Kapitel 2
Paulina

Zwei Jugendliche hatten sich für ihr neuestes Werk eine Garagenwand in der Oberstadt ausgesucht und sich eigens dafür in verschiedenen Webshops frische Spraydosen beschafft. Durch den Schriftzug »Groove Gang« würde daher bald die in ihren Augen triste Wand aus grau verfugtem rotem Backstein eine optische Auffrischung erhalten. Das G sollte dabei einem Violinschlüssel nachempfunden werden und das O sollte einen fünfzackigen Stern in die Mitte eingebettet bekommen. Sie hatten sich für die Farben Silber, Gold und Hellblau entscheiden, weil sich das gut von der roten Wand abheben würde.

Wegen der anstehenden Gartenschau würde ihr Kunstwerk auch besondere Aufmerksamkeit erhalten, da die Stadtverwaltung die Stadt bis dorthin möglichst »sauber« präsentieren wollte und sich daher sofort und sehr öffentlichkeitswirksam mit der Beseitigung beschäftigen würde. Sie machten sich ans Werk und schalteten ihre Stirnleuchten ein. Als sie sich vergewissern wollten, ob sich in ihrer Umgebung niemand aufhielt, erfasste der Lichtstrahl ein merkwürdig geformtes Bündel, welches in einem Baum hing. Einer der Sprayer stellte seine Spraydose wieder ab und trat näher an den Baum heran, um das Bündel genauer zu inspizieren.

»Was guckst’n da? Mach’ weiter!«, blaffte ihn sein Partner an.

»Da hängt ’was!« 

Bei näherer Betrachtung entpuppte sich das Bündel als junges Mädchen. Beide schoben ihre Atemmasken hoch.

»Ist sie tot? Noch eine?« 

Er erinnerte sich an das Autorennen, nahm einen Zweig vom Boden auf und berührte den Körper, der sich aber nicht regte. Beide gerieten sofort in Panik, stopften hastig ihre Utensilien wieder in ihre Rucksäcke und versuchten, schleunigst das Weite zu suchen. Auf der Flucht verloren sie eine goldene Sprühdosenkappe, die unter eine Hecke rollte. Einer der Sprayer hielt inne und beugte sich herunter, um sie wieder aufzuheben.

»Lass’ liegen, wir müssen hier weg!«, wurde er von seinem Partner angeherrscht.

Sie setzen sich auf ihre in der Nähe an ein Gebüsch gelehnten Fahrräder und fuhren ohne Licht in Richtung Unterstadt, bis die Dunkelheit sie verschluckte.

Wenige Minuten später entdeckt ein durch den Lärm aufgeweckter Anwohner die Leiche und informierte gleich darauf die Polizei.

Mathias gönnte sich am nächsten Tag seine übliche computerfreie Auszeit und machte daher auch abends noch einmal seine Joggingrunde durch sein Stadtviertel und den Stadtpark, solange dieser noch nicht wegen der Umbauarbeiten zur Gartenschau gesperrt war. Als er um eine Hausecke bog, prallte er mit einer anderen Person zusammen. Urplötzlich bekam er ein äußerst starkes Brennen in den Augen. Er sah noch verschwommen, wie jemand eine kleine schmale Dose in die Tasche steckte und davon eilte. Benommen und vollkommen verwirrt schleppte er sich nach Hause und hielt erst einmal zehn Minuten lang den Kopf unter fließendes Wasser, bis das Brennen endlich aufhörte.

Was war geschehen? Ihn hatte offensichtlich eine Pfeffersprayattacke getroffen. War es Zufall oder war er irgend jemandem zu nahe getreten? Woher aber kannte dieser Jemand ihn? Er versuchte doch immer, möglichst anonym zu bleiben.

Er ging aufs Ganze und schrieb in sein Blog:

Wer immer mich vorhin im Stadtpark vollkommen überraschend mit Pfefferspray attackiert hatte, darf mir gerne eine E-Mail schreiben und sich mir offenbaren.

Denk’ ’mal darüber nach. Dein Buchtblogger.

Wiederum wurde von den Kommentarschreibern tief in die Verschwörungskerbe gehauen. Die Aufrufzähler seiner Blogseite stiegen in ungeahnte Höhen und er befürchtete, schon bald sein von seinem Bloghoster zugestandenes Kontingent für das Datenvolumen zu überschreiten und nachzahlen zu müssen. So war es eigentlich nicht gedacht gewesen, denn er hatte den Blog eher als Hobby angesehen, für das er nicht noch separat Geld aufbringen wollte.

Schon gab es die ersten Hinweise auf ein zweites totes Mädchen, aber er wurde abgelenkt, da eine E-Mail auf seiner E-Mail-Adresse einging, die er speziell für den Blog eingerichtet hatte. Diese E-Mail erregte sofort seine Aufmerksamkeit, denn als er den Absender sah, erwachte der Verschwörungstheoretiker in ihm zu vollem Leben. Seine noch immer leicht brennenden Augen und auch das zweite tote Mädchen waren erst einmal vergessen.

Eine gewisse Maja Fischer hatte ihm geschrieben und stellte sich als die Schwester von Johanna Fischer, des toten Mädchens vom Autorennen, vor. Mathias hatte zunächst erhebliche Zweifel an der Echtheit dieser Nachricht. Es schien ein außergewöhnlicher Zufall zu sein, dass ausgerechnet die Schwester des ersten Opfers (jetzt gab es ja ein zweites Opfer und Mathias hatte einen Verdacht, dass die beiden toten Mädchen bald irgendeine Gemeinsamkeit aufweisen würden) ihn attackiert hatte, kurz nachdem er über den Leichenfund gebloggt hatte. Er schlug ihr in der E-Mail-Antwort vor, sie zu Hause zu besuchen, und prompt gab sie ihre Wohnadresse an. Jetzt wurde es für Mathias immer merkwürdiger, denn die angegebene Adresse stimmte mit der überein, die er bei ihrer Schwester in der Datenbank gefunden hatte. Die Nachricht schien also echt zu sein. Er beschloss aber, den Termin vom Abend auf den Nachmittag vorzuverlegen zu lassen, um nicht doch im Dunkeln überfallen zu werden. Mathias hatte ein merkwürdiges Gefühl, was auch zu einer ausgewachsenen Gänsehaut entwickelte. Fing so etwa Paranoia an?

Tatsächlich stimmte »Maja« ihm aber sofort zu und lud ihn am kommenden Sonntag um vierzehn Uhr zu sich und ihren Eltern nach Hause ein. Sie entschuldigte sich noch einmal und gab an, ihn wohl für einen Paparazzo gehalten zu haben. Also war es wohl tatsächlich nur eine harmlose Kaffee-und-Kuchen-Einladung.

Schon bald wurden, nachdem die Nachricht des tot aufgefundenen Mädchens am Morgen rasend schnelle Verbreitung fand, die ersten Videos ins Internet gestellt. Mathias betrachtete ein Video, das die Schule des Mädchens zeigte. Diese war wegen einer Komplettsanierung (man hatte wieder einmal in einem Siebziger-Jahre-Gebäude größere Mengen Asbest gefunden) in einem Gebirge aus Bürocontainern auf dem Schulhof untergebracht, wie man es sonst nur von Großbaustellen kannte. Auf der obersten Containerreihe prangte ein bunter Graffiti-Schriftzug mit dem Wortspiel THIS CONTAINS EDUCATION, was ihn trotz des Ernstes der Lage ein wenig schmunzeln ließ. Über eine scheppernde Treppe aus Gerüstteilen gelangte man in das provisorische Schulgebäude und diese Treppe füllte sich immer mehr mit Kerzen, Stofftieren und Blumen. Dieses Mal gab es aber keine Bilder des Opfers, da es wohl zu dunkel war und nicht so etwas wie ein illegales Rennen stattgefunden hatte. Mathias konnte aber auch hier wieder recht schnell den Namen des Mädchens herausfinden. Sie hieß Paulina, war ebenfalls dreizehn Jahre alt und wohnte ebenfalls in Buchthausen. Eine Korrelation war noch keine Kausalität, wie einer seiner Kollegen, ein Statistiker, immer zu sagen pflegte, aber dass so kurz hintereinander zwei gleichaltrige Mädchen tot aufgefunden wurden, war schon sehr verdächtig.

Diese Gedanken schrieb er in einen Blogeintrag, der mit den Worten schloss:

Ich weiß nicht, was mich mehr beunruhigt: Dass es wiederum hier im an sich kriminalitätsarmen Buchthausen schon wieder einen sehr suspekten Todesfall eines Teenagers gegeben hatte oder dass es wiederum sehr einfach war, aus Social-Media-Seiten die Identität des Mädchens (voller Name, Alter, Wohnort, Schule, E-Mail-Adresse undsoweiter) herauszubekommen.

Denkt ’mal darüber nach. Euer Buchtblogger.

Am Montag wollte er auch gleich in der Datenbank nachsehen, die er immer noch im Zugriff hatte, weil die Fehlerbehebung noch nicht vollständig abgeschlossen war. Er hatte einen Verdacht im Hinterkopf, der ihm aber zu abwegig erschien, so dass er ihn erst einmal wieder verwarf.

Am folgenden Sonntag ging Maja Fischer vor Aufregung im Hausflur hin und her. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie eigentlich so aufgeregt war. Nüchtern betrachtet fand sie ihr Verhalten vollkommen irrational und versuchte daher, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.

Maja. Eigentlich hasste sie diesen Namen, da es doch immer wieder nur auf diese »doofe Biene« (wie sie es ausdrückte) hinaus lief. Erst als ihre Tante ihr zu einem Geburtstag eine große Biene-Maja-Plüschfigur geschenkt hatten, begann sie, in die Offensive zu gehen. Daher zierten mittlerweile viele Biene Majas in allen möglichen Größen und aus allen möglichen Materialien ihren Schreibtisch. Der Höhepunkt war dann ein Kostümfest in der Schule gewesen, bei dem sie in einem äußerst aufreizenden Bienenkostüm einiges Aufsehen erregte. Diese Maßnahmen zeigten schlussendlich eine erstaunliche Wirkung, nämlich dass die Hänseleien immer weniger wurden und schließlich ganz aufhörten.

Sehr bienenbezogen war dagegen ihr Spitzname im Internet, den sie aber nicht jedem preisgab.

Nun sollte also der Buchtblogger zu Besuch kommen, der sich mit dem Namen Mathias Ecke angekündigt hatte. Noch immer plagte Maja ein schlechtes Gewissen wegen der Attacke mit dem Pfefferspray. Sie hatte ein wenig in seinem Blog gelesen und fand vor allem seine Ansichten zur Privatsphäre sehr erhellend, so dass sie umgehend einige Einträge aus ihren Profildaten bei mehreren Social-Media-Seiten entfernte oder stark vereinfachte. Als ihr Vater aus Wut, weil sie die Familie auf der Trauerfeier in Großaufnahme gezeigt hatte, ohne mit ihnen Rücksprache zu halten, das Abonnement der örtlichen Tageszeitung gekündigt hatte und einen Anwalt einschaltete, hatte sie ihm den Blog gezeigt. Er war sehr überrascht, dass eine Meinung über die Presse nicht nur vom Buchtblogger selbst, sondern auch von vielen Kommentatoren geteilt wurde. Es war ein großer Zufall gewesen, dass seine Tochter ausgerechnet diesem Blogger über den Weg gelaufen war, aber nun wollte er ihn auf jeden Fall persönlich kennenlernen.

Schon läutete es an der Haustür und Maja öffnete sie. Ein leicht lächelnder junger Mann stand vor ihr, der zumindest hier und jetzt nicht den Anschein des klischeemäßigen IT-Nerds machte. In einer Hand trug er eine schmale bunte Tüte und die andere Hand streckte er ihr entgegen.

»Mathias Ecke, hallo!« 

Wenn es tatsächlich so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gab, dann passierte es genau in dieser Sekunde, dass sie sich in ihn verliebte. Maja spürte, wie sie heiße Ohren bekam.

»M–Maja Fischer« stotterte sie, »b–bitte entschuldige das Pfefferspray!« 

»Ich kann mir schon vorstellen, dass ihr hier alle etwas nervös seid, bei dem, was alles vorgefallen ist. Mein aufrichtiges Beileid, übrigens!« 

Maja nickte nur leicht. Sie hatte sich tatsächlich auf der Stelle in ihn verliebt, so dass sie vollkommen vergaß, seine Hand loszulassen und ihn hereinzubitten.

»Darf ich reinkommen?«, fragte er daher.

Maja war die Situation sichtlich peinlich und sie spürte, wie ihre Ohren immer heißer wurden.

»J–ja, selbstverständlich«, erwiderte sie und ließ seine Hand los.

Mathias fand, dass Maja nicht so traurig aussah, wie er es erwartet hatte. Erst als sie im Flur an einem Sideboard vorbei kamen, auf dem ein Bild ihrer Schwester mit einem Trauerrand, ein kleiner Blumenstrauß und ein paar Trauerkarten zu sehen waren, verdunkelte sich ihr Gesichtsausdruck um ein paar Nuancen.

Sie führte ihn durch den Flur und das Wohnzimmer auf die Terrasse. Ihre Eltern hatten dort bereits an der Kaffeetafel Platz genommen. Majas Mutter war im Prinzip eine ältere Ausgabe von ihr, allerdings mit deutlich kürzeren Haaren. Wegen der Wärme trug sie ein buntes Sommerkleid, das eigentlich nur aus einem sehr ausladendem Dekolletee bestand, was es Mathias sehr schwer machte, dort einmal nicht hinzusehen.

»Mathias Ecke, Mathias mit einem ›T‹«, begrüßte er Majas Eltern.

Er überreichte Majas Mutter sein Geschenk und sie holte eine schlanke Weinflasche aus der Tüte.

»Württemberger Rosé, passt perfekt jetzt zu den lauen Sommerabenden; muss allerdings erst einmal noch kalt stehen. Ich hoffe, Sie mögen Wein«, erläuterte er.

Majas Mutter beugte sich vor und schlagartig vergrößerte sich das an sich schon große Dekolletee um etwa ein Drittel, was Mathias fast vollständig aus der Fassung brachte.

»Ja, mögen wir«, meinte sie. »Vielen Dank!« 

Zu Mathias’ Erleichterung gab es einen Themawechsel durch Majas Vater, der seine Aufmerksamkeit von ihrer Mutter ablenken konnte.

»Maja, hast du dich schon entschuldigt?«, fragte ihr Vater.

»Ja, Papa!« 

Mathias sah es ihr an, dass ihr die ganze Situation sichtlich peinlich war.

Während des sich entwickelnden Gesprächs kam dann auch das Thema »Blog« auf. Majas Vater erzählte gleich, wie sehr er sich über die »sensationsgeilen« (was ihm einen sehr finsteren Blick seiner Frau einbrachte) Medien geärgert hatte. Er fand es gut, dass sich jetzt endlich einmal Gegenwind durch das Internet im Allgemeinen und vor allem durch Blogger im Speziellen aufbaute.

Mathias sagte: »Jetzt können Sie sich in etwa vorstellen, warum gewissen Kreisen das ›freie‹ Internet so ein Dorn im Auge ist.« 

Majas Vater nahm einen großen Schluck aus seinem Kaffeebecher und nickte zustimmend.

»Apropos Internet«, fragte er, »das machen Sie sicherlich nicht hauptberuflich, oder?« 

Mathias erläuterte, dass er eigentlich Anwendungsentwickler war und sich gerade in einem Projekt mit der Auswertung sehr großer Datenmengen beschäftigte.

»Man muss sich das nicht wie eine Stecknadel im Heuhaufen, sondern eher wie ein großer Stecknadelhaufen mit ein bisschen Heu dazwischen vorstellen, aus dem man alle Nadeln mit einem dunkelgelben Kopf heraussuchen möchte. Aber man muss aufpassen, nicht die gelbgrünen oder die hellgelben Nadeln zu erwischen, denn leider sieht das Gelb immer leicht ein wenig anders aus.« 

»Das ist aber eine schöne Beschreibung!«, lobte Majas Vater.

»Oh, die ist nicht von mir. So erklärt mein Chef immer den Kunden, dass es lange dauert und viel kostet.« 

Majas Vater lachte und Maja konnte sich nicht davon lösen, Mathias anzustarren. Jemand hatte ihren Vater nach langer Zeit zum Lachen gebracht. Sie verliebte sich immer mehr in den offensichtlich sehr intelligenten jungen Mann, dem sie zu allem Überfluss auch noch Pfefferspray in die Augen gesprüht hatte.

»Dafür brauchen brauchen wir natürlich einiges an Rechenleistung. Mit der Rechenzentrumsabwärme beheizen wir problemlos unser ganzes Bürogebäude. Nur wenn es ganz tiefe Minusgrade hat, müssen wir Gas zufeuern.« 

Vollkommen unbeabsichtigt hatte Mathias damit das Spezialgebiet von Majas Vater, die Klimatechnik, gestreift. Majas Vater war, wie sich schnell herausstellte, ein Ingenieur für Klimatechnik, der bei Buchthausens größtem Arbeitgeber arbeitete und als Projektleiter für die Klimatisierung von Flugzeugen zuständig war.

Maja war sehr angetan davon, wie locker und wortgewandt dieser junge Mann, der kaum älter war als sie selbst, auf Augenhöhe mit ihrem Vater, einem gestandenen Dr.-Ing., kommunizierte. Dies schien wohl daran zu liegen, dass er schon in einem »richtigen« Job beschäftigt war und nicht wie sie in einem Kindergarten. Sie schaute Mathias an. Wenn sie ganz genau hinsah, bildete sie sich ein, um seine Augen herum noch eine leichte Rötung erkennen zu wollen, die von der Pfeffersprayattacke herrührte. Und so jemanden hatte sie angegriffen.

»Ist das so etwas wie dieses Big Data, wovon man manchmal liest?«, fragte Majas Vater zu Mathias’ großer Überraschung.

»Hier kann ich nur mit ›jein‹ antworten«, legte Mathias dar. »Big Data, das ist eher ein böses Wort und kennzeichnet das, was Geheimdienste aufgrund ihrer uferlosen Abhörerei und Überwacherei angesammelt haben; ähnliches gilt für die großen US-amerikanischen IT-Unternehmen, die wir alle zur Genüge kennen. Unsere großen Datenmengen sammeln wir und werten diese lediglich zu Marketingzwecken aus, weil wir nämlich die Guten sind. Obwohl, streichen Sie wegen Marketing ›die Guten‹ wieder…« 

Majas Vater lachte erneut.

So plauderten sie noch eine Weile über »Netzpolitik«, über Privatsphäre, über Bewegungsprofile, über amerikanische Suchmaschinen- und Social-Media-Konzerne und über geheimdienstliche Überwachung. Maja konnte sich immer noch nicht davon lösen, Mathias anzustarren.

Mathias erläuterte: »Irgendjemand hatte außerdem in einem Webforum geschrieben, das Internet ist das ›Westfernsehen 2.0‹, wenn es um die Wahrheit geht.« 

Majas Mutter hatte bisher nichts gesagt, nun aber kam auch ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen.

»Ooh, das ist aber böse!«, stellte sie fest. »Ich stamme ursprünglich aus Mecklenburg und kann mir ganz genau vorstellen, was dieser Vergleich bedeutet. Ich habe da in letzter Zeit gewisse Deja-vu-Effekte.« 

Majas Vater wollte von Mathias schließlich noch Tipps für alternative Nachrichtenquellen haben.

»Zunächst einmal – natürlich vollkommen eigennützig – mein Blog Buchtblogger«, begann Mathias.

Er nannte ihnen noch weitere Blogs, Foren und alternative Zeitungen aus dem deutschsprachigen Raum.

Maja mischte sich ein: »Und nächste Woche erweitern wir dann unsere Medienkompetenz um englisch- oder französischsprachige Seiten…« 

Mathias grinste. »Ja, genau!« 

Nachdem der Kuchen restlos aufgegessen worden war und Mathias noch geholfen hatte, das schmutzige Geschirr von der Terrasse in die Küche zu tragen, verabschiedete er sich von Majas Eltern. Maja selbst ließ es sich nicht nehmen, ihn noch bis zur Haustür zu begleiten.

Im Flur umarmte sie ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Danke«, hauchte sie.

»Wofür?« 

»Dass du meine Eltern ein wenig aufgeheitert hast.« 

Er legte seine Hände auf ihre Hüften und sie zuckte nicht etwa zusammen oder versuchte, sich herauszuwinden, sondern hielt ihn weiterhin umarmt und schaute ihm tief in die Augen.

»Da ist noch etwas: Ich hatte mich ja schon für das Pfefferspray entschuldigt, aber kannst du mir noch einen Gefallen tun?« 

»Aber selbstverständlich. Was immer du willst.« 

»Übermorgen wird Paulina beerdigt und ich wollte da eigentlich hin, möchte aber nicht alleine gehen. Kannst du mich begleiten? Übermorgen, vierzehn Uhr?« 

»Geht klar, ich hole dich um halb zwei hier ab.« 

Sie küsste ihn erneut, dieses Mal war sie aber mutiger und zielte direkt auf den Mund. Nach einem langen Kuss lösten sie ihre Umarmung, Mathias nahm seinen Rucksack von der Garderobe und ging zur Haustür, die von Maja geöffnet wurde. Er ging zu seinem Auto und winkte Maja zu.

»Bis übermorgen dann!«, rief er.

»Bis übermorgen!« 

Er stieg ein und fuhr davon.

Ein paar Straßen weiter hielt er erst einmal am Straßenrand an, schaltete den Motor ab und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Das Mädchen war wirklich nicht unattraktiv und zwar ein paar Jahre jünger als er, aber immerhin schon volljährig. Es war ja außerdem nicht so, dass er ihre Notlage ausgenutzt und sich plump an sie herangemacht hätte, nein, sie hatte angefangen und ihn umarmt und dann sogar geküsst. Eigentlich wollte er sich Zeit lassen, um sich eine Freundin zu suchen – falls er als Informatiker überhaupt jemals eine abbekommen würde –, aber so hatte es sich fast von selbst ergeben.

Den restlichen und den darauffolgenden Tag konnte er keinen klaren Gedanken finden und schrieb deshalb auch keinen weiteren Blogeintrag; er konnte und wollte auch gar nicht nicht schreiben, dass er sich verliebt hatte. Immer wieder musste er an Maja denken und wie ihre Lippen leicht nach Pflaumenkuchen geschmeckt hatten, als sie ihn geküsst hatte.

Am Tag der Beerdigung – er hatte sowieso Überstunden abzubauen und sich einen halben Tag freigenommen – trug er eine schwarze Stoffhose und, da es immer noch sehr warm war, ein weißes Kurzarmhemd nebst schwarzer Krawatte. An seiner Arbeitsstelle er sorgte mit diesem Outfit natürlich für ein gewisses Aufsehen. Als er aber erläuterte, dass er auf eine Beerdigung gehen würde, empfanden alle Kollegen seine Kleidung als gar nicht so unpassend. Als er dann eine dunkle Sonnenbrille und einen schwarzen Hut aufsetzte, war er im Kollegenkreis einfach nur noch »cool«.

Maja wartete schon vor der Tür, als er an ihrem Haus ankam. Sie trug ein schlichtes und recht figurbetontes schwarzes Kleid sowie einen großen Hut und hatte sich eine riesengroße Sonnenbrille, wie sie sonst nur Filmstars trugen, auf den Hut gesteckt. Sie sah seiner Meinung nach einfach umwerfend aus, und spätestens jetzt hätte er sich auf jeden Fall in sie verliebt. Er stieg aus dem Auto und ging zu ihr.

»Hallo, Man in Black!«, wurde er von ihr begrüßt.

»Hallo, schöne Lady in Black! Ich habe allerdings keine Alien-Waffen bei mir!« 

Sie zeigte ein breites Grinsen, umarmte ihn und gab ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Sie roch ganz angenehm nach irgendeinem blumig frischen Parfüm, was ihm deutlich besser gefiel, als das schwer stinkende Zeug bei der Chefsekretärin der Nachbarabteilung. Wenn man dort einmal etwas kopierte, musste man Angst haben, dass durch den kleinsten elektrischen Funken das ganze sich in dem Büro befindliche Gas-Luft-Gemisch explodieren könnte.

»Man in Black also«, meinte er, »Ich freue mich, dass du deinen Humor wiedergefunden hast.« 

»Ich muss schon für nachher vorbauen. Bestimmt fange ich die furchtbare Heulerei an.« 

Er drückte sie fest an sich und sagte: »Ich bin ja bei dir!« 

»Ja, das ist auch schön. Danke nochmal für’s Mitkommen.« 

Sie fuhren zum Friedhof, fanden sogar noch den letzten legalen Parkplatz und setzten sich in der Kapelle in die letzte Reihe. Nach der Trauerfeier, bei der Maja nur leicht geschluchzt hatte, reihten sie sich in den Trauerzug ganz hinten ein und gingen langsam zum Grab. Am Grab kondolierten sie dann Paulinas Eltern.

»Ich bin Maja Fischer, Johannas Schwester«, stellte sie sich vor. »Wir haben uns schon einmal kurz bei der Polizei gesehen.« 

»Oh ja, die große Schwester. Jetzt erinnere ich mich«, erwiderte Paulinas Vater.

Sie wurden dann noch spontan zum Leichenschmaus eingeladen und unterhielten sich dort lange mit Paulinas Eltern.

Vor dem Restaurant warteten schon die Fotografen und sie mussten sich buchstäblich den Weg zum Auto freikämpfen. Paulinas Vater platzte der Kragen und er schlug einem sehr aufdringlichen Fotografen die Nase blutig. Sehr schnell zogen sich die anderen Fotografen zurück und sie hatten endlich freie Bahn.

»Da dürfte heute noch ein Blogeintrag zu Paparazzi fällig sein, oder?«, fragte Maja im Auto.

Mathias nickte.

Auf der Fahrt war Maja auffällig ruhig, mit der Ausnahme, dass sie fragte, ob sie noch mit zu ihm kommen könnte. Diese Bitte konnte er ihr aber nicht ausschlagen. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und starrte Löcher in die Luft. Er fand ihr Verhalten zwar mysteriös, ließ sie aber in Ruhe. Die Beerdigung war bestimmt nicht leicht für sie gewesen, so kurz nach der Beerdigung ihrer Schwester.

Mathias wohnte in einer kleinen Dachgeschoss-Maisonettewohnung. Eigentlich war er nicht wirklich auf diesen überraschenden Damenbesuch eingerichtet, aber die Wohnung war zum Glück wegen seiner Hausstauballergie immer aufgeräumt und regelmäßig gesaugt, damit sich gar nicht erst Staub ansammelt. Insofern konnte er Maja guten Gewissens zu sich in die Wohnung bitten. Sie setzte sich gleich auf ein Sofa im Wohnzimmer, während er erst seinen Schlüsselbund an einen Haken im Flur hängte.

Nachdem er seine Krawatte abgenommen und auf eine Stuhllehne geworfen hatte, setzte er sich neben Maja aufs Sofa. Sie war auffallend blass und nur zögerlich begann sie leicht stotternd zu reden.

»D-das glaubst du nicht.« 

»Was soll ich nicht glauben? Maja, was ist los? Du warst so still.« 

»I-ich habe heimlich gelauscht, als nach dem Tod meiner Schwester die Kripo meine Eltern befragt hatte. Der Kriminalhauptkommissar, oder wie er genau hieß, deutete an, dass ihr vom rechten Fuß vier Zehen abgetrennt wurden.« 

Mathias verzog das Gesicht.

»Vier Zehen abgetrennt?«, fragte er.

Sie schaute ihn an und wurde immer blasser.

»Ja, und jetzt stell’ dir vor«, hauchte sie, »vor dem Restaurant hat mir Paulinas Mutter das Gleiche erzählt!« 

Es war also definitiv kein Suizid, bei keinem von beiden Mädchen. Sollte ein Serienmörder in Buchthausen sein Unwesen treiben? Waren womöglich noch weitere Opfer zu erwarten?

»Maja, jetzt erzähle ich dir auch etwas: Ich habe euch doch erzählt, dass ich bei diesem Direktmarketingunternehmen arbeite. Genauer gesagt, handelt es sich bei den Daten um Daten aus einem Gewinnspiel für Teenager-Mädchen. Und deine Schwester und auch Paulina sind bei uns in der Datenbank vorhanden.« 

»Wie bist du genau an diese Daten gekommen, so etwas darf man doch eigentlich gar nicht?« 

»Heimlich.« 

»Heimlich?« 

Offiziell durfte er die Daten laut Kundenvertrag nur für die vertraglich vereinbarten Zwecke verwenden – und dazu gehörte ausdrücklich nicht, den Mörder von Majas Schwester zu finden.

»Also können wir das so auch nicht der Polizei erzählen?«, fragte sie.

»Nein, das ist außerhalb der vereinbarten ›Auftragsverarbeitung‹ laut DSGVO – diese Abkürzung hast du bestimmt schon einmal gehört. Da riskiere ich eine Abmahnung oder Kündigung, wenn das herauskommt. Und wenn der Kunde meine Firma auf Schadenersatz verklagt, bin ich womöglich auch finanziell dran.« 

Sie wurde noch blasser, falls so etwas überhaupt noch biologisch möglich war.

»Jetzt schau’ mich nicht so an. Meinst du, ich bringe reihenweise dreizehnjährige Mädchen um?« 

Maja hatte sich wieder beruhigt und meinte: »Nein, aber du musst mir versprechen, das mit den vier Zehen nicht in deinen Blog zu schreiben.« 

Er nahm sie in den Arm und drückte sie fest.

»Natürlich nicht, denn diesen Informationsvorteil sollten wir auf jeden Fall für uns behalten.« 

»Was schreiben wir dann zu den Paparazzi?«, fragte sie.

Mathias war überrascht, dass sie »wir« gesagt hatte, und so war er zunächst leicht unkonzentriert.

Der Blogeintrag schloss mit den Worten:

Eins auf die Mütze! Bitte entschuldigt meine Wortwahl, aber was sich die Presse (oder besser die Paparazzi) gerade eben bei Paulinas Beerdigung geleistet hat, musste zwangsläufig so eine Reaktion hervorrufen. Wir können ja schon einmal das Crowdfunding für einen guten Rechtsanwalt starten, falls Paulinas Vater für den (meiner Meinung nach vollkommen berechtigten) Faustschlag angeklagt werden sollte.

Denkt ’mal darüber nach. Euer Buchtblogger.

Dann stellte sie eine Frage, die ihn nahezu vollständig aus der Fassung brachte.

»Darf ich heute Nacht bei dir bleiben?« 

Nun fing er das Stottern an: »A-aber selbstverständlich!« 

Damit diese sich keine Sorgen machten, wollte Maja noch ihre Eltern anrufen.

»Nimm bitte das Festnetztelefon«, meinte Mathias, der sich wieder etwas gefangen hatte.

Am Telefon gab es dann einigen Diskussionsbedarf.

»Mama! Ich bin jetzt achtzehn! Und das ist doch nur Mathias!« 

Er musste bei nur Mathias grinsen und sagte: »Bestell’ deiner Mutter, ich werde dir schon nichts antun.« 

Nachdem die Diskussion doch noch zu Majas Gunsten entschieden werden konnte, lehnte sie sich wieder im Sofa zurück, sah dabei aber nicht wirklich zufrieden aus. Fortwährend zupfte sie an ihrem Kleid herum.

»Das blöde Kleid, unbequem, unbequem, unbequem!«, grummelte sie. »Hast du mir vielleicht etwas Wohnlicheres?« 

»›Wohnlicheres‹, der Begriff gefällt mir. Ich merke, dass du deinen Humor wiedergefunden hast. Und übrigens: Das Kleid ist ganz und gar nicht ›blöd‹, du siehst darin wirklich zum Verlieben aus.« 

Sie küsste ihn und flüsterte ihm ein »Danke« ins Ohr.

»Selbstverständlich hätte ich dir etwas, es ist ja auch recht warm«, fuhr er fort. »Darf ich mir dann auch ›Wohnklamotten‹ anziehen?« 

Jetzt war Maja an der Reihe, breit zu grinsen und bestätigte: »Klar; wenn schon, denn schon!« 

Sie hatte ihre Gesichtsfarbe wiedergewonnen und machte darüber hinaus einen deutlich gelösteren Eindruck. Gemeinsam stiegen sie die kleine Wendeltreppe hoch, die beide Stockwerke der Wohnung miteinander verband. Im oberen Stockwerk befand sich das Schlafzimmer und mit ein paar Fachwerkbalken davon abgetrennt das »Ankleidezimmer«, wie Mathias es nannte. Er öffnete den Kleiderschrank und holte ein buntes Sport-T-Shirt und eine Sporthose heraus.

Da sie etwas kleiner und vor allem deutlich schlanker als er war, stellte er fest: »Maja, ich habe nicht wirklich etwas in deiner Größe da, aber das Shirt hier ist mir im Wäschetrockner geschrumpft und könnte dir eigentlich ganz gut passen.« 

Er reichte ihr das Shirt, hielt aber inne.

»Jetzt schau mich nicht so komisch an, ich habe auch andere Sportsachen, die auch XL sind, aber nicht geschrumpft sind.« 

»Oder wie Obelix immer sagt: ›Ich bin nicht…‹« 

Er steckte ihr seine Zunge heraus und unterbrach sie mit: »Ja, genau: Obelix. Vielen Dank auch.« 

Maja zog ihn zu sich und gab ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Sie strahlte über das ganze Gesicht und er war – trotz oder wegen dieser kleinen Gemeinheit – erleichtert, dass sie ihre Niedergeschlagenheit wieder vollkommen abgelegt zu haben schien.

Sie löste sich wieder von ihm, drehte sich um und fragte: »Kannst du mir bitte den Reißverschluss aufmachen?« 

Er hatte zwar nach ihrer Ankündigung, die Nacht mit ihm verbringen zu wollen, mit vielem gerechnet, aber dass sie so schnell in die Offensive ging, überraschte ihn doch sehr. Langsam zog er den Reißverschluss ihres Kleides herunter und bekam dabei ein ganz merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Erst vor ein paar Tagen waren sie sich zufällig über den Weg gelaufen und jetzt schon stand sie direkt vor ihm – nur mit recht teuer aussehender Unterwäsche bekleidet. Sie hängte ihr Kleid über einen Kleiderhaken und die perfekt zum Kleid passende schwarze Spitzenunterwäsche ließ ab und zu etwas durchschimmern, was Mathias’ flaues Gefühl nur noch verstärkte. Erst als sie sich seine Sportsachen übergezogen hatte, beruhigte sich sein Magen etwas.

Sie lenkte ihn glücklicherweise ab, indem sie fragte: »Und das hat dir ’mal gepasst?« 

Er musste laut losprusten.

»Ja, aber es scheint wohl nicht wirklich trocknergeeignet zu sein. Nach langen empirischen Testreihen muss ich zusätzlich feststellen, dass dieses Wäscheverhalten vollkommen marken- und preisunabhängig ist – und auch unabhängig von den Angaben auf dem Waschschild.« 

Nun lachte sie auch und betrachtete sich im Spiegel.

»Das sieht doch ganz nett aus. Danke für die Sportsachen, die reichen doch vollkommen aus. Das Verhalten von teuren und billigen Klamotten im Wäschetrockner wäre doch auch einmal einen Blogeintrag wert, oder?« 

Nochmals musste er laut lachen und sie bewegte sich in Richtung der Wendeltreppe.

Mathias rief ihr nach: »Du kannst dich schon ’mal auf den Balkon setzen. Sitzpolster gibt’s hinter dem großen Sofa.« 

Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, setzte er sich erst einmal auf einen Stuhl und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

Wenn er jetzt keinen gravierenden Fehler machte, konnte er eine junge Frau zu seiner festen Partnerin machen, die intelligent und nicht unattraktiv war, die durchsichtige schwarze Unterwäsche trug und auch sonst überhaupt nicht abwesend ihm gegenüber aufgetreten war.

Und sie hatte angefangen.

Er kam sich zwar vor wie kleine Kinder auf dem Spielplatz (»Du hast angefangen!« – »Nein, du!« – »Nein, du!«), aber dass sie schlussendlich direkt vor ihm in fast durchsichtiger Unterwäsche stand, war ausschließlich ihre Entscheidung gewesen.

Sie hätte ja nach der Pfefferspray-Attacke keinen Kontakt mit ihm aufnehmen müssen.

Sie hätte ihn ja nicht zur Beerdigung mitnehmen müssen.

Sie hätte ja nach der Beerdigung nicht mit zu ihm kommen müssen.

Sie hätte sich ja auch alleine umziehen können, ohne dass er sie in durchsichtiger Unterwäsche hätte sehen müssen.

Sie hätte ja heute Nacht nicht bei ihm bleiben müssen.

Mathias und Maja passten auch von den Namen her recht gut zusammen… 

In Summe brauchte er sich also nicht allzu sehr anzustrengen, um zumindest ein schönes Wochenende mit einem recht hübschen weiblichen Wesen verbringen zu können. Flugs zog er sich ebenfalls etwas Sommerliches an, eine Jogginghose mit kurzen Beinen und ein Polohemd, und kletterte die Wendeltreppe herunter. Er ging durch das Wohnzimmer und steckte seinen Kopf durch die Balkontür.

Sie hatte es sich auf einem Liegestuhl bequem gemacht und beobachtete zwei bunte Lokomotive mit einer langen Schlange von noch bunteren Containerwaggons, die in der Ferne vorbeirauschten.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte er. »Leider ist die Auswahl neben Mineralwasser sehr begrenzt. Wie wäre es mit Weizenbier plus Grapefruit, irgendein Biermischzeug – und das Einzige, was ich kalt stehen habe?« 

Sie schob ihre Sonnenbrille hoch und schaute ihn mit einem Augenaufschlag an, der ihn wieder leicht unruhig werden ließ.

»Bier ist gut, danke.« 

Er holte zwei Flaschen aus dem Kühlschrank, öffnete sie und brachte sie auf den Balkon. Im Hintergrund rauschte wieder ein Güterzug vorbei, Mathias blickte der langen Kette aus Autotransportwaggons nach, die fabrikneue und noch in weiße Folien verpackte Fahrzeuge geladen hatten. Er setzte sich neben sie und reichte ihr die Bierflasche. Sie stießen mit den Flaschenböden an und jeder nahm einen großen Schluck aus der Flaschen.

»Das schmeckt eigentlich gar nicht so schlecht«, stellte sie fest. »Übrigens: Schön hast du’s hier!« 

Da konnte sie tatsächlich Recht haben. Er hatte zwar keinen großen Garten wie ihre Eltern (der bestimmt uferlos viel Pflege erforderte), aber dafür konnte man von seinem Balkon weit über ein paar Felder schauen, bis zu einer Baumreihe, hinter der die Bahnstrecke verlief.

»Soso, vier Zehen«, nahm er ihr Gespräch wieder auf, »was mag das für einen tieferen Sinn haben?« 

Gemeinsam kamen sie zu der Ansicht, dass es sich wohl um eine Art ritualisierten Racheakt handeln musste. Die Vorstellung, dass womöglich ein Ritualserienmörder in Buchthausen sein Unwesen trieb, ließ Maja trotz der Wärme kalte Schauer über ihren Rücken laufen. Sie fanden aber keine Antwort darauf, warum jemand Rache an Majas Schwester nehmen wollte.

Um das Gespräch auf angenehmere Themen zu lenken, unterhielten sie sich über dies und das. Maja musste erfreut feststellen, dass er keine Freundin zu haben schien.

Nachdem die Sonne untergegangen war und sich Mathias einige Stechmücken auf seinem Oberschenkel totgeschlagen hatte, beschlossen sie, in die Wohnung zu wechseln und ihre Konversation auf dem Sofa fortzusetzen.

Mathias wählte auf seinem Internet-Radioempfänger das Genre Chillout/Lounge aus und nach wenigen Sekunden erfüllten jazzig-elektronische Klänge den Raum, die ein wenig an lateinamerikanische Barmusik erinnerten. Seiner Ansicht nach war das die am Besten passende Musik, um mit einem hübschen Mädchen auf einem Sofa zu sitzen. Von einem Kollegen auch als »Rumkriegemusik« bezeichnet, war in dieser Situation allerdings niemand mehr »herumzukriegen«, sondern Maja hatte ja schließlich angefangen.

So saßen sie nicht mehr auf zwei getrennten Liegestühlen, sondern nebeneinander auf dem Sofa, und Maja kuschelte sich immer mehr an ihn heran.

Schließlich stellte sie eine Frage, die Mathias dazu veranlasste, ihr einen sehr langen Kuss zu geben.

»Hilfst du mir, den Mörder meiner Schwester zu finden?«, fragte sie plötzlich.

»Selbstverständlich!« 

Er ertappte er sich dabei, in letzter Zeit viel zu oft »selbstverständlich« zu sagen.

Schon schloss sich ihre nächste Frage an.

»Darf ich auch etwas in dein Blog schreiben? Nicht einen Eintrag, sondern einen Kommentar?« 

Er kam sich etwas seltsam vor, als er »selbstverständlich« vermeiden wollte, und stattdessen »selbstverfreilich« antwortete. Sie schaute ihn aber nur mit großen Augen an und strahlte über das ganze Gesicht.

Er holte einen Notebookrechner vom Tisch, klappte ihn auf und reichte ihn ihr. Sie wählte den letzten Blogeintrag aus und klickte auf Kommentieren.

»Bienchen?«, fragte er erstaunt, als sie ihren Benutzernamen eingetragen hatte.

»Ja, aber nur ich darf diesen Namen verwenden!« 

Ihm wäre nicht im Traum eingefallen, sie »Bienchen« nennen zu wollen; sie hatte kurz erwähnt, dass sie mit »Maja« sich schon gestraft genug vorkam.

»Also gut«, beschloss er, »aber dann vereinbaren wir Folgendes: Ich nenne dich nur so, wenn Gefahr im Verzug ist, die Luft brennt, Alarmstufe Rot, Defcon Eins, du weißt schon. Im Gegensatz dazu darfst du mich niemals, nie, nicht ›Matze‹ nennen, außer auch bei Gefahr im Verzug, Defcon Eins undsoweiter!« 

Er streckte ihr seine rechte Hand entgegen.

»Einverstanden?« 

Sie nahm seine Hand und drückte sie fest.

»Einverstanden, Matze!« 

Er zog eine Grimasse und ließ ihre Hand wieder los. Sie küsste ihn auf die Wange und wandte sich wieder dem Blogkommentar zu. Mathias kam ihr Zusammensein sehr harmonisch vor, fast zu harmonisch, um wahr zu sein.

Ihr Kommentar hatte es allerdings in sich. Sie schrieb:

Bienchen hat geschrieben:
Ein Kommentarschreiber in einem anderen Blog hat ’mal geschrieben: »Das sind Gaffer-Nachrichten, damit die Gaffer auch zu Hause öfter etwas zum Gaffen haben.« Wi-der-lich! Ständig wird von »Pressefreiheit« gesprochen. Vielleicht sollte man darunter lieber die »Freiheit vor der Presse« verstehen. Lasst uns in Ruhe!

»›Freiheit vor der Presse‹, sehr schön!«, lobte Mathias.

Er war hocherfreut, dass das Mädchen hier voll auf seiner Wellenlänge zu liegen schien. Dass das Ganze sogar noch weiter eskalieren sollte – der Faustschlag war fast harmlos dagegen –, konnten beide zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen… 

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