Kapitel 3
Georgia

Nachdem der Mann mehr oder weniger zwangsweise in den Vorruhestand verabschiedet wurde, begann ihm langsam, aber sicher, die Decke auf den Kopf zu fallen – obwohl er dies gegenüber seiner Frau natürlich nie so zugeben würde. Sie hatte ihn aber dennoch durchschaut und hatte ihn gezwungen, sich ein Hobby zu suchen oder ein Haustier zu kaufen. Letzteres hatte sie eigentlich nur im Spaß gesagt. Umso erstaunter war sie, als er eines Tages mit einem kleinen Welpen im Arm nach Hause kam. Direkt vom Züchter hatte er ihn nicht kaufen wollen, und so hatte er sich im Tierheim Buchthausen aus der Welpengruppe den frechsten Kerl herausgesucht.

Seiner Ansicht nach war der Hundekauf ein voller Erfolg und sozusagen als eine »Win-Win-Win-Win-Win-Situation« anzusehen. Erstens hatte seine Frau Ruhe gegeben. Zweitens hatte das Tierheim einen kleinen Rüden in gute Hände abgeben können. Drittens hatte er festgestellt, dass ihm tatsächlich nicht mehr so langweilig war. Viertens hatte er durch lange Spaziergänge mit dem Hund begonnen, ein wenig abzunehmen. Und fünftens schien so ein kleiner Hund wirklich ein Frauenmagnet zu sein, da er mit den hübschesten Hundebesitzerinnen plötzlich ins Gespräch kam.

Er konnte eigentlich recht zufrieden sein, wenn der kleine Welpe nicht auch nachts alle zwei Stunden sein Geschäft verrichten musste. Er war wie ein menschliches Kind, nur dass er eben nicht in die Windeln machte, sondern in den Garten.

Drei Uhr achtundvierzig. Aus dem Erdgeschoss hörte man ein flehendes Winseln, also stand er auf, zog seinen Morgenmantel über und ging die Treppe hinunter. Er durchquerte die Küche und öffnete die Terrassentür, vor der der Hund schon wedelnd wartete. Der Hund lief bellend in den hinteren Teil des Gartens zu den hohen Bäumen an der Grenze zum Nachbargrundstück.

»Das hat mir gerade noch gefehlt, dass der Kleine jetzt mitten in der Nacht die Nachbarn aufweckt«, sagte er leise grummelnd.

Er griff sich eine auf dem Küchentisch liegende große Taschenlampe und ging ebenfalls hinaus. Er sah, wie der Hund einen hohen Baum anbellte, und richtete den Lichtstrahl der Lampe auf diesen Baum. Am Baum hing etwas, was bei dem letzten Gartenbesuch des Hundes noch nicht da gewesen war. Er ging mit langsamen Schritten über den Rasen, näherte sich dem Baum und leuchtete in die Krone. Der Hund tänzelte um den Baum herum und bellte immer noch mit seiner durchdringenden hohen Welpenstimme. Der Körper stellte sich als recht junges Mädchen heraus, vielleicht im Teenageralter.

Der Mann erschrak. Es waren zweifelsfrei die Umrisse eines menschlichen Körpers zu sehen. Ein Nachbar öffnete ein Fenster und brüllte, dass der »Drecksköter« doch zu dieser nachtschlafenden Zeit sich still zu verhalten hatte. Der Mann rief seinem Nachbarn zu, er solle selbst nachsehen und dann die Polizei rufen.

Er packte den immer noch bellenden Hund am Halsband, so dass dieser nur noch ein Röcheln von sich gab, und zog diesen wieder ins Haus zurück. Nachdem er den Hund in der Küche eingesperrt hatte, begab er sich durch die Haustür zum Nachbarhaus. Er sah, dass dort Licht brannte, daher drückte er auf den Klingelknopf. Der Nachbar öffnete die Tür. Er hatte einen roten Kopf vor Aufregung.

Der Nachbar meinte: »Unglaublich! Ich habe auch noch ’mal nachgesehen: Im Baum hängt tatsächlich ein totes Mädchen! Hier! Bei uns! Ich habe schon die Polizei verständigt. Da haben Sie sich ja einen aufmerksamen kleinen Wachhund zugelegt! Das mit dem ›Drecksköter‹ nehme ich natürlich gleich zurück.« 

»Entschuldigung angenommen. Ist das wieder so ein Schulmädchen?« 

»Das kann man im Dunkeln nicht erkennen. Genau nachsehen möchte ich aber auch nicht.« 

Schon bald traf die Polizei ein. Es war nun die dritte Nacht innerhalb weniger Wochen, in der Teile von Buchthausen nicht schlafen konnten, weil wieder ein totes junges Mädchen in ihrer Nachbarschaft aufgefunden wurde. Langsam begann die Nachricht in den Social Media zu kursieren.

Als Mathias am nächsten Morgen aufwachte, lag Maja nicht mehr neben ihm im Bett. Er stand auf und kletterte die Wendeltreppe herunter, um in der Küche, im Wohnzimmer, auf dem Balkon und im Badezimmer nachzusehen. Maja war nirgends zu sehen und hatte sich wohl aus dem Staub gemacht. So weit, so schlecht. Und es hatte für ihn doch so gut in dieser Beziehung begonnen… 

»Klasse, ganz klasse«, grummelte er. »Nicht ’mal ’was gesagt, keinen Zettel geschrieben, gar nix. Mädchen, jetzt kannste deinen Mörder auch alleine suchen.« 

Mathias wollte gerade in die Küche gehen, um »sich irgendein Frustgetränk einzuverleiben«, wie er es zu nennen pflegte, da hörte er, wie ein Schlüssel ins Wohnungstürschloss gesteckt und umgedreht wurde.

Maja trat mit einer leise knisternden Bäckertüte in der Hand in die Wohnung. Sie sah den verdutzt dreinschauenden Mathias an.

»Oh nein. Hast du etwa gedacht, dass ich mich heimlich verdrückt habe?« 

»Ja, ich wollte dich schon zum Teufel wünschen.« 

»Es tut mir leid. Nächstes Mal mache ich es weniger heimlich.« 

Sie küsste ihn.

»Ich weiß nicht, was du bevorzugst«, sagte sie und öffnete die Tüte, »also habe ich ’mal verschiedene Sorten genommen.« 

Schnell war das Frühstück vorbereitet. Mathias genoss es, mit dem Mädchen zusammen zu sein und er fand, dass sie sich auch bei dieser gemeinsamen Mahlzeit noch näher kamen.

Nach dem Frühstück ging Maja ins Badezimmer und Mathias schaltete den Notebookrechner ein, um Sisu nach dem Neuesten sehen zu lassen. Schon bald musste er feststellen, dass die Nachricht von einem neuen Opfer kursierte, wieder war es ein dreizehnjähriges Mädchen. Sehr schnell war auch wieder der Vorname bekannt geworden, nämlich Georgia. Eine Meldung der Kriminalpolizei gab dem Ganzen dann einen offiziellen Anstrich.

»Biencheeen!«, brüllte Mathias daher in Richtung des Badezimmers.

Sie hatte ihr vereinbartes Notsignal nicht vergessen und kam noch mit etwas Zahnpasta in den Mundwinkeln in das Wohnzimmer gerannt.

»Alarm?«, fragte sie.

»Mit allem und scharf! Roter Alarm, Mister Worf! Drittes Opfer! Offiziell schon bestätigt! Georgia heißt sie dieses Mal.« 

Maja wurde wieder sehr blass und atmete schwer.

»Setz’ dich hin, es wird noch schlimmer!« 

Sie setzte sich zu ihm auf das Sofa.

»Ich kann mir aber so gar nicht vorstellen, was jetzt noch schlimmer sein könnte.« 

»Doch, dieses Mal wurde noch eine weitere Stufe gezündet. Sisu hat wieder im Internet geschaut, ob die Begriffe ›Buchthausen‹, ›Teenager‹, ›vier Zehen‹ undsoweiter in Kombination auf diversen lokalen und überregionalen Nachrichtenseiten, Webforen, Blogs, sozialen Netzwerken und anderen derartigen Seiten zusammen verwendet werden.« 

Maja schaute aufmerksam auf den Bildschirm und betrachtete die Liste mit Sisus Suchergebnissen.

»Die Liste sieht lang aus. Dieses Mal ist wohl wirklich etwas dazugekommen«, stellte sie dann fest.

»Siehst du auch, was?« 

»Oh nein. Etwa die vier Zehen?« 

»Ja. Das mit den vier Zehen verbreitet sich jetzt nämlich rasend schnell!«, rief Mathias. »Eindeutig ein Wurst-Käs’-Szenario!« 

»Das heißt doch ›Worst-Case-Szenario‹!«, stellte Maja fest

»Nein, Nein!«, entgegnete Mathias. »Es gibt ja belegte Brötchen mit gleichzeitig Wurst und Käse zu kaufen. Das sieht man manchmal nicht auf den ersten Blick und das ist für meine Vegetarierkollegen dann immer ganz schlimm, eben ein ›Wurst-Käs’-Szenario‹. Bei uns in der IT hat sich dieser Begriff mittlerweile fest etabliert.« 

»Du bist ein Spinner, aber ein süßer Spinner«, meinte sie und küsste ihn. »Die Kripo würde doch so eine wichtige Information, die nur der "Täter kennen kann, nicht freiwillig herausrücken. Woher kommt es also?« 

Er fragte: »Da bleiben übrig: Angehörige?« 

»Kann ich mir nicht vorstellen, meine Familie und ich halten ja auch dicht. Und du wohl auch.« 

»Warum sollte ich so etwas weitererzählen? Was haben wir noch: Nachbarn, Freunde, Bekannte?« 

»Denen würden wir das mit den vier Zehen erst recht nicht erzählen!« 

»Rettungsdienst, Notarzt, Feuerwehr?« 

»Da gibt es wahrscheinlich eine Art Schweigepflicht. Außerdem hat die Kripo eine Nachrichtensperre verhängt, das weiß ich von meinen Eltern.« 

»Also bleibt übrig…« 

»Täter – und Komplize oder Komplizen«, stellte Maja fest.

»Aber warum sollte der Täter diese Information preisgeben?« 

»Gute Frage. Ich glaube, wir brauchen jetzt etwas Glück, um es herauszubekommen.« 

Mathias stand auf und meinte: »Da habe ich genau das Richtige!« 

Sie schaute ihn fragend an, als er den Abstellraum öffnete.

Mathias kam zurück und holte aus einer großen Plastiktüte einen Gegenstand heraus, der wie eine grüne Fußmatte aussah. Bei näherer Betrachtung stellte sich der Gegenstand als ein Stück Kunstrasen heraus, auf dem zwei weiße Linien zu sehen waren. Er steckte noch eine kleine Fahne an die Stelle, an der die beiden Linien eine rechten Winkel bildeten. Das ganze Objekt erinnerte sehr stark an eine ganz bestimmte Stelle eines Fußballplatzes.

Maja dachte an Mathias’ Nachnamen und prustete los: »Das ist ja eine…«

»Jaaa, das ist meine ›Glücks-Ecke‹!«, fiel er ihr ins Wort. »Die haben mir Kollegen ’mal zu einem Jubiläum geschenkt. Erst fand ich das nicht unbedingt so prickelnd; man soll ja schließlich mit Namen keine Witze machen. Seitdem ich aber das Teil besitze, habe ich noch jedes Projekt erfolgreich abschließen können. Vielleicht hilft uns das, den Mörder deiner Schwester zu finden.« 

Maja dachte an ihre Biene-Maja-Figuren und war der Ansicht, dass man wohl seine kleinen Marotten pflegen musste, um nicht komplett durchzudrehen. Sie hatte ihre Bienen und Mathias eben seine »Glücks-Ecke«.

Sie schauten weiter im Internet nach und fanden eine Online-Pressemitteilung des LKA. Mittlerweile war eine Sonderkommission zu den getöteten Mädchen zusammengestellt worden. Im Buchthausener Rathaus war wegen verschiedener Umbaumaßnahmen in Vorfeld der Gartenschau aber kein Platz, um die Sonderkommission dort unterzubringen, so dass die Standesamtsräume in alten Eisenbahnwaggons im stillgelegten ehemaligen Lokalbahnhof zu Büros umfunktioniert worden waren. Neu war, dass jetzt auch das LKA hinzugezogen wurde. Es wurde auch eine Pressekonferenz in Buchthausen angekündigt. Der Grundtenor der Pressemitteilung war: Es gab Tote, wir untersuchen Zusammenhänge, aber das mit den Zehen wurde von irgend jemand in einem Internetforum verbreitet und ist reine Spekulation.

Mathias stellte fest: »Was sollen sie auch sonst anderes erzählen.« 

Maja nickte.

»Jetzt wird’s aber haarig: Die Behörden werden alles versuchen, diesen Fall so schnell wie möglich aufzuklären. Niemand braucht so kurz vor der Gartenschau einen in Buchthausen freilaufenden Serienkiller.« 

»Und die Presse wird jetzt erst recht überschnappen«, fügte Maja hinzu.

»Bienchen, deswegen musst du dich jetzt schleunigst anziehen und ich bringe dich nach Hause, bevor die Paparazzi anfangen, auch dort herumzulungern!« 

»Doktor Doktor Maria von Ehren, Polizeipsychologin, LKA«, las Maja vom Bildschirm ab und machte ein grimmiges Gesicht.

»Halt, was ist daran so schlimm?«, fragte Mathias. »Ich habe auch einen akademischen Grad!« 

»Und der wäre?« 

»Master of Science.« 

»Master of Science! Das klingt wie vom Zaubereiministerium vergeben«, meinte sie.

»Witzig. Sehr witzig«, maulte Mathias, der die Anspielung auf »Harry Potter« sehr wohl verstanden hatte. Er war aber froh, dass sie wieder bessere Laune zu haben schien.

Sie ging nach oben, zog sich an, kam nach ein paar Minuten herunter und trug wieder ihr schwarzes Kleid.

»Kannst du mir bitte wieder den Reißverschluss hochziehen?« 

»Klar. Schade aber, das Kleid ist zwar nicht schlecht, aber in Unterwäsche sahst du noch hübscher aus.« 

Sie gab ihm einen langen Kuss.

Auf der Fahrt kam dann das Gespräch auf die Sonderkommission.

Mathias stellte fest: »Die haben die Soko tatsächlich in den alten Waggons einquartiert. Mit einem alten Dampfzug möchte ich schon lange einmal fahren – wobei die Waggons in Buchthausen ja ohne Gleisanschluss nach außen im Lokalbahnhof stehen – aber so richtig ›Low Tech‹ ist auch einmal schön.« 

»Du als IT-Mensch bist tatsächlich der Meinung, dass Technik das Leben nicht immer leichter macht?« 

Er grinste.

»Nicht alles davon«, meinte er. »Somit bin ich durchaus einmal für ›Low Tech‹ zu haben, sozusagen als Ausgleich.« 

Er lehnte sich im Autositz zurück.

»Ich fahre jedes Jahr für drei bis vier Wochen nach Schweden, in die Nähe des Polarkreises, meine Eltern haben da ein Ferienhaus. Naja, ›Ferienhaus‹ ist eher übertrieben, das ist eher eine Blockhütte, kein Strom, kein Telefon, kein fließendes warmes und nicht wirklich fließendes kaltes Wasser. Wir hatten es mal mit Warmwasser-Solarkollektoren versucht, aber die waren leider nicht Schweden-frostsicher – da kann es nämlich richtig kalt werden. Dafür haben wir in der Küche einen riesigen Ofen, sozusagen einen ›Zehn-Platten-Herd‹. Der nächste Ort ist dreißig Kilometer entfernt, den nächsten brauchbaren Mobiltelefonempfang hat man auf einem Hügel nahe der Europastraße zwölf und der ist drei Kilometer entfernt.« 

»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Maja. »›Low-Tech‹ vom Feinsten!« 

»Genau. Dafür haben wir einen See ganz für uns alleine – mit so klarem Wasser, dass man sich vorkommt, man würde darin schweben. Schöne Luft, manchmal Rentiere, Elche oder anderes Getier direkt an der Hütte. Im Sommer schönste Mitternachtssonne, im Winter schönstes Nordlicht. Reinste Luft. Du siehst, ich bin nicht ›vierundzwanzig mal sieben‹ auf Technik fixiert.« 

»Da möchte ich auch einmal hin«, meinte Maja.

»Wenn das hier vorbei ist, fahre ich mit dir dort hin! Versprochen!« 

Vor Majas Haus waren zum Glück noch keine Reporter oder Paparazzi zu sehen, so dass Mathias nicht durchstarten und weiterfahren musste. Er hielt in der Hofeinfahrt an. Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen langen Kuss.

»Sehen wir uns wieder?«, fragte er.

Sie hauchte ihm ins Ohr: »Ja! Ich rufe dich nächste Woche an.« 

»In Ordnung, ich muss auch ’mal wieder ’was Richtiges arbeiten«, bestätigte er.

Wieder zu Hause angekommen, verbrachte er den ganzen restlichen Tag mit Grübeln, ob er einen Blogeintrag zum neuerlichen Leichenfund schreiben sollte. Da sich die Medien bereits aber in der Berichterstattung überschlugen, beschloss er, es nicht zu tun, weil der Blogeintrag sowieso im multimedialen Rauschen untergehen würde.

Der nächste Arbeitstag brachte die – nicht wirklich überraschende – Erkenntnis, dass der Kollege, den Mathias im Verdacht hatte, nicht an seinem Arbeitsplatz erschienen war. Später erhielt er dann eine E-Mail seines Chefs, dass sich der Kollege spontan krank gemeldet hatte. Ebenfalls nicht überraschend war, dass auch das dritte Opfer in der Datenbank vorhanden war. Mathias hatte den Fehler zwar bereinigen können, aber er hatte die Textdatei mit der Namensliste an einem Ort abgespeichert, auf den andere Kollegen keinen Zugriff besaßen.

Am Abend setzte er sich dann zu Hause an sein Notebook, um noch ein wenig über den Kollegen zu recherchieren. Was er dann heraus fand, gefiel ihm ganz und gar nicht, und der Verdacht schien sich zu bestätigen.

Nach einiger Zeit fand Sisu Pressemeldungen von einem sehr ähnlichen Todesfall aus dem Rheinland. Damals handelte es sich um einen Suizid einer dreizehnjährigen Schülerin durch Erhängen, wobei als die Ursache wohl ein lang andauerndes Mobbing innerhalb der Klasse gegen diese Schülerin feststand. Wirklich interessant war aber – und hier begann Mathias plötzlich sehr zu frösteln – das Fehlen diverser Zehenglieder des rechten Fußes dieses Mädchens (und zwar auf dieselbe Art und Weise, wie bei den Buchthausener Opfern). Als das Mädchen zehn Jahre alt war, mussten ihr die Zehen teilweise amputiert werden, da sie mit dem Fuß in eine Rolltreppe geraten war.

Mathias versuchte den Gedanken zu verdrängen, sich dies bildlich vorstellen zu wollen.

Zwei Jahre später begann in der Schule der Schwimmunterricht und ab da konnte sie ihren verkrüppelten Fuß nicht mehr vor den Mitschülern verbergen. Gerade in diesem Alter konnten Kinder sehr grausam sein. Schlussendlich hatte das Mädchen daher nur den Suizid als Ausweg gesehen, den fortwährenden Hänseleien entkommen zu können. Dann gab es noch einen Nachsatz, dass die Eltern sofort nach dem Suizid ihrer Tochter in die Nähe von Buchthausen umgezogen waren. Und Mathias fiel fast vom Stuhl, als er erfuhr, dass der Vater – Doktor der Mathematik und Spezialist in Statistik – damals in der Düsseldorfer Niederlassung eines Direktmarketingunternehmens gearbeitet hatte und sich dann hatte versetzen lassen.

Düsseldorf, Direktmarketingunternehmen, Doktor der Mathematik, wohnte jetzt in der Nähe von Buchthausen – Mathias fröstelte jetzt nicht mehr, sondern bekam Schweißausbrüche. Dies zeigte alles sehr genau auf seinen Kollegen, zu genau. War es also wirklich der Kollege gewesen? Er hatte ihn nicht als besonders soziopathisch, cholerisch oder sonstwie auffällig in Erinnerung, aber wurde so etwas nicht über alle Serientäter berichtet? Mathias konnte sich auch nicht daran erinnern, dass der Kollege einmal eine Tochter im gleichen Alter wie die jetzigen Opfer erwähnt hatte. Der Kollege hatte auch nie etwas von seiner Familie erzählt. Nur als Mathias und alle aus seinem Projektteam bei diesem Kollegen zum Grillen eingeladen waren, hatte er dessen Frau kennengelernt. Er hatte zwar gesehen, dass der Kollege an kleinen und großen Fahrzeugen herum gebastelt hatte, aber er hatte keine Kinder und auch nicht die Anzeichen von Kindern im Haus, wie herumliegendes Spielzeug oder Ähnliches, gesehen.

Nach kurzer Überlegung beschloss Mathias, Maja erst später mit den Neuigkeiten zu konfrontieren.

Als Maja am übernächsten Tag um die Mittagszeit zu ihm kam – so schnell sahen sie sich dann doch wieder –, war es wieder sehr warm und sie trug lediglich ein kurzes Sommerkleid, was ihr Mathias’ Ansicht nach ausgezeichnet stand. Sie umarmten und küssten sich ausgiebig. Er fand bei der Umarmung sehr schnell heraus, dass sie keine Unterwäsche trug. Ob es nun wegen der Wärme war oder ob sie ihn verführen wollte, konnte er jetzt noch nicht beurteilen.

Sie war sehr gespannt, was Sisu nun herausgefunden hatte, da Mathias am Telefon sehr geheimnisvoll geklungen hatte.

Er hatte für beide etwas zu Essen vorbereitet, nämlich einen großen Nudelauflauf mit Bolognesesauce.

»Ich habe natürlich nur eine anstatt, wie im Rezept angegeben, vier Knoblauchzehen genommen.« 

Maja musste kichern.

»Erstens muss ich morgen arbeiten und zweitens – vier Zehen, du weißt schon…« 

Sie schaute ihn mit großen Augen an und meinte: »Ich weiß. Ich muss auch arbeiten.« 

»Ja, im Kindergarten. Bekommt man da nicht ›Rücken‹, wenn man den ganzen Tag auf dem Boden oder auf so kleinen Stühlchen hockt?« 

»Haha, das sagt der, der den ganzen Tag vor’m Bildschirm sitzend zubringt!« 

Mathias kam sich mit ihr vor wie ein altes Ehepaar, was sich neckt. Das war keine schlechte Entwicklung, wie er fand.

Beim Essen beschrieb er ihr sehr ausführlich, was er über Düsseldorf und seinen Kollegen herausgefunden hatte.

»Aber wieso und wie kam er an die Informationen, wo meine Schwester und die anderen Mädchen zu finden waren?«, fragte sie dann.

»Da muss ich etwas weiter ausholen: Vor allem in Zeitschriften finden wir sehr viele Preisausschreiben, Gewinnspiele und Ähnliches. Im Prinzip funktioniert so etwas heutzutage natürlich auch online – gerade heute, wo jeder einen Schlaufernsprecher hat…« 

»Einen was?«, fragte Maja kichernd.

»Oh, entschuldige, ein Smartphone. Also, auch dort funktioniert es beispielsweise über Werbebanner. Und nicht jeder hat aber einen Werbeblocker, den man allerdings auch auf Schlaufernsprechern haben sollte – alleine schon aus Sicherheitsgründen.« 

»Kannst du mir so einen installieren?«, unterbrach sie ihn.

»Ja, das sollte ich tatsächlich einmal machen. Weiter im Text: Die Gewinnspiele werden natürlich nicht veranstaltet, weil die jeweiligen Firmen so große Wohltäter sind und ihre Produkte, Reisen oder was weiß ich verschenken. Nein, sie bekommen so passende zielgruppenbezogene Daten für Marktforschung, Werbung und was auch immer.« 

»›Was auch immer› wie in: ›Serienkiller‹?« 

»Genau so.« 

Er erläuterte weiter, dass das Ganze beispielsweise für Mädchen im »Pferdealter«, und darum ging es ja in ihrem Fall, ebenfalls nach so einem Muster wie in einer Zeitschrift funktionieren würde. Und es war höchst erstaunlich, welche zutiefst persönlichen – und ebenso vertraulichen – Daten dann preisgegeben werden, wenn es nur etwas zu gewinnen gab.

»Gewinne vierzehn tolle Tage auf dem Reiterhof. Lerne alles über Pferdepflege, Dressur und Springen von aktuellen Olympiasiegern. Du darfst auch deine beste Freundin mitbringen. Sende neben dem Lösungswort folgende Angaben über dich per WhatsApp an die Nummer eins-zwei-drei-vier-fünf.«, ahmte er einen einschlägigen Werbespot nach.

Er machte mit normaler Stimme weiter: »Früher ging so etwas natürlich per Postkarte, aber es war im Prinzip schon immer das Gleiche. Und so bekommen wir eine aktuelle Datengrundlage sogar von Minderjährigen. Das ist insofern außergewöhnlich, da sich deren Eltern unter normalen Umständen mit Händen und Füßen wehren würden, diese Daten einfach so preiszugeben.« 

»Oh ja, ich kann mich noch daran erinnern, wie es Ärger bei irgendeiner Schulveranstaltung gab.« 

»Und schon haben wir –« Er schnippte mit den Fingern. »– außerdem einen wunderschönen Datenbestand für Pädophile oder eben unseren Täter!«, schloss er.

»Ich verstehe. Und für Jungs dann das Gleiche mit Rittern, Autorennen oder Abenteuer«, sagte Maja. »Nur eins verstehe ich nicht: Wenn diese Daten so hoch vertraulich sind – was ich durchaus nachvollziehen kann –, wo hat unser Täter sie dann her?« 

»Das stimmt«, erläuterte Mathias, »die Daten sind natürlich höchst vertraulich und auch das Geschäftsgeheimnis zum Beispiel von Direktmarketingunternehmen. Diese Firmen betreiben schließlich einen sehr großen Aufwand, um die Daten zu erheben, zu kategorisieren, mit anderen Daten zu verknüpfen und so weiter. Und darüber schwebt die DSGVO, die Datenschutz-Grundverordnung, denn das ist hier die sogenannte ›Auftragsverarbeitung‹ für Kunden.« 

Er verzog seinen Mund.

»BND, NSA und andere Datensammel-Geheimvereine haben zwar auch alle Daten, aber da kommt man ja nicht so einfach dran – erst recht nicht als Privatperson. Aber du weißt ja, wo ich und der Kollege arbeiten…« 

Maja antwortete mit einem kurzen »Mmmm-hmmm«.

»Wenn wir also als Aufgabe haben, Daten nach bestimmten Kriterien zu extrahieren und an Kunden auf bestimmten Datenträgern oder in bestimmten Cloud-Speichern weiterzugeben, so wäre es durchaus denkbar, dass dann auch Daten sozusagen ›für den Eigenbedarf‹ abgezweigt werden könnten. Wir haben aber sehr starke Sicherheitsvorkehrungen sowie auch so genannte ›Compliance-Richtlinien‹, damit man eben die Daten nicht so einfach nach Hause tragen kann. Das Ganze nennt sich neudeutsch ›Data Leak Prevention‹. Obwohl meine Firma auch noch zusätzliche Personenkontrollen durchführt, so gibt es dagegen doch Datenträger, die immer kleiner werden. Eine ›Micro-SD‹-Speicherkarte ist nur winzige elf mal fünfzehn Millimeter groß und besitze mittlerweile mehrere Dutzend Gigabyte Speichervolumen. Nur als Textdateien ohne großen Grafikschnickschnack kann man da schon den ganzen Datenbestand der Firma unterbringen. Und diese Karte könnte man durchaus beispielsweise unter oder in einer Gürtelschnalle verbergen – oder in einem hohlen Zahn.« 

Maja war auch weiterhin sehr still und ihre Stimmung besserte sich nicht wirklich, als Mathias fortfuhr.

Er drehte ein Blatt Papier um, welches auf einem kleinen Tisch neben dem Sofa lag.

»Ich weiß nicht mehr den Filmtitel, aber es gab mal einen Film, da hatte der Täter seine Opfer so ausgesucht, dass die Stockwerke der Opferwohnungen genau die Noten zu einem Lied ergaben. Ich hatte gedacht, da wir nicht weiterkommen, um eine Gemeinsamkeit zwischen den Opfern zu ermitteln, probiere ich mal etwas Schräges aus. Der berühmte Komponist John Cage hat den Sternenhimmel auf Notenlinien gelegt, ich lege Notenlinien auf eine Landkarte.« 

Er zeigte ihr, was er auf das Papier gezeichnet hatte.

Die Straßen des neuen Industriegebiets im Osten der Oberstadt bildeten zusammen mit dem angrenzenden Wohngebiet ein nahezu rechtwinkliges Raster. Wenn man die östlichste und am Feldrand entlang führende Straße als oberste Notenlinie der üblichen fünflinigen Partitur anlegte, dann bekam man einen Bezugspunkt, von dem man ausgehen konnte. Mathias musste etwas die Notenlinienabstände vergrößern, um diese mit den Fundorten der ermordeten Mädchen in Einklang bringen zu können. Nachdem das ganze dann noch um etwa neunzig Grad gegen den Uhrzeigersinn gedreht wurde, ergab sich das Bild von drei bestimmten Noten auf der Partitur.

Auf die Frage, welches Lied es nun sei, antwortete Mathias, eine Mustererkennungssoftware hätte »She Loves You« von den Beatles ermittelt.

Die Begründung lieferte er gleich nach: »Ich hatte die Auswahl auf Beatles-Lieder eingeschränkt, was aber immer noch meine Rechner zwei Tage arbeiten ließ.« 

»Beatles?« 

Er hielt das Blatt hoch: »Fällt dir nichts an den Namen ›Johanna‹, ›Paulina‹ und ›Georgia‹ auf?« 

»Nicht wirklich. Ich glaube, ich habe komplett den Faden verloren.« 

»John. Paul. George. Und dann natürlich noch Ringo.« 

Maja schaute ihn fragend an.

»Die Beatles! Das ist zwar in keinster Weise eine von mir geschätzte Musikrichtung, aber diese Musiker kenne ich auch. Als vierter Name kommt dann irgend eine Variante der weiblichen Form von Richard in Betracht.« 

»Was hörst du den vorwiegend für eine Musik?«, wollte Maja wissen. »Diese Art Jazz neulich war ja sehr schön.« 

»Vorwiegend Deep Electronic House und Melodic Techno. Von ihrer Erzeugung an und bis sie mein Ohr erreicht, hat diese Musik kein analoges Medium durchlaufen, wenn man ein kupferbasiertes ADSL-Netz als digitales Medium mitzählt. Diese Musik ist wirklich künstlich!« 

»Ist Techno nicht immer so hartes Bumm-Bumm-Bumm?« 

Mathias lachte und antwortete: »Nein, diese Spielart nicht. Sonst würde sie ja auch nicht Melodic heißen.« 

Flugs hatte er im Internetradio Melodic Techno ausgewählt und schon bald erschien Nora En Pure, Live at Tomorrowland 2019 auf dem Display.

»Richard passt nicht«, warf Maja ein, um wieder zum Thema zu kommen. »Und ich würde dich auch nicht mit John Cage vergleichen wollen. Nette Musik übrigens, zwar ganz anders als der Jazz neulich, aber auch schön.« 

Mathias stellte fest: »Ringo Starr heißt mit bürgerlichem Namen Richard Starkey.« 

»Zum Glück sind’s nicht Dave Dee, Doozer, Micky oder Goofy oder wie die heißen«, bemerkte Maja sarkastisch.

»Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick and Tich! Habe ich extra nachgeguckt…«, korrigierte er. »Ein Problem gibt es aber dabei: Niemand gibt seiner Tochter so komische Vornamen wie Richarda, Ricarda oder so. Die beliebtesten weiblichen Vornamen für die Altersgruppe sind doch Hannah, Leonie, Sarah oder so. Das wird wohl nichts mit meiner schönen Theorie.« 

»Dass Eltern bei der Wahl des Vornamens sich Gedanken machen, würde ich jetzt bei Maja nicht unbedingt behaupten wollen«, meinte Maja, die sich noch immer mit diesem Vornamen eher »gestraft« fühlte.

Er fragte: »Also könnte an meiner Theorie was dran sein?« 

»Aber sicher! Und das muss auch wieder unter uns bleiben! Die Presse wird im Zickzack hüpfen, wenn sie Wind davon bekommt! Das mit den vier Zehen ist schon der Knaller – und nun das! Ich sehe schon die Schlagzeilen: Der Beatles-Killer von Buchthausen!« 

»Maja, du hast vollkommen Recht, wir haben zwar eine wunderschöne Theorie, können diese aber niemandem…« 

»Moment mal, gab es nicht noch den so genannten fünften Beatle?«, unterbrach sie ihn.

»Ja, aber da gibt es unterschiedliche Auffassungen, wer das nun genau ist.« 

»Also ist noch eine weitere Anzahl an Opfern zu erwarten? Und wir könnten anhand des Liedes feststellen, wo in etwa die nächste Leiche zu erwarten ist?« 

Mathias schaute sie an.

»Das auch, aber es ist noch viel schlimmer«, sagte er leise und nahm ein weiteres Blatt vom Tisch.

»Noch schlimmer? Schlimmer als dass das mit den vier Zehen oder den Beatles durch die Medien geistert?«, fragte sie.

»Ja. Wir haben auch noch einen Countdown.« 

»Einen Countdown? Wo und wie hast du den denn gefunden?« 

Mathias hob ein Heft vom Tisch auf.

»›The Beatles Complete Piano Edition‹ von 1983. Meine Mutter hat ’mal Klavier gespielt und sie wollte unbedingt, dass ich auch anfange, daher lag das Notenheft mit ein paar anderen irgendwie noch bei mir ’rum.« 

»Ich verstehe überhaupt nichts.« 

Er nahm das Notenheft vom Tisch und schlug eine bestimmte Seite auf. Er zeigte Maja, dass eine ganze Note eine gewisse Zeitspanne von ein paar Tagen darstellte, und halbe und viertel Noten dann die entsprechenden Bruchteile davon.

»Die Noten stimmen sogar fast genau mit den Daten der Vermisstenmeldungen und dem Auffinden überein – mit kleinen Differenzen, da die Mädchen nicht sofort als vermisst gemeldet wurden. Daraus ergibt sich folgende Hochrechnung für unser viertes Opfer – und ja, es gibt ein viertes Opfer! –, dass sie eigentlich jetzt schon entführt worden sein müsste. Uns bleiben wahrscheinlich nur noch ein paar Stunden, bevor sie dann tot aufgefunden wird!« 

Er zeigte Maja seine Armbanduhr.

»Ich lasse ’mal einen Countdown laufen.« 

Maja schaute ihn mit immer ängstlicherem Gesichtsausdruck an. Er nahm ihre Hand und drückte sie fest, damit sie nicht mehr so zitterte.

»Nun kennen wir zwar Fundort und ungefähren Zeitpunkt, wann sie dort auftauchen würde«, fuhr er fort, »Wir können da zwar warten, aber dann ist sie wahrscheinlich schon tot. Leider geht aus keinen Angaben der Ort hervor, an dem sie in der Zwischenzeit versteckt gehalten wird.« 

»Warum gehen wir damit nicht zur Polizei?«, fragte sie plötzlich.

Er entgegnete: »Damit ich mich etwa höchst verdächtig mache? Ich kenne mittlerweile Details, die eigentlich nur der Täter kennen kann. Und dann kommen die mit zehn Mann, legen mir Handschellen an, stellen mir die Wohnung auf den Kopf, machen dabei auch noch alles kaputt und nehmen mein ganzes Rechnerzeugs mit! Als nächstes wirft dann mein Chef mir eine Abmahnung oder gleich Kündigung auf den Tisch, wegen groben Verstößen gegen die Vertraulichkeitsvereinbarungen mit dem Kunden, gegen die DSGVO undsoweiter. Auf all’ das kann ich gerne verzichten!« 

»Das leuchtet mir ein.« 

»Und dann hängst du auch mit drin. Es sieht von außen schon komisch aus, dass wir plötzlich zusammen sind und zusammenarbeiten. Neinnein, keine Polente!« 

»Ich kann es mir denken. Die Schergen des Systems…« 

»Wie bitte?« 

»Das hat mein Opa immer gesagt, der war überzeugter Kommunist und hatte daher in den Siebziger Jahren Berufsverbot, ›Radikalenerlass‹ und so. Du hast mich überzeugt, wir gehen doch nicht zur Polizei.« 

Ihr Augen wurden feuchter und sie schaute ihm direkt in seine Augen.

»Maja, was ist los?« 

»Du, M–Mathias«, stammelte sie, »k–kann es sein, dass meine Schwester sterben musste, nur weil sie an so einem bescheuerten Online-Gewinnspiel teilgenommen hat?« 

Er nahm sie in den Arm und meinte leise: »So sieht es nach derzeitiger Faktenlage tatsächlich aus.« 

Er konnte nicht verhindern, dass sie in Tränen ausbrach.

»Typischer Fall von ›Zur falschen Zeit am falschen Ort‹, nicht wahr?«, fragte sie kaum hörbar.

»Es tut mir wirklich leid.« 

Mit weinenden weiblichen Wesen konnte er nicht wirklich umgehen, daher beschloss er, einen Ablenkungsversuch zu starten. Er nahm seinen Rechner in die Hand und zeigte ihr einen Teil der Diskussion, die sich nach seinem letzten Blogeintrag entwickelt hatte. Ein Diskussionsteilnehmer kam auf die unkooperativen Einwohner zu sprechen:

VW1303 hat geschrieben:
Die Buchthausener sind schon komisch drauf: »Mir doch egal, was in der Oberstadt passiert«, hab ich da gerade gehört, als es um die toten Mädchen ging.

Robotnik Arisa hat geschrieben:
So ein kleiner Ort und die Einwohner der verschiedenen Stadtteile können sich nicht richtig leiden?

Saga Norén, Länskrim Malmö hat geschrieben:
Ja, das ist die alte Rivalität zwischen Oberstadt und Unterstadt, so wie Köln und Düsseldorf oder Baden und Württemberg. Die Reichen oben, die Armen unten. Früher war’s noch ausgeprägter.

Teal’C hat geschrieben:
Buchthausener hier. Kann ich alles bestätigen.

Ihr Gesichtsausdruck hellte sich etwas auf.

»Meine Oma als gebürtige Buchthausenerin könnte dir da Sachen erzählen… Danke, dass du versuchst, mich ein wenig auf andere Gedanken zu bringen. Ich muss mich sowieso bei dir generell bedanken, für alles und so.« 

»Für alles und so?« 

»Du hast mir doch versprochen, mir zu helfen, den Mörder meiner Schwester zu finden – und jetzt sind wir beide wirklich schon nahe dran. Danke!« 

Sie umarmte und küsste ihn.

Sie fuhr fort: »Wenn wir schon nicht zur Polizei gehen, nehmen wir dann ›Ermittlungen auf eigene Faust auf‹, wie es immer so schön heißt? Wir können ja als Erstes zum Beispiel ’mal bei deinem Kollegen zu Hause nachsehen.« 

Mathias ging es zwar deutlich zu schnell, wie Maja hier jetzt vorpreschte, aber genau das hatte er eigentlich für den nächsten Nachmittag geplant. Nun ging er eben mit Maja zusammen dort hin, was vielleicht auch besser war, wenn es plötzlich doch gefährlich werden sollte. Falls die Polizei die gleichen Gedanken hatte und ebenfalls bei seinem Kollegen erschien, so konnte er sich immer noch damit herausreden, dort nach dem Rechten zu sehen, da der Kollege sich ja überraschend krank gemeldet hatte. Irgend eine Geschichte von Projektinformationen, die der Kollegen nirgends schriftlich hinterlassen hatte, würde ihm schon einfallen. Die Geschichte hatte sogar einen wahren Kern, denn der Kollege war dafür bekannt, alles nur äußerst dürftig zu dokumentieren, was auch schon Ärger mit Kunden eingebracht hatte. Maja kam in Mathias’ Plan zwar nicht vor, aber er würde sich auch dafür noch etwas einfallen lassen.

Vor dem Schlafengehen wollte er noch schnell Sisu starten und die Nacht hindurch laufen lassen, denn es schien nicht unwahrscheinlich, dass ein viertes Mädchen bereits verschleppt worden war.

mateck@rechenknecht ~/sisu> Sisu.py --interval 60min --timeframe 2d --socialmedia all --keywords Buchthausen verschwunden Mädchen --output CSV only_headlines

Nun hatte er für heute nur noch eine Sache zu klären.

»Bleibst du heute Nacht wieder bei mir und muss ich dir wieder einen Schlafanzug ausleihen?«, fragte er.

»Ja und nein.« 

»Ja und nein?« 

Sie stand auf und ging um den Couchtisch herum.

»Ja, ich bleibe heute Nacht hier. Und nein, ich brauche keinen Schlafanzug«, hauchte sie.

Blitzschnell schob sie die Träger ihres Kleids über ihre Schultern, ließ das Kleid an sich herunter gleiten und stand dann vollkommen unbekleidet vor ihm.

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