Kapitel 4
Ricarda

Als an nächsten Morgen die ersten Vogelstimmen zu hören waren, versuchte Mathias sich zu erinnern, wann oder er ob er überhaupt jemals morgens neben einer unbekleideten und sehr hübschen jungen Frau aufgewacht war.

Maja schlief noch und gab gleichmäßige Atemzüge von sich. Er konnte sich wahrlich daran gewöhnen, jeden Morgen so zu beginnen – auch und gerade weil er eigentlich ein bekennender Extremmorgenmuffel war, der erst nach diversen Tassen Kaffee ganze Sätze herausbringen konnte. Eine schöne junge Frau war hier vielleicht ein angemessenes Gegenmittel gegen Morgenmuffeligkeit.

Nun war »es« also passiert – viel schneller, als er überhaupt erwartet hatte.

Er ging zum Schreibtisch, schaltete einen Computerbildschirm ein und warf einen Blick auf Sisus Suchergebnisse.

»Bienchen!«, brüllte er.

Flugs kam Maja die Wendeltreppe hinunter. Mathias zeigte auf eine Stelle des Bildschirms.

»Ricarda? Verschwunden seit vorgestern? Mathias, wir hatten so recht!« 

»Das ist mir auch unheimlich. Ich bekomme richtig Gänsehaut.« 

»Du wirst doch sicher gleich in der Datenbank nachsehen, oder?« 

Mathias hielt sich eine Hand hinters Ohr.

»Wie bitte? Ich kann dich vor lauter ›DSGVO‹ nicht verstehen!« 

Maja lachte lauthals.

Nachdem der Name Ricarda jetzt »offiziell« bestätigt worden war war, konnte Mathias die über die Nacht gelaufene Sisu-Suche stoppen und eine neue aufsetzen:

mateck@rechenknecht ~/sisu> Sisu.py --interval 15min --timeframe today --socialmedia all --keywords Buchthausen Ricarda --output CSV only_headlines

Er drückte die Enter-Taste, stand vom Schreibtisch auf und sie setzten sich gemeinsam an den Esstisch.

Da beide an diesem Tag früh arbeiten mussten, nahmen sie nur ein sehr kleines Frühstück, bestehend aus einer Tasse Kaffee und einer Schale Müsli, ein. Nach dem Frühstück gingen sie ins Badezimmer, aber zu Mathias’ großen Bedauern nicht zum gemeinsamen Duschen, da seine Duschkabine dafür viel zu eng war. An das Zähneputzen schloss sich ein langer Kuss an.

Maja hauchte ihm ins Ohr: »Frisch geputzt küsst es sich am Besten!« 

Er musste lachen und gab ihr erneut einen langen Kuss.

Sie zogen sich an, er brachte sie mit seinem Auto zu ihrer Arbeitsstelle und fuhr danach selbst ins Büro.

Gleich als erste Aktion, nachdem er seinen Arbeitsplatzrechner hochgefahren und den E-Mail-Eingang durchgearbeitet hatte, wandte er sich wieder unauffällig der Gewinnspiel-Datenbank zu, um nach Ricarda zu suchen

Als das Suchergebnis angezeigt wurde, war er wie gelähmt.

Alle vier Mädchen waren in der Gewinnspiel-Datenbank vorhanden! Auf diesen Datenbestand hatten nur ganz wenige Personen Zugriff. Der betreffende Kollege kristallisierte sich immer mehr als möglicher Täter heraus; »alle Indizien sprachen dafür«, wie es immer hieß. Glücklicherweise wurde er in seinen Gedanken von seinem Chef abgelenkt, der zu ihm ins Büro kam.

Auch sein Chef und das Sekretariat hatten nicht persönlich etwas vom Kollegen gehört, sondern nur eine telefonische Krankmeldung durch dessen Ehefrau erhalten, die auch nicht bei ihnen direkt, sondern in der Personalabteilung eingegangen war. Somit musste Mathias noch eine zeitlich fast überfällige Aufgabe vom fehlenden Kollegen übernehmen, und er bereute es, sich im Sekretariat nach dem Kollegen erkundigt zu haben. Einen frühen Feierabend und seine weiteren »privaten Ermittlungsarbeiten« zu den toten und dem verschwundenen Mädchen konnte er damit wohl vergessen.

Auf dem Nachhauseweg von ihrer Arbeitsstelle kam Maja an der Schule ihrer Schwester vorbei, auf der auch zwei weitere Opfer in eine achte Klasse gingen. Sie zählte insgesamt fünf Übertragungswagen bekannter Fernsehstationen und als ob dieses noch nicht genug war, beobachtete sie, wie ein Mann mit einem Diktiergerät in der einen und einem grünlichen Stück Papier in der anderen Hand direkt vor dem Schuleingang zwei etwa zehnjährige Mädchen ansprach. Sie kam näher und bemerkte, wie eines der Mädchen in Tränen ausbrach. Das Mädchen wirkte sehr eingeschüchtert.

Maja rief: »Was machen Sie hier? Lassen Sie die Mädchen in Ruhe!« 

Er hielt ihr das grüne Papier hin, das sich als 100-Euro-Schein entpuppte.

»Willst dann aber du mir ein Interview geben?«, fragte er Maja.

Sie gab ihm als Antwort eine laut klatschende Ohrfeige, so dass ihre rechte Hand zwanzig Minuten später immer noch leicht schmerzte.

»Für Sie nicht ›Du‹, sondern immer noch ›Sie‹!«, zischte sie. »Und nein: Wenn keiner mit euch widerlichen Gafferjournalisten reden möchte, dann hilft auch das Wedeln mit einem Geldschein nichts!« 

Er holte Luft und wollte gerade etwas erwidern, da fuhr sie ihm dazwischen.

»Ich würde jetzt ganz, ganz gepflegt die Klappe halten und mich verdrücken. Ich glaube nicht, dass Sie sich vorstellen können, mit wem Sie es hier zu tun haben!« 

Sie war selbst von sich überrascht, dass sie so selbstbewusst aufgetreten war, aber der Journalist steckte den Geldschein tatsächlich wieder in seine Jackentasche und entfernte sich. Es hatte funktioniert. Das weinende Mädchen schaute sie mit großen nassen Augen an.

Seit der Beerdigung ihrer Schwester hatte Maja sich angewöhnt, draußen nur noch »getarnt« mit einer dunklen Sonnenbrille und einer Schirmkappe der Bay Seals, des örtlichen American-Football-Vereins, aufzutreten. Sie schob den Schirm der Kappe, die mit einem kleinen Seehund verziert war, zurück auf den Haaransatz und dann die Sonnenbrille weit die Nase herunter. Maja zwinkerte dem Mädchen zu.

»Ich weiß jetzt, wer du bist«, sagte das Mädchen leise. »Du bist doch Johannas große Schwester, oder?« 

Maja nickte und wollte gerade antworte, da brandete Applaus unter den Umstehenden auf, was Maja sichtlich peinlich war.

Sie sagte: »Aber nicht weitersagen.« 

Der Applaus verstärkte sich noch und Johlen und einige Pfiffe mischten sich dazwischen, als der Journalist von einem offenbar noch halbvollen Plastik-Kaffeebecher am Kopf getroffen wurde. Dieser Vorfall und der sich daran anschließende Tumult lenkte die Umstehenden – und vor allem diverse Kamerateams – soweit ab, dass Maja sich davon stehlen konnte.

Abends trafen sich abends wieder bei Mathias.

Er berichtete ihr von dem sich weiter erhärtendem Verdacht, dass es sich beim Täter tatsächlich um seinen Kollegen handeln könnte.

Maja sagte: »Ein Kollege? Ich habe auch ’was Neues: Stell’ dir vor, ein Journalist wollte doch wirklich einer Schülerin Geld anbieten, dass sie etwas in seine Kamera sagt.« 

»Hast du es ›live‹ gesehen? Warst du dabei?« 

»Ja. Und ich hab’ dem Typen dann eine gescheuert.« 

»Du hast dem Journalisten eine ’runtergehauen? Bienchen, Bienchen, wollten wir nicht unter dem Radar bleiben?« 

»Eigentlich schon. Aber da ist ’was mit mir durchgegangen.« 

»Hattest du wenigstens deine übliche ›Tarnung‹ an?« 

»Ja, Kappe, Sonnenbrille, das volle Programm.« 

»Bitte, bitte, sei in Zukunft vorsichtiger.« 

Da er nichts über den Kollegen öffentlich machen konnte und wollte, ließ er zumindest seinen Unmut über den Journalisten in einem Blogeintrag freien Lauf:

Unglaubliches spielt sich hier ab: Geld anbieten?!? Ihr gebt einfach keine Ruhe, um aus den Leuten zehnjährigen Mädchen! doch noch irgendeine »Story« herauspressen zu können.

Jemand sagte vorhin ganz deutlich: »Wenn niemand mit euch widerlichen Gafferjournalisten reden möchte, dann hilft auch das Wedeln mit einem Geldschein nichts.« Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

Das wird auch nicht mehr lange gut gehen. Denkt ’mal darüber nach. Euer Buchtblogger.

»Jemand?«, fragte Maja.

»Du natürlich; aber ich kann doch deine Identität im Blog nicht preisgeben!« 

Schon bald hatte der Blogeintrag wieder viele positive und nur ganz wenige negative Bewertungen erhalten, so dass der grüne Balken den roten deutlich überstrahlte.

Er fragte sie dann, ob sie an folgenden Abend noch etwas Detektiv spielen wollte.

»Etwas Detektiv spielen?«, fragte sie belustigt.

Er hatte vor, sich den anhand der Noten ermittelten voraussichtlichen Fundort des vierten Opfers genauer ansehen zu wollen, hatte aber noch keine klare Vorstellung davon, wie dies möglichst unauffällig geschehen konnte.

Maja strahlte aber sofort über das ganze Gesicht.

»Ich habe da eine Idee«, meinte sie, holte ihr Mobiltelefon aus der Tasche und tätigte einen Anruf.

Sie stiegen in Mathias’ Auto und Maja lotste ihn zu einer ihrer Freundinnen.

An der Haustür wurden sie schon von der Freundin begrüßt. Im Windfang hingen an Haken mehrere Geschirre und Leinen. Mathias ordnete diese eher kleineren Hunden zu. Als sie das Wohnzimmer betraten, kamen durch die offene Terrassentür zwei schwarze Schatten hineingerannt.

»Nein!«, rief Mathias.

Vor ihnen standen schwanzwedelnd zwei kleine schwarze Hausschweine, von denen eines mit seiner großen Steckdosennase Mathias’ Schuhe neugierig beschnupperte.

»Und mit denen kann man Gassi gehen?«, fragte er.

Maja nickte.

Die Freundin legte den Schweinen ihre Geschirre an. Die Tiere waren über die überraschende Abwechslung sehr erfreut. Mathias und Maja verließen das Haus und machten sich mit den Tieren auf den Weg.

An der durch die Noten ermittelten Stelle sahen sie sich unauffällig um. Herausragend war ein ausladender Baum mit dunkelroten Blättern.

»Sieht aus wie Prunus cerasifera, auch ›Blutkirsche‹ oder ›Blutpflaume‹ genannt«, erläuterte Mathias, dessen Onkel einen Gartenbaubetrieb hatte, in dem er häufig während seines Studiums ausgeholfen hatte.

»Das muss es sein. Unser Täter scheint einen gewissen Sinn für Ironie zu haben«, flüsterte Maja ihm ins Ohr.

Sie schauten den Baum genauer an. Die Blutkirsche sah so aus, als ob an ein paar Stellen Äste abgebrochen waren. Das schien tatsächlich der Baum zu sein, an dem ein wenigen Stunden das vierte Opfer hängen würde.

»Ich habe hier frische Reifenspuren«, sagte Maja leise.

Es war zwar nirgends eine am Baum hängende Leiche zu entdecken, aber um einem Ast war eine Art Gummimatte gewickelt worden.

Mathias stellte die rhetorische Frage: »Ist das etwa dazu gedacht, den Baum nicht zu verletzen, wenn man einen Menschen daran aufhängen will?« 

Sie waren sich jetzt ganz sicher. Mathias hatte tatsächlich mit seinen »Noten« ins Schwarze getroffen. Der Täter hatte ohne Zweifel sich genau diesen Baum ausgesucht, um sein viertes Opfer aufzuhängen. Sie hatten genug gesehen und gingen mit den Schweinen auf der Gassirunde weiter.

Beiden war aber noch nicht ganz klar, was sie mit dieser Entdeckung machen sollten. Vor allem Mathias war immer noch dagegen, zur Polizei zu gehen.

Wieder zu Hause bei Mathias erfuhren sie dann von einer weiteren Steigerung. Ein Reporter hatte sich bei einer privaten Trauerfeier unter falschem Namen bei der Familie des vierten Opfers eingeschlichen. Prompt wurde er verprügelt und herausgeworfen. Dieser Vorfall veranlasste Mathias dazu, eine Ergänzung des letzten Blogeintrags vorzunehmen.

Update: Ihr Gafferschmierfinken sollt endlich einmal die Leute in Ruhe lassen!

Nun gut, ich und auch andere haben es versucht, mäßigend auf euch einzuwirken. Ohne dass dies auch nur in Entferntesten einen Aufruf zu einer Straftat unsererseits (des noch friedlichen Bürgers) darstellen soll, seid ihr ab jetzt für jegliche weitere Eskalationen einzig und alleine selbst verantwortlich!

Denkt ’mal darüber nach. Euer Buchtblogger.

Maja fragte: »Darf ich gleich wieder einen Kommentar schreiben?« 

»Aber klar doch!«, antwortete er und schob ihr den Rechner hin.

Bienchen hat geschrieben:
Jetzt müsste doch auch endlich mal die Politik eingreifen! Diese Ereignisse färben doch jetzt auch auf die Stadt Buchthausen ab, vor allem im Vorfeld der Gartenschau. Lasst uns doch endlich in Ruhe!

»Was machen wir morgen für Detektivarbeit?«, fragte sie schließlich.

»Hast du etwa Gefallen an der Minischwein-Gassirunde mit Auskundschaften eines möglichen Tatorts gefunden?« 

Maja lachte und nickte.

»Also gut: Wenn mein Kollege morgen auch nicht im Büro erscheint, dann schauen wir nachmittags ’mal bei ihm zu Hause nach.« 

»Aber ohne Schweine. Wer weiß, was uns dort erwartet.« 

»Ja, ohne Schweine. Und ohne Polente. Alte Regel: Wenn etwas ordentlich werden soll, dann mache es selbst.« 

Am folgenden Tag, Mathias hatte gerade seine Mittagspause beendet, war der Konflikt zwischen Bürgern und Journalisten tatsächlich noch weiter eskaliert. »Aus noch nicht näher bekannten Gründen« war ein Übertragungswagen eines bekannten Fernsehsenders demoliert und umgestürzt worden. Die Polizei konnte gerade noch verhindern, dass auch Feuer gelegt wurde. Mathias konnte sich die Gründe durchaus vorstellen: ein Fernsehteam war wohl zu aufdringlich geworden und irgend jemandem war jetzt endgültig der Kragen geplatzt. Viel beunruhigender war für ihn jedoch die Tatsache, dass sein Kollege wieder nicht am Arbeitsplatz erschienen war.

Daher schrieb er erneut einen Nachtrag zu einem Blogeintrag:

Update 2: Hmmm, was war da denn los? Das mit den Ü-Wagen hatten wir doch schon. Der Angelsachse würde jetzt ein großes Schild hochhalten mit der Aufschrift YOU HAVE BEEN WARNED! Und mir ist auch zu Ohren gekommen, dass sich Kaugummis von Objektivlinsen furchtbar schlecht ablösen lassen. Eigentlich musste es doch gar nicht so weit kommen, oder?

Denkt ihr jetzt darüber nach? Über das – und gleich auch über Gladbeck, wo ihr eure Unschuld verloren habt? Euer Buchtblogger.

Danach rief er Maja an und gab ihr folgende Anweisung: »Stelle alle Signaltöne ab und lege dein Mobiltelefon in irgendein Fach ins Auto deiner Mutter. Dann bist du für sie in Bewegung!« 

» Du bist manchmal schon ein bisschen paranoid-verrückt!« 

»Aber…« 

»Aber du hast ja vollkommen recht!« 

Nachdem sie ihr Telefon im Auto von Majas Mutter deponiert hatte, wartete sie vor dem Haus, um sich mit Mathias auf den Weg zum Haus seines Kollegen zu machen.

Die im südlichen Teil Buchthausens gelegene kleine Wohnstraße in der Nähe des sogenannten »Sportparks«, die in einer Sackgasse endete, war von Ein- und Zweifamilienhäusern mit kleinen Gärten umsäumt. Das besagte Haus befand sich ganz am Ende der Straße.

Mathias kündigte an, mit dem »Detektiv spielen« nun beginnen zu wollen und er bat Maja, Einmal-Gummihandschuhe anzuziehen.

Sie stiegen aus, gingen zur Haustür und klingelten. Niemand öffnete. Mathias schlug vor, es am Hintereingang zu versuchen. Vorsichtig schlichen sie um das Haus herum. Die Terrassentür war nur angelehnt und so betraten sie vorsichtig das Haus. Mathias rief den Namen des Kollegen, aber auch nach mehrmaliger Wiederholung antwortete niemand.

Mathias zog die Handschuhe an. Maja tat es ihm nach.

Gleich nach dem Erdgeschoss nehmen sie sich das Obergeschoss vor. Die erste Tür, die Mathias vorsichtig öffnete, führte in ein Zimmer, welches sehr leicht als das Zimmer der Tochter zu erkennen war. Es war noch originalgetreu eingerichtet – und das, obwohl die Tochter vor zehn Jahren verstorben war und die Eheleute vom Rheinland nach Buchthausen umgezogen waren. Dass Eltern die Zimmer ihrer verstorbenen Kinder komplett eingerichtet ließen und auch nichts mehr daran veränderten, hatte Maja immer nur als furchtbares Klischee empfunden, wie sie es aus der Literatur oder aus Filmen kannte. Hier jedoch war es Wirklichkeit.

Die Zimmerwände waren mit vielen Beatles-Postern dekoriert, daneben fand sich die übliche Ausstattung eines Mädchenzimmers, so zum Beispiel ein mit vielen Puppen beladener Schaukelstuhl. Maja rief sich noch einmal das Alter der Tochter ins Gedächtnis, als sie Suizid begangen hatte. In diesem Alter hatten Mädchen ihrer Ansicht nach eigentlich andere Musikinteressen als die Beatles. Dies waren und sind doch immer die aktuellen Charts, Boygroups oder (männliche) Gewinner von Casting-Shows. Vielleicht war das eine Folge daraus, dass sie sich aufgrund des Mobbings immer mehr zurückgezogen hatte.

Direkt an das Kinderzimmer schloss sich das Arbeitszimmer an. Mathias schaute sich um. Eigentlich sah es wie ein ganz normales Arbeitszimmer aus. Eigentlich.

Er stutzte. Bisher hatte er noch keinen einzigen Ordner oder eine andere Papierablage entdeckt, dafür aber einen Aktenvernichter, unter dem ein mit Papierschnipseln prall gefüllter Plastiksack hing. Auf dem Schreibtisch lag eine handelsübliche Docking-Station, in die man ein Notebook einlegen konnte. Mit der Docking-Station waren zwei große Monitore sowie Maus, Tastatur, Lautsprecherboxen und ein kleines Kästchen mit vielen schmalen Anschlüssen, wohl USB-Anschlüssen, verbunden. Die Docking-Station war allerdings leer, es steckte kein Notebook darin. Neben dem Schreibtisch stand eines dieser großen Hochleistungs-Multifunktionsgeräte, also ein Gerät, welches Drucker, Scanner und Kopierer in einem war. In einem Karton daneben lag noch ein Stapel Papier, wohl Unterlagen, die noch nicht digitalisiert worden waren.

»Sollten sie tatsächlich alles, aber auch wirklich alles, eingescannt und dann geschreddert haben? Ist dies hier etwa der Prototyp des ›papierlosen Büros‹?«, dachte Mathias laut.

»Was für ein papierloses Büro?«, fragte Maja aus dem Flur.

»Ähm, nichts, sieht hier alles nur etwas merkwürdig aus.« 

Er öffnete ein an der Wand hängendes Schränkchen und wich erstaunt zurück. An vielen kleinen Haken hingen – er beugte sich vor, um genauer nachzusehen – USB-Speichersticks, teilweise mit zweihundertsechsundfünfzig, in der Mehrzahl aber mit fünfhundertundzwölf Gigabyte bis ein Terabyte Speicherkapazität. Über der obersten Reihe der Haken waren Ziffern in den Gruppen 1 bis 13, 1 bis 4 sowie 1 bis 11 angebracht. In der untersten rechten Ecke befanden sich vier gesondert markierte Haken, die mit »J«, »P«, »G« sowie »R« beschriftet waren und an denen aber nur jeweils ein USB-Stick hing. An einigen Haken der obersten Reihe hingen keine USB-Sticks, sondern kleine rote Plättchen, ähnlich Einkaufswagenchips. Er konnte sich keinen Reim auf diese merkwürdige Anordnung machen, es musste sich aber aufgrund der USB-Sticks eindeutig um etwas IT-mäßiges handeln.

Mathias stellte laut fest: »Welcher wirre Kopf hat denn derartig dämlich seine Datenhaltung mit einzelnen USB-Sticks organisiert, wo es doch heute für wenig Geld externe Festplatten mit großer Speicherkapazität gibt – auch als SSD ohne bewegliche Teile? Was will man von einer Mathedoktorin auch sonst erwarten…« 

Vor seinem inneren Auge sah er schon auf einer der unzähligen FAIL-Witzseiten im Internet ein Bild dieser USB-Sticks mit der Beschreibung Data Storage FAIL auftauchen.

»Also, du bist der Techniker: Was ist das für eine Sch…afskäse?«, wollte Maja wissen.

Mathias zuckte mit den Schultern und meinte: »USB-Sticks, hübsch aufgehängt? Ehrlich gesagt, ich habe keinen blassen Schimmer. Gib mir etwas Zeit, ich muss nachdenken!« 

Er konnte sich zunächst überhaupt keinen Reim auf die Zahlen machen und fragte sich, auf welche Weise die Zahlen 13, 4 und 11 zusammenhingen. Nachdem er einige Minuten lang das Schränkchen angestarrt hatte, ohne einer Lösung auch nur ansatzweise nahe zu kommen, schweifte sein Blick vom Schränkchen ab und blieb auf einer bestimmten Stelle eines großen Jahreskalenders an der Wand hinter dem Schreibtisch hängen. Die letzte Märzwoche hatte im laufenden Jahr die Wochennummer dreizehn. Er schaute zu den USB-Sticks zurück und dann nochmals auf den Kalender.

»Juni hat als letzte Woche Nummer sechsundzwanzig, September Nummer neununddreißig und Dezember Nummer zweiundfünfzig. Na klar, die Zahlen sind Wochen, Quartale, Jahre!«, dachte er laut.

Und dann präsentierte er die Lösung.

»Maja, das ist eine auf unterster Ebene wöchentliche Datensicherung, die dann auf mehrere ›Generationen‹ fortgeführt wird. Dreizehn Wochen ergeben ein Quartal, welches dann in die Quartalssicherung übergeht. Vier Quartale ergeben dann ein Jahr und wandern in die Jahressicherung. Zum Schluss haben wir dann noch elf Jahre. Ich kann mir das so erklären: Zehn Jahre sind die übliche Aufbewahrungsfrist für steuerlich relevante Unterlagen, also Rechnungen undsoweiter, plus wahrscheinlich ein Jahr als Reserve. Die roten Dinger an den Haken markieren aktuelle Woche, Quartal und Jahr.« 

Maja schaute auf den Kalender, dann auf das Schränkchen und mit Mathias’ Erläuterung konnte sie tatsächlich die Vorgehensweise der Datensicherung halbwegs nachvollziehen.

»Die USB-Sticks werden dann zur Datensicherung in diesen so genannten ›USB-Hub‹ gesteckt«, erklärte er und zeigte auf das Gerät mit den vielen USB-Anschlüssen. »Den Rest macht dann wohl irgendeine Software.« 

Er ergänzte, dass es sich bei den Haken mit den Buchstaben voraussichtlich um Informationen über die vier Opfer Johanna, Paulina, Georgia und Ricarda handeln könnte.

Eine Zeichenfolge tauchte immer öfter auf: RHAT.

»Ratte?«, fragte Mathias.

Maja entgegnete: »Heißt der Mann aus ›Vom Winde verweht‹ nicht Rhett?« 

Er reagierte nicht auf die Gegenfrage und betrachtete die Spiegelung der USB-Stick-Reihe in einer Glastür der neben dem Schreibtisch stehenden Schrankwand.

»Na klar: Kyrillisch!«, rief er unvermittelt und zeigte auf die Glastür.

Maja erschrak und schaute ihn verständnislos an.

»Jetzt spinnen wir einmal etwas herum und dann erhalten wir, wenn wir das ›RHAT‹ spiegeln und uns dann noch kyrillische Großbuchstaben vorstellen, also das kyrillische ›H‹ steht für das lateinische ›N‹ und das komische umgedrehte ›R‹ steht für ›Ja‹…« 

Er macht eine Pause und Maja schaute ihn noch verständnisloser an.

»Tanja in kyrillischer Schreibweise!« 

»Tanja, wie die Tochter? Manchmal ist mit es etwas zu viel mit deinem um-die-Ecke-Denken, da komme ich nicht mehr mit«, meinte Maja.

Nach einigem Suchen fanden sich dann noch ein paar handschriftliche Notizen.

Tanjas Vater – oder Mutter, Maja war sich da nicht mehr ganz so sicher – hatte wirklich alles über sie festgehalten, wo sie wohnten, welche Schulwege sie nahmen, welche Freundinnen sie hatten, wo ihre Verwandten wohnten und welchen Hobbys sie nachgingen. Einen festen Freund hatten alle darüber hinaus allerdings nicht. Das Ganze war nahezu mit nachrichtendienstlicher Akribie zusammengetragen worden. Mathias hatte zwar für die Autorennen auch viel recherchiert, aber dies hier sah noch eine Stufe professioneller aus.

Mathias schaute auf seine Armbanduhr. Der Countdown lief unerbittlich weiter.

An einer Pinwand hingen Entwürfe für Kleinanzeigen mit dem Titel Kaufe Ihre alten und defekten Spielzeugautos. Beim Grillfest hatte der Kollege Mathias einen bestens bestückten Hobbykeller mit einer semiprofessionellen Airbrush-Ausrüstung, einer Sandstrahlkammer und Ähnlichem gezeigt.

»Der Kollege baut nicht nur an echten alten Autos herum, sondern er wandelt kaputte Spielzeugautos in herzallerliebste kleine bunte ›Stock-Cars‹, ›Bangers‹ – oder wie immer man die nennt – um«, erläuterte Mathias. »Die Fans fahren voll d’rauf ab, ich habe mir ’mal den Kommentarbereich auf seiner Website angeschaut.« 

Maja schaute den Karton neben dem Kopierer durch. Er enthielt einen Stapel Papier, welches sich als Arztrechnungen sowie Schriftwechsel mit Krankenkassen, Kliniken und Rechtsanwaltskanzleien entpuppte. Offensichtlich war Tanjas Mutter seit dem Suizid ihrer Tochter kontinuierlich in psychotherapeutischer Behandlung gewesen. Die Krankenkassen – das Ehepaar hatte zwischenzeitlich die Kasse gewechselt – waren allerdings ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr bereit, die Therapiekosten zu übernehmen, was schlussendlich in diversen zähen Rechtsstreitigkeiten mündete.

Es stellte sich heraus, dass die Mutter mit der Bezeichnung ›RHAT‹ wirre Drohbriefe im Namen ihrer verstorbenen Tochter an die Opfer abgelegt hatte. Soweit Maja sich erinnern konnte, war kein einziger dieser Briefe jemals bei ihrer Familie aufgetaucht – oder ihre Eltern hatten diesen Brief vor ihr verheimlicht.

Mathias entdeckte dann einen Vertrag der Mutter mit einem Fitness-Center.

»Soso, Muckibude für die Dame. Daher hatte sie wohl die Kraft, die Mädchen tragen zu können.« 

Maja bemerkte ein leichtes Summen und ging wieder hinaus in den Flur. Sie folgte dem Summen und bemerkte immer mehr Fliegen, die in Richtung eines Zimmers flogen. Je näher sie dem Zimmer kam, desto stärker wurde der Gestank.

»Matzeee!«, brüllte sie.

Sofort reagierte er auf ihr vereinbartes Alarmzeichen und folgte ihr bis zu dem Zimmer, das sich als Schlafzimmer entpuppte. Mathias schaute vorsichtig in das Zimmer. Dort lag der Kollege noch mit einem langen Küchenmesser im Rücken auf dem Boden. Maja sackte leicht zusammen, so dass er sie gerade noch auffangen konnte.

Mathias folgte einer immer stärker aussehenden Blutspur, die durch eine Verbindungstür in ein Nachbarzimmer führte. Dort lag die ebenfalls leblose Ehefrau des Kollegen in einer großen Blutlache.

»Die haben sich wohl gegenseitig umgelegt, kein Verlust«, stellte Maja fest.

Mathias wechselte das Thema und fragte: »Aber wieso werden jetzt Mädchen umgebracht, die im gleichen Alter wie damals ihre Tochter sind? Warum machen sie nicht die damaligen Klassenkameradinnen – die ja jetzt zehn Jahre älter sind – ausfindig, wozu sie ja die Mittel hätten, und bringen die wahren Mobber und nicht irgendwelche Stellvertreter um?« 

Maja meinte, sie sei wohl zum Zeitpunkt des Todes ihrer Tochter sozusagen »stehen geblieben«, auf was auch beispielsweise das noch vollständig eingerichtete Kinderzimmer hinweisen könnte. Sie würden daher immer noch gleichaltrige Mädchen als die Hauptverantwortlichen ansehen und dementsprechend ihre Rache auf diese beziehen.

»Sollen wir jetzt die Polizei rufen?« 

»Nein, nicht von hier aus! Lass’ uns hier erst verschwinden!« 

»Wir schauen aber noch vorher kurz im Schuppen nach, in der er an seinen Autos im Maßstab eins zu eins herumbastelt. Irgendwo muss Ricarda ja sein.« 

Vor den Schuppen parkte der Geländewagen, aber dieser war leer. Ein ebenfalls leerer Autotransportanhänger stand auf dem Rasen daneben.

Auch die Tür des Schuppens war unverschlossen und so gingen beide vorsichtig hinein.

Der Schuppen war im Prinzip eine große Dreifachgarage mit einer Arbeitsgrube und einem kleinen Nebenraum. Sie begannen, den Schuppen zu durchsuchen. Mit einer großen Plane war ein Fahrzeug abgedeckt. Mathias hob die Plane ein wenig an und er erkannte das NSU-Emblem. Als er die Plane weiter anhob, sah er, dass dem Ro 80 die Motorhaube und auch der Motor fehlte. Neben dem Ro 80 stand ein verbeulter Unfallwagen mit einem schweren Heckschaden und teilweise eingedrücktem Dach, der unschwer als Mazda RX-8 identifizierbar war. An dem Mazda war der Motor teilweise demontiert und die Teile lagen fein säuberlich aufgereiht auf einem kleinen Tisch.

»Der Kollege hat mir erzählt, dass er den Wankelmotor aus dem Mazda in den Ro 80 verpflanzen möchte«, erläuterte Mathias. »Da der Ro 80 an schweren Motorschäden krankt, ist dieser Gedanke gar nicht mal so schlecht. So hat man wenigstens wieder einen ordentlichen und modernen Wankelmotor. Ich weiß aber gar nicht, ob das von den Maßen und den Anschlüssen überhaupt passen wird. Und das H-Kennzeichen kann man dann eigentlich auch vergessen, da nichts mehr original ist.« 

An der gegenüberliegenden Wand lag noch eine große Plane und sie vermuteten, dass mit dieser normalerweise noch ein Auto – wohl der Austin, den der Kollege Mathias am Grillfest gezeigt hatte – abgedeckt wurde. Ansonsten brachte die Durchsuchung des »Garagenteils« keine weiteren Ergebnisse und sie wandten sich dem Nebenraum zu. Dieser war als Werkstatt eingerichtet und auf Regalen lagen Werkzeuge und sehr viele Autoteile. Mathias nahm einen Schraubenschlüssel in die Hand und erklärte Maja anhand der Beschriftung, dass es sich um spezielles Werkzeug mit zölligen Maßen handelte, die man als Besitzer eines alten britischen Rennwagens zwingend benötigen würde.

Maja stöhnte plötzlich auf und wurde bleich im Gesicht. Sie hatte eine auf einem kleinen Schrank stehende Kühltasche geöffnet. Dieser entströmte jetzt ein bestialischer Geruch. Da die Tasche wohl offensichtlich gut schloss, hatten sie diesen Geruch bisher nicht bemerkt. Mathias legte das Werkzeug beiseite, lief zu Maja und sah in die Kühltasche. In dieser lagen Zehen, teilweise noch mit Nagellack versehen. Die Täterin war definitiv hier gewesen. Vielleicht hatte sie die Mädchen hier gefoltert und auch umgebracht, wahrscheinlich mit ihrem Ehemann zusammen. Wieso aber hat die Täterin – und sie waren sich jetzt sehr sicher, dass es sich um die Ehefrau des Kollegen handeln musste – die Zehen nicht weggeworfen? Sammelte sie etwa Trophäen?

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er hinter sich ein gurgelndes Geräusch hörte und drehte sich erschreckt um.

»Maja?« 

Sie hatte beide Hände vor den Mund gepresst und lief nach draußen. Sie war immerhin schlau genug, um den Tatort – und es war einer – nicht unnötig zu kontaminieren. Daher rannte sie durch das Tor und erbrach sich auf der anderen Seite eines an das Grundstück anschließenden Feldwegs zwischen den in geraden Reihen angepflanzten Maispflanzen. Dann sackten ihr die Knie weg und sie klammerte sich im Fallen an zwei Maisstängel, so dass sie die Pflanzen umriss.

Mathias lief zu Maja, beugte sich über sie und versuchte, sie wieder aufzurichten.

»Geht’s wieder?«, fragte er, als sie dann auf einem großen Stein am Feldwegrand saß und recht blass um die Nase war.

Sie nickte leicht.

Er setzte sich neben sie auf den Stein und nahm ihre Hand.

»Drei«, sagte sie plötzlich und ließ ihn wieder los.

»Wie bitte? Drei?«, fragte er verständnislos.

»Mathias, drei Fenster auf dieser Seite, drei Fenster in dem Teil, wo die Autos stehen«, sagte sie hektisch und zeigte auf den Schuppen. »Aber ich habe innen nur zwei Fenster im Nebenraum gesehen. Ja, ich weiß, da war keine Tür. Von hier aus erkenne ich aber drei Fenster. Wir haben da nicht weiter nachgesehen. Als ich die Zehen gefunden hatte, ging das wohl irgendwie unter.« 

Er schaute nun ebenfalls Richtung Schuppen.

»Du hast recht, da ist tatsächlich noch ein Raum!« 

Mit der Aussicht, das Mädchen vielleicht doch noch finden zu können, vielleicht sogar lebend, ging es Maja schlagartig besser. Sie stand wieder auf und ging in Richtung des Schuppens.

Ein Regal, auf dem diverse Scheinwerfer, Blinkleuchten und Rückspiegel lagerten, hatte an einer Seite ein Scharnier. Diese Tür war ihm bei ihrer Durchsuchung des Schuppens nicht aufgefallen, wahrscheinlich auch bedingt durch Majas Würgeanfall. Mathias drehte das Regal zur Seite und es öffnete sich ein Durchgang zu einem weiteren kleinen Raum. Sie bewegten sich vorsichtig in den Raum hinein.

Die Luft war abgestanden und es war dunkel. Mathias riss eine an das Fenster genagelte speckige braune Wolldecke herunter, so dass jetzt etwas Licht in den Raum fiel. Dann sahen sie das Feldbett, auf dem ein junges Mädchen lag. Sie hatte ein schmutziges Gesicht und zottelige, ungewaschene Haare, die ins Gesicht hingen. Maja war sich nicht sicher, ob es tatsächlich das vierte Opfer war. Sie sah etwas anders aus, als auf den Bildern, die sie von den Eltern bekommen hatten. Maja hob die Decke, die das Mädchen bedeckte, am Fußende etwas hoch. Ein Fuß war in einen blutigen Lappen gehüllt. Das war allerdings eindeutig.

Maja fühlte mit zwei Fingern den Puls an der Halsschlagader des Mädchens. Er war zwar nur schwach fühlbar, aber vorhanden. Sie lebte also noch.

»Bist du Ricarda?«, fragte Maja das Mädchen, welches jetzt die Augen leicht geöffnet hatte.

»J-jaah«, stammelte das völlig entkräftete Mädchen und schaute Maja an. »W-wer bist du…?« 

»Ich heiße Maja Fischer und bin die Schwester des ersten Opfers. Du bist jetzt in Sicherheit.« 

Ricarda schloss die Augen und sackte wieder in sich zusammen.

»Nein, nein, nein! Du bleibst bei uns, du gehst jetzt nicht weg! Nicht jetzt. Hast du gehört? Nicht jetzt!«, rief Maja.

Er holte sein Mobiltelefon aus der Tasche, schaltete es ein und rief den Notarzt.

»Bienchen, verschwinde jetzt! Ich kann meine Anwesenheit hier bei der Polente noch gerade so erklärungsmäßig hindrehen, aber du…« 

Maja versuchte zu widersprechen, obwohl Mathias mit dem Codewort Bienchen schon recht deutlich wurde, aber er unterbrach sie gleich wieder.

»Komm’, Bienchen, auf geht’s! Nur zu deinem Besten! Raus! Weg! Pronto! Und lauf’ hinten ’rum über den Feldweg!« 

»Aber die Kleine…?« 

»Der Notarzt ist in zehn Minuten da, die wird sie auch noch durchhalten!« 

Sehr zögerlich ließ Maja Ricardas Hand los und machte sich auf den Weg. Auf dem Feldweg kam sie noch einmal an der Stelle vorbei, an der sie sich in das Maisfeld erbrochen hatte. Sie musste an die Schachtel mit den Zehen denken und ihr wurde wieder übel. Schon bald hörte sie in der Ferne ein sich schnell näherndes Martinshorn.

Sie lief eine Weile den Feldweg geradeaus, um dann über die Hauptstraße wieder in einem großen Bogen zum Ort des Geschehens zurückzukehren.

Im Schuppen hatte der mittlerweile eingetroffene Notarzt an beiden Armen des Mädchens Venenzugänge gelegt, um durch Infusionen dessen erheblichen Flüssigkeitsverlust schnellstmöglich ausgleichen zu können. Er stellte fest, dass sie unverzüglich in eine Klinik musste, da der Fuß mit den abgetrennten Zehen sich entzündet hatte und stark angeschwollen war. Hier vor Ort im staubigen Schuppen konnte er nicht präzise bestimmen, um welche Art von Infektion es sich handelte. In einer Klinik war jedoch die entsprechende Ausrüstung vorhanden und so beauftragte er seinen Rettungsassistenten, sich nach einem geeigneten Landeplatz für einen Rettungshubschrauber umzusehen. Die umliegenden Felder waren alle mit Mais, Getreide oder Anderem bewachsen und die Rasenflächen um das Haus oder die Nachbarhäuser herum waren zu klein, als dass dort ein Hubschrauber gefahrlos landen könnte.

Die Kriminalpolizei und das LKA trafen ein. Mathias erzählte den Beamten seine zurechtgelegte Geschichte, dass der Kollege ein paar Tage nicht zur Arbeit erschienen war, die Tür zum Schuppen offen stand, er nachgesehen und Mädchen gefunden hatte.

Da die Tür zum Nebenraum für die Fahrtrage des Rettungswagens zu schmal war, mussten drei Polizisten und der Notfallsanitäter das Mädchen langsam und gleichmäßig anheben, durch die Tür tragen und dann vorsichtig auf die Trage legen. Bei jeder Bewegung wimmerte sie leise, was Mathias als ein Zeichen wertete, dass sie noch am Leben war. Der Notfallsanitäter hatte den Kunststoffbeutel der Kochsalzlösung einfach zwischen seine Zähne geklemmt, um so beide Hände frei zu haben. Ein Polizist machte es ihm nach.

Ein Beamter der Verkehrspolizei setzte sich ins Auto, schaltete das Blaulicht ein und fuhr halb auf dem Rasen und halb auf dem Plattenweg neben dem Haus langsam in Richtung der Hauptstraße. Diese war direkt vor dem Haus breit genug und es waren keine störenden Bäume, Stromleitungen oder Lichtmasten im Weg. Er stellte sein Fahrzeug quer auf der Straße ab, stieg aus, zog sich eine leuchtend gelbe Warnweste mit der Aufschrift POLIZEI über und gab der Hubschrauberbesatzung den Landeplatz bekannt. Gleichzeitig informierte er die Leitstelle, um einen Streifenwagen zu Ricardas Eltern zu beordern, der sie zum Landeplatz bringen sollte.

Er öffnete den Kofferraum und nahm zwei große rot-weiß gestreifte Pylone sowie eine Rolle ebenfalls rot-weiß gestreiftes Kunststoff-Flatterband mit der Aufschrift Polizeiabsperrung heraus. Auf der Straße näherte sich zufälligerweise ein Abschleppwagen und der Polizist ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, um ihn anzuhalten. Nachdem er dem Fahrer zu verstehen gegeben hatte, dass die Straße für die Landung des Hubschraubers abgesperrt werden musste, stellte dieser sein Fahrzeug ebenfalls quer und schaltete die gelben Blinklichter ein. Der Polizist nahm das Flatterband, rollte einige Zentimeter ab und verknotete das Ende mit einem Holm der Außenspiegelbefestigung des Abschleppwagens. Nun ging er quer über die Straße, rollte das Band weiter ab, trennte mit den Zähnen das Band und band das jetzt lose andere Ende an einem Gartenzaunpfosten fest.

»Der Landeplatz ist nicht zu übersehen«, meldete er dem Hubschrauber. »Haltet Ausschau nach einem gelben Abschleppwagen!« 

Die Beamten glaubten Mathias’ Geschichte und entließen ihn wieder.

Ein wenig später näherte sich ein Streifenwagen mit hoher Geschwindigkeit dem Haus von Ricardas Familie, um hart abzubremsen und halb auf dem Gehweg stehenzubleiben. Ein uniformierter Polizeibeamter stieg aus und ging mit schnellen Schritten zur Haustür. Noch ehe er auf den Klingelknopf drücken konnte, öffnete sich die Tür und Ricardas Mutter steckte ihren Kopf heraus.

Der Polizist lächelte und sagte: »Wir haben sie gefunden!« 

Ricardas Mutter riss Augen und Mund auf, drehte sich um und rief nach ihrem Ehemann. Der Polizist bat sie, mitzukommen, die Mutter griff nach ihrer Handtasche und der Vater nach seiner Jacke. Als sie zum Streifenwagen gingen, bog Ricardas Schwester auf ihrem Fahrrad in die Hofeinfahrt ein. Sie sah ihre Eltern und den Polizisten, sprang vom Fahrrad und ließ es achtlos in einen Busch fallen. Das Lächeln ihrer Mutter und ihres Vaters ließ sie einen spitzen Schrei ausstoßen. Gemeinsam bestiegen sie das Polizeifahrzeug. Der Polizist aktivierte das Martinshorn und beschleunigte stark. Während der Fahrt löcherten alle den Polizisten mit Fragen, aber dieser wusste auch nicht mehr, als dass Ricarda gefunden worden war und mit einem Hubschrauber in ein Krankenhaus geflogen werden sollte.

Währenddessen hatten sich auf beiden Seiten der Straße am abgesperrten Hubschrauberlandeplatz schon kleinere Stauungen gebildet und auch einige Schaulustige hatten sich eingefunden. Als der Polizist den Umstehenden erläutert hatte, dass sie das verschwundene Mädchen gefunden hätten und deswegen bald an dieser Stelle der Rettungshubschrauber landen müsste, beruhigten sich die Gemüter einiger im Stau stehender Autofahrer wieder. Einige von ihnen halfen dann sogar mit, die Landeplatzabsperrung mit dem Polizeiabsperrung-Flatterband zu vervollständigen.

Nachdem das letzte Flatterband befestigt war, näherte sich aus der Grundstückseinfahrt auch schon der Rettungswagen, um das Mädchen zum Hubschrauber zu bringen. Der Rettungswagen bog in langsamer Fahrt in die Straße ein und fuhr dann rückwärts bis an die Absperrung heran. Die hinteren Türen waren für die kurze Wegstrecke offengelassen worden. Der LKA-Beamte, der Mathias befragt hatte, stand auf der Heckplattform und hielt sich an einem Griff fest, während der Notarzt über die Patientin gebeugt war und den Sitz der Infusionszugänge überprüfte. Der Notfallsanitäter stieg aus, um die Fahrtrage wieder auszuladen. Er war vollkommen irritiert, als sie von den umstehenden Schaulustigen mit Applaus empfangen wurden. Mehrere Schaulustige hielten ihre Smartphones in die Höhe, um die Szene zu filmen – und so würden bald die ersten Videos auf den einschlägigen Internetplattformen auftauchen.

Auch Maja hatte sich hinter der Absperrung eingefunden. Mathias kletterte unter der Absperrung hindurch, die ein Polizist für ihn hoch hielt. Er zwinkerte Maja zu, als er an ihr vorbeiging, stellte sich aber nicht direkt neben sie.

Maja schaute nach oben, da sie das immer lauter werdende Knattern eines Hubschraubers hörte. Dieses wurde aber bald von einem anderen Geräusch übertönt. Ein Streifenwagen kam in schneller Fahrt auf der linken Fahrspur am Stau vorbei und hielt an der Absperrung an. Die Türen öffneten sich, noch ehe das Fahrzeug vollständig zum Stillstand gekommen war. Maja sah, wie Ricardas Familie sich auf die Trage stürzte und hörte die lauten Ermahnungen des Notarztes, nicht so stürmisch zu sein, da das Mädchen sehr schwach sei.

Das Rotorengeräusch wurde immer stärker und bald darauf setzte der Rettungshubschrauber zur Landung an. Sand, Staub, eine leere Papiertüte eines Fastfood-Restaurants und ein Kaffee-Pappbecher wurden wie in einem kleinen Tornado umhergewirbelt. Das Flatterband knatterte im Wind.

Auch Maja bekam nun Tränen in ihre Augen und sie war sich nicht sicher, ob es tatsächlich nur vom aufgewirbelten Staub herrührte.

Lediglich ein Familienmitglied konnte im Hubschrauber mitfliegen und so einigte sich die Familie recht schnell auf den Vater, da Mutter und Schwester Flugangst hatten.

Ein Polizist und Ricardas Vater mussten die sich widersetzende Mutter von der Trage mit mehr oder weniger sanfter Gewalt entfernen, damit ihre Tochter in den Hubschrauber eingeladen werden konnte. Ricardas Mutter wurde in die Obhut von eines gerade eingetroffenen Notfallseelsorgers übergeben. Ricardas Vater nahm anschließend in der Pilotenkanzel Platz, setzte die Kopfhörer auf und wurde vom Piloten kurz instruiert. Als der Pilot die Turbine startete und die Rotorblätter sich langsam zu drehen begannen, schaute der Vater Maja an und nickte leicht. Sie nickte ebenfalls.

Der Notfallsanitäter schloss alle Türen des Hubschraubers. Der Rotor drehte sich immer schneller, so dass er in geduckter Haltung zum Rettungswagen zurück gehen musste. Wieder wurde Staub aufgewirbelt und mit einem starken Windstoß hob der Hubschrauber von der Straße ab.

Mathias’ Armbanduhr piepste. Der Countdown war abgelaufen.

Alle schauten dem Hubschrauber nach, als er Richtung Süden davonflog und immer kleiner wurde, bis er schließlich hinter hohen Bäumen aus dem Sichtfeld verschwand.

© TOPCTEH