerhin noch ein wenig Restlicht vorhanden. Sie warf wieder einen Blick auf die Anzeigen. Die Triebwerke arbeiteten normal, es tauchten keine Warnungen vor Überhitzung oder Ähnliches auf. Auch die Brennstoffzellen lieferten konstant Energie. Sie bestätigte die abgelesenen Messwerte in einem Logbucheintrag, genau nach Vorschrift. Es war schön ruhig, hektischer und aufregender würde es schon noch werden, sobald sie auf einen Sandsturm trafen, die ersten Dünenketten oder gar das sogenannte »Piratengebiet« erreichten.

Immer eine Person musste den Steuerstand besetzt halten, um im Notfall manuell eingreifen zu können, und so wechselten sie sich ab, damit sie sich auch einmal die Beine vertreten konnten. Molly stand auf und setzte in der Pantry im hinteren Teil der Brücke Teewasser auf. Bald kam sie wieder mit zwei Teetassen in der Hand zurück, von denen sie eine Adriana reichte.

Molly war froh, endlich einmal ausführliche Gespräche mit einer anderen Frau (»und nicht mit einem Drachen aus der Küche«, wie sie es ausdrückte) führen zu können. Konnte Adriana ihre beste Freundin werden? Sie hoffte, dass sich vielleicht eine richtige Freundschaft mit Adriana entwickeln könnte.

So erfuhren sie nach und nach alles über ihre beruflichen und auch privaten Werdegänge. Adrianas großer Bruder war ebenfalls ein Raumschiffpilot, und er war eigentlich der Grund gewesen, weswegen sie überhaupt so einen Job angenommen hatte. Molly hatte eine ähnliche Geschichte zu erzählen, nur war es ihr Vater, der ebenfalls Raumschiffnavigator war. Beide Frauen hatten tatsächlich viel gemeinsam und beide hatten sofort gespürt, auf gleicher Wellenlänge zu liegen.

»Ist das immer so ruhig?«, wollte Adriana wissen.

»Meistens. Für deine erste Schicht ist’s doch ganz gut, oder?« 

»Ja. Aber was ist mit Sandstürmen?« 

»Die können schon ein wenig heftig werden. Außerdem müssen wir dann die Schotten dicht machen und nach Instrumenten fahren.« 

»Und Piraten?« 

»Hatte ich noch nie in den zwei Jahren, die ich hier für die Company arbeite.« 

»Also sind Piraten nur ein Gerücht?« 

»Nein, es sind tatsächlich schon Schiffe verschwunden.« 

»Richtig verschwunden? Oder von einem riesigen außerirdischen Wüstenmonster gefressen, was ganze Schiffe verschlingen kann?« 

Molly kicherte.

»Nein nein nein, kein Monster«, fuhr Adriana lachend fort, »ich weiß schon, dass vor dem Terraforming der Wüstenmond auf Lebensformen untersucht, aber nichts gefunden wurde.« 

Sie wurde wieder ernst und fragte: »Aber kann ein Schiff wirklich verschwinden?« 

»Hier in der Wüste geht das schnell«, meinte Molly. »Nach einem Sandsturm kannst du ein Schiff nicht ’mal erkennen, wenn du direkt davor stehst, soviel Sand wird von einer zur anderen Düne umgeschichtet und türmt sich dann auf.« 

Adriana überlegte, ob es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, bei der Company anzuheuern, denn von Sandstürmen und Piraten stand natürlich nichts in der Stellenanzeige und im Arbeitsvertrag.

Molly fuhr fort: »Ich will dir hier aber am ersten Tag nicht gleich Angst machen.« 

»Nein, sonst hätte ich diesen Job gar nicht erst angenommen.« 

Molly erzählte weiter, dass die Yellowstone, eines der neueren Schiffe, vor einiger Zeit verschwunden war und die Company die Anaconda als Ersatz hatte bauen lassen. An Transport- und Heckmodulen herrschte offenbar kein Mangel, nur die eigentlichen Schiffe mit Brücke und Kabinen wurden etwas knapp, so dass die Company in Gefahr geriet, nicht mehr alle Transportaufträge abwickeln zu können.

Nach einigen Stunden im dämmrigen Halbdunkel – ein Grund, warum das Terraforming auf dem Wüstenmond nicht wirklich zum Erfolg geführt hatte, es gab für die Vegetation einfach zu wenig Sonnenlicht – und dann vollständiger Dunkelheit war ihre erste richtige Brückenschicht beendet.

»Keine besonderen Vorkommnisse außer der Sonnenfinsternis, alle Systeme arbeiten normal«, meldeten sie ihrer Ablösung.

Molly führte Adriana in die Schiffskantine, wo sie noch eine Kleinigkeit zusammen aßen.

»Wie war die erste Schicht?«, fragte Molly.

»Zumindest habe ich beim Ablegen nichts kaputt gemacht und den Rest hat ja der Autopilot erledigt.« 

Molly musste kichern und erwiderte: »Nein nein, bis der Autopilot dann an die Reihe kam, war es für mich das sanfteste Ablegen, Ankoppeln und Losfahren, was ich hier bei der Company je erlebt hatte. Bist du sicher, dass du noch nie so ein großes Schiff in echt gefahren bist?« 

»Nur im Simulator, sonst nur ein paar kleinere Schiffe.« 

»Sehr beeindruckend für’s erste Mal!« 

»Danke, Molly. Aber noch hatten wir keine Dünen und keinen Sandsturm.« 

Sie zogen sich danach in ihre Quartiere zurück, denn schon bald konnte es für die Besetzung wieder All Hands On Deck heißen.

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