Kapitel 1
Johanna

Endlich gab es etwas Bewegung.

Die kodierte Nachricht, die gerade über die einschlägigen Webforen, Social-Community-Seiten und SMS verbreitet wurde, lautete nämlich wie folgt:

Nachricht an alle
BU:NIGOS:2330

Sie bedeutete, dass eine halbe Stunde vor Mitternacht am diesem Tag im neuen Industriegebiet der Oberstadt von Buchthausen ein illegales Beschleunigungsrennen stattfinden sollte. Die neuen Industriegebiete boten nach Ansicht der örtlichen Tuning- und Hobby-Rennfahrer-Szene ideale Voraussetzungen für diese Art von Rennen, da schnurgerade und weit einsehbare Straßen vorhanden waren. Darüber hinaus gab es dort auch kaum Wohnbebauung, höchstens eine Handvoll Handwerksbetriebe, bei denen der Meister über der Werkstatt seine Wohnung hatte. Daher gab es kaum Anwohner, die sich beschweren konnten. Ein Eingreifen seitens der Polizei war außerdem erst sehr spät zu erwarten, weil nachts aufgrund von Sparmaßnahmen nicht mehr alle Reviere besetzt waren und auch die Streifenfahrten reduziert wurden. In anderen Städten hatten sich Anwohner der betroffenen Straßen sich daher bei den Stadtverwaltungen beschwert und mehr Polizeipräsenz gefordert. Die wenigen zusätzlichen Streifenfahrten hatten allerdings nicht zum gewünschten Ergebnis geführt, da diese von den bei den Rennen an bestimmten Punkten aufgestellten Spähern leicht erkannt werden konnten.

In einem benachbarten Ort hatten die Einwohner aber mehr Glück. Dort war gegen die Autorennen eine Bürgerwehr aufgestellt worden. Nach einigen spektakulären Aktionen, die auch in den überregionalen Medien Beachtung fanden – unter anderem kamen bei einem Rennen mehrere Güllewagen und Miststreuanhänger zum Einsatz – hatten die Organisatoren die Rennen in andere Orte verlegen müssen. Daher war das aktuelle Rennen in dieser Nacht in Buchthausen angesetzt worden.

Die Rennankündigung was das Zeichen für Mathias Ecke, den »Buchtblogger«, sich sofort in sein Auto zu setzen und in die Oberstadt zu fahren. Seit er nach Buchthausen umgezogen war, schrieb er in seinem Blog über das lokale Geschehen.

Endlich passierte einmal etwas Aufregendes in der an sich zwar schönen, seiner Meinung nach für junge Leute aber ziemlich langweiligen Stadt. Und dieses Ereignis war wahrscheinlich einen oder gar mehrere Blogeinträge wert.

Buchthausen war eine mittelgroße Stadt an einer großen Bucht eines süddeutschen Binnensees. Wie überall in der Region hatte sich in der Stadt einiges an mittelständischer High-Tech-Industrie angesiedelt, daneben spielte der Tourismus eine recht große Rolle. Buchthausen besaß zwei Sportboothäfen, die in der Sommersaison bis auf den letzten Platz gefüllt waren. Für die Wintersaison gab es sogar drei Skilifte an den Hängen der angrenzenden Hügel, die nach vielen schneearmen Jahren in den letzten zwei Jahren wieder in Betrieb genommen werden konnten. Die Stadt warb mit der schönen Lage (»wohnen und arbeiten, wo andere Urlaub machen«) und tatsächlich hatte sich so viel Industrie ansiedeln wollen, dass kürzlich erst ein neues Industriegebiet erschlossen werden musste. Die bevorzugte Wohnlage befand sich in der sogenannten »Oberstadt« mit schönen Ausblicken auf die Bucht und den See – und mit entsprechenden Immobilienpreisen.

Heute Nacht wollte der »Buchtblogger«, wie er sich selbst nannte, vor Ort Fakten über dieses Autorennen sammeln, und darüber in einem Blogeintrag zu berichten. Er lud sein Notebook in eine Tasche und nahm eine zweite Tasche mit, in der sich seine Fotoausrüstung befand. Er fuhr ins Industriegebiet und versteckte sich mit seinem Auto auf einem leeren Parkplatz eines Industriebetriebs.

Er hoffte, dass er mit der Auswahl seines Standortes richtig gelegen hatte, denn er hatte außer der SMS-Nachricht keine weiteren Informationen über das Rennen recherchieren können. Die schnurgerade Straße, die er ausgesucht hatte, begann an einem großen Werbeschild »noch Grundstücke frei«. An der Straße gab es daher noch kaum neue Bebauung. Viele leere Grundstücke und neu gepflanzte noch recht kleine Bäume machten die Straße weit einsehbar. Dies schien der Ort zu sein, der die besten Bedingungen für Beschleunigungsrennen aufwies. Mathias schaltete die Innenbeleuchtung aus, dass sie sich auch nicht beim Türöffnen automatisch einschaltete. Er wollte nämlich möglichst nicht auffallen.

Schon bald kam Bewegung auf, und als die ersten der Hobbyrennszene zuordenbaren Fahrzeuge eintrafen, war Mathias sich jetzt sicher, am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein.

Nach und nach trafen die Teilnehmer des Rennens ein und der vereinbarte Treffpunkt füllte sich langsam mit Fahrzeugen und Zuschauern. Mathias bereitete seine Kameras vor. Er hoffte, einen Blogeintrag mit vielen, vielleicht auch spektakulären, Bildern anreichern zu können. Andere Rennteilnehmer oder Schaulustige fanden sich nicht auf dem Parkplatz ein, er war wohl zu weit vom Geschehen entfernt.

Aus einem tiefer gelegten Kleinwagen, dessen Rückbank durch eine Halterung für Lautsprecher in allen möglichen Größen und Formen ersetzt worden war, ertönte laute Musik, die von wummernden Bässen untermalt wurde. Zahlreiche Zuschauer bildeten eine Gasse, durch die immer jeweils zwei Fahrzeuge nebeneinander zum Start rollten. Auf der anderen Seite des kanalisierten Bachs, der parallel zur Straße angelegt war, fuhr langsam ein unbeleuchtetes dunkles Fahrzeug entlang. Niemand bemerkte etwas, auch Mathias nicht.

Er befestigte ein Saugnapfstativ auf seinem Autodach und schraubte die Kamera daran fest. Mit einem schwenkbaren Monitor sollte er alles im Blick haben.

Bald wechselte er auf ein sehr lichtstarkes Teleobjektiv und machte aus der Ferne ein paar Bilder der Startvorgänge. Die Bilder waren trotz der Dunkelheit gutes Rohmaterial, um daraus etwas Brauchbares zu gestalten. Daher übertrug er die Bilder von der Kamera auf sein Notebook und bearbeitete sie, indem er mehrere Bilder unterschiedlicher Belichtungsstufen elektronisch zusammenfügte, um eine gleichmäßige Helligkeit hineinzubringen. Es war ja auch kurz vor Mitternacht. Anschließend verpixelte er die Gesichter der Menschen und die Kennzeichen der Fahrzeuge. Einige Fahrzeuge waren aber aufgrund ihres Aussehens eindeutig zu identifizieren und wohl auch eindeutig Fahrern zuzuordnen, dennoch wollte Mathias selbstverständlich trotzdem einiges verpixeln. Er hätte es auch bleiben lassen können, denn ähnliche Bilder sollten wahrscheinlich sowieso bald in den Social Media kursieren, und schließlich fand das Ganze auch noch auf Öffentlichem Grund statt. Mathias schloss das Bildbearbeitungsprogramm, startete die Verwaltungssoftware seines Blogs, fügte die gerade bearbeiteten Bilder ein und begann zu schreiben.

Beschleunigungsrennen mit echten Fahrzeugen sind doch schon etwas anderes und vielleicht auch gefährlich. Aber das ist immer noch besser, als zu Hause vor der Videospielkonsole zu sitzen. Warum legalisiert die Stadt solche Rennen nicht einfach? Wir haben hier doch vor Ort schon eine Art Rennstrecke, nämlich das alte Militärflugfeld (das ist zwar im privaten Besitz, soweit ich weiß, aber da ließe sich bestimmt eine Lösung finden). In den USA, glaube ich, tritt die Polizei bei Beschleunigungsrennen sogar mit eigenen Fahrzeugen gegen die Tuner an.

Schaut euch die Bilder an, wie viel Spaß alle haben.

Denkt ’mal darüber nach. Euer Buchtblogger.

Zwei in auffälligen Farben lackierte Autos, an die weit über die Karosserie herausragende Kotflügelverbreiterungen und entsprechende Breitreifen montiert waren, nahmen die Startaufstellung ein. Der auf einer Verkehrsinsel stehende, als Starter fungierende Junge hielt seine mit goldenen Plaketten verzierte Schirmkappe in die Höhe und senkte sie abrupt. Die zwei Autos fuhren mit quietschenden Reifen los. Aus dem dunklen Fahrzeug auf der anderen Seite des Bachs lud jemand einen großen Gegenstand aus. Niemand bemerkte etwas.

Noch zeigten sich in den umliegenden Häusern, sofern sie keine reinen Industriebetriebe waren, keinerlei Reaktionen, alle Fenster blieben dunkel. Auch waren von den Spähern noch keine Polizeiaktivitäten gemeldet worden, wie Mathias auf den einschlägigen Social-Media-Seiten nachlesen konnte, und so wurde die Stimmung auf der improvisierten Rennstrecke immer ausgelassener.

Der Starter winkte die zwei Fahrzeuge der nächsten Paarung zur Startlinie. Neben dem Starter stand ein weiterer Jugendlicher mit einem Pad-Rechner im Arm und erfasste die Namen der Fahrer. Die Person, die etwas aus dem dunklen Fahrzeug ausgeladen hatte, trug dieses Bündel nun zu einem Baum und hängte es mit einem Seil an einem großen Ast auf. Danach ging die Person zu ihrem Fahrzeug zurück. Das Rennen ging weiter und niemand bemerkte etwas.

Ein amerikanischer Straßenkreuzer älteren Baujahres näherte sich, fuhr in eine Parkbucht und wurde unter lautem Johlen der Menge empfangen. Der Fahrer nahm ein Kästchen in die Hand und aktivierte die Hydraulik. Der so genannte »Lowrider« begann, sich zu heben und zu senken. Applaus brandete auf. Das dunkle Fahrzeug entfernte sich leise und ohne die Scheinwerfer einzuschalten. Niemand bemerkte etwas.

Die noch nicht gestarteten Fahrzeuge wendeten in einer Hofeinfahrt eines Industriebetriebs. Eines der Autos mit besonders hellen LED-Scheinwerfern kam beim Wenden mit einem Vorderrad auf den abgeschrägten Bordstein einer Verkehrsinsel. Der Lichtkegel der Scheinwerfer erfasste etwas an dem Baum neben dem Bach Hängendes, so dass der Fahrer erschreckt auf die Bremse trat.

Der Starter rief: »Na los! Auf geht’s!« und winkte mit seiner Schirmkappe.

Der stehen gebliebene Fahrer verharrte jedoch in seiner Schockstarre und blickte mit weit aufgerissenen Augen auf den Baum. Auch der Starter drehte sich jetzt um und schaute in Richtung der Brücke. Im einem Baum neben der Brücke hing ein länglicher Gegenstand in etwa der Größe und Form eines menschlichen Körpers. Immer mehr Zuschauer wandten sich vom Rennen ab und schauten zur Brücke. Jemand richtete eine starke Taschenlampe auf den Gegenstand und als der Lichtstrahl ein menschliches Gesicht erfasste, ging ein Stöhnen durch die Menge.

Mathias war ebenfalls geschockt und schaute durch das Teleobjektiv. Da hing tatsächlich etwas im Baum, aber es war zu dunkel, Details erkennen zu können.

Das Rennen löste sich genauso schnell auf, wie es begonnen hatte. Frauen kreischten und alle liefen durcheinander. Autotüren wurden zugeschlagen und die Fahrzeuge entfernten sich nach und nach zügig in verschiedenen Richtungen. Erst jetzt wurden in den umliegenden Häusern Lichter angeschaltet. Schon sah Mathias in der Ferne die ersten Blaulichter.

Jetzt kam auch ein anhand einer Uniform als Wachdienst einer Firma erkennbarer Mann mit einer starken Taschenlampe hinzu, um sich das Ganze genauer ansehen zu können. Mathias schaute wieder durch das Teleobjektiv. Nun konnte er das angeleuchtete Objekt besser erkennen und machte rasch ein paar Bilder. Es war der Körper eines junges Mädchens, vielleicht im Teenageralter.

Nach nur wenigen Minuten trafen Notarzt und Feuerwehr fast zeitgleich ein. Ein Feuerwehrmann ging zum Heck des Feuerwehrfahrzeugs, steckte eine Handkurbel ein und fuhr einen Lichtmast aus, der bald darauf die Szenerie in ein grelles Licht tauchte. Die mit angerückte Drehleiter brachte sich in Position. Rasch machte Mathias noch ein paar Bilder, bevor die Feuerwehrmänner mit Hilfe der Drehleiter den Körper vom Baum abnahmen und auf eine Trage legten. Der Notarzt beugte sich über den Körper und untersuchte ihn.

Jetzt kam auch die Polizei mit mehreren Streifenwagen vorgefahren und sperrte den Bereich mit einem rot-weiß gestreiften Flatterband großzügig ab. Mathias schaute sich um und stellte fest, dass in den umliegenden Gebäuden immer mehr Lichter eingeschaltet wurden. Der Notarzt deckte den Körper vollständig zu, was nur heißen konnte, dass das Mädchen definitiv tot war. Mathias lief es kalt den Rücken herunter.

Schon bald gesellte sich auch ein Zivilfahrzeug der Polizei zu den anderen Einsatzfahrzeugen. Offensichtlich war die Kripo jetzt auch vor Ort. Mathias überlegte, ob er seine Bilder der Kripo zur Verfügung stellen sollte, kam aber sehr schnell zu dem Schluss, dass er sich dadurch unnötig verdächtig machen konnte; den Ermittlungsbehörden traute er in dieser Beziehung nämlich nicht wirklich. Er würde unangenehme Fragen beantworten müssen, zum Beispiel warum er genau zum passenden Zeitpunkt am passenden Ort gewesen war und auch warum er zufällig die passende Ausrüstung mit sich führte, wie das starke Teleobjektiv. Ob und wie er hierzu noch einen Blogeintrag schreiben wollte oder sollte, hatte er aber noch nicht entschieden.

Um nicht aufzufallen, mischte er sich daher unter die wenigen Schaulustigen, die sich trotz der nächtlichen Stunde vor der Polizeiabsperrung eingefunden hatten, den Rechner und die Kamera ließ er aber im Auto. Auf diesen waren nämlich die Originale der Bilder mit allen Informationen gespeichert. Ins Internet stellte er aber nur Bilder, auf denen diverse Dinge, wie Gesichter oder Autokennzeichen, verpixelt wurden und die als Aufnahmezeitpunkt den 12.12.2012 um 12:12:12 Uhr, als Kameratyp Lochkamera sowie die Koordinaten 542958,6′′N 101625,3′′E besaßen.

Schon bald kamen zwei uniformierte Polizisten auf die Schaulustigen zu und forderten diese in mehr oder weniger lautem Befehlston auf, den Bereich zu verlassen. Ein Schaulustiger argumentierte, dass sie sich doch vor der Absperrung befanden, aber dies ließ die Polizisten nur ein paar Nuancen lauter werden. Mathias schloss sich der Schaulustigengruppe an, um dann unbemerkt zu seinem Parkplatz zu gelangen. Schnell setzte er sich wieder in sein Auto und fuhr nach Hause. Er empfand dies als recht cleveren Schachzug, sich nicht heimlich davonzustehlen, sondern sozusagen von der Polizei »hochoffiziell« weggeschickt zu werden. Zusätzlich hatte er versucht, sein Gesicht möglichst im Schatten zu halten, um nicht aufzufallen.

Der Parkplatz, auf dem Mathias geparkt hatte, besaß eine Ausfahrt in eine Parallelstraße, so dass er dem Großaufgebot an Blaulichtfahrzeugen nicht in die Quere kam. Er empfand es jetzt in der Dunkelheit als eine sehr surreale Erfahrung, in der Nähe und in der Ferne so viel Blaulicht zu sehen. Erstaunt war er darüber, dass niemand diese Route nahm. Er dachte nämlich, dass für das Rennen vorher alles genauestens ausgekundschaftet wurde, auch mögliche Fluchtwege.

Zu Hause angekommen, warf er seinen Fotorucksack erst einmal auf einen Sessel und ließ sich auf ein Sofa fallen. Er musste mehrmals tief durchatmen und bildete sich ein, dass seine Hände und Beine leicht zitterten. Er musste das gerade erlebte erst einmal verdauen.

So hatte er sich es nicht vorgestellt, als er darauf hoffte, dass in Buchthausen einmal etwas Aufregendes passieren sollte. Erst gegen halb drei Uhr morgens ging er zu Bett. Ausreichenden Schlaf bekam er diese Nacht aber nicht wirklich, immer wieder hatte er das Bild des am Baum hängenden Mädchens vor Augen.

Gleich am nächsten Morgen durchforstete er beim Frühstück die wichtigsten Nachrichten- und Social-Media-Seiten und wurde prompt fündig. Sein Schlafdefizit hatte sich spontan verflüchtigt, denn gleich das erste Bild zeigte eine Schule in Buchthausen. Auf der Treppe, die zum Haupteingang der Schule führte, waren schon einige Plüschtiere, Kerzen, Blumen und kleine Papptafeln (»Die Klasse 8a vermisst Dich!«) abgelegt und aufgestellt worden. Er bekam einen Kloß im Hals. Das waren Bilder, die er sonst nur aus dem Fernsehen kannte, wie beispielsweise vor ein paar Jahren bei einem Amoklauf in einer Schule etwas mehr als einhundert Kilometer nördlich von Buchthausen.

Sehr schnell hatte er auch den Standort der Buchthausener Schule durch die in oder mit den Bildern gespeicherten Standortdaten herausgefunden. Immer wieder überraschte es ihn, wie leicht so etwas zu ermitteln war und wie sorglos die Menschen eigentlich in Internet unterwegs waren. Er selbst hatte, nicht dass er dem Verfolgungswahn anheim gefallen war, einfach ein beruhigendes Gefühl, dass sein Blog auf den Kokosinseln, einem kleinen Atoll zwischen Indonesien und Australien, registriert war und seine Bilder alle den Anschein hatten, irgendwo in der Ostsee aufgenommen worden zu sein. Auch war von seinem Gesicht kein einziges Bild im Internet zu finden, was er regelmäßig überprüfte.

Der neue Blogeintrag zum Autorennen hatte schon einige, sogar überwiegend positive, Kommentare erhalten. Mathias hatte ein paar Zuschauer gesehen, die auf ihren Mobiltelefonen Text eintippten. Die Wahrscheinlichkeit war recht groß, dass einige davon auch Kommentarschreiber in seinem Blog waren.

Tatsächlich hatte sich noch in der Nacht im Kommentarbereich eine lebhafte Diskussion entwickelt, wobei es zunächst nur um das Autorennen ging.

LowRider427CubicInch hat geschrieben:
Diese Art von Rennen legalisieren, um so die Kids von der Straße zu holen? Könnte klappen.

Red Reddington hat geschrieben:
Eben. Genau wie bei »Top Gear«, die haben auch einen ehemaligen Flugplatz als Rennstrecke.

LowRider427CubicInch hat geschrieben:
Das ist sogar ne richtige Rennstrecke, so mit Schikanen, langen Geraden, engen und weiten Kurven.

Cosima Clone hat geschrieben:
Und auf der Startbahn machen sie immer Beschleunigungstests.

Jeremy May hat geschrieben:
Nennen wir es doch trommelwirbel: »Buchthausen Gear«!

Buchthausener Faultierverleih hat geschrieben:
Hahaha, bin sofort dafür!

LowRider427CubicInch hat geschrieben:
meldebenfalls!

»Buchthausen Gear« klang wirklich hübsch, Mathias war immer wieder erstaunt über die Schwarmintelligenz des Internets.

Einen weiteren Blogeintrag, nun auch etwas zu dem toten Mädchen, wollte er nach der Arbeit am späten Nachmittag erstellen; bis dahin wollte er überlegen, ob er dazu seine am Vorabend gemachten Bilder der Leiche veröffentlichen sollte oder nicht.

Mathias arbeitete als IT-Anwendungsentwickler bei einem Direktmarketingunternehmen und das tote Mädchen war natürlich das Hauptthema in der Firmen-Kaffeeküche an diesem Morgen. Er konnte aber schlecht allen Kollegen mitteilen, dass er quasi live dabei gewesen war. Erste Stimmen wurden laut, die Auswirkungen auf den Tourismus befürchteten, da in einem halben Jahr die Eröffnung einer großen Gartenschau in Buchthausen anstand. Mathias war leicht angesäuert, aber ließ es sich nicht anmerken. Da gab es nun hier ein totes Mädchen und man kümmerte sich um die Auswirkungen auf den Tourismus… Schon baute sich in seinem Kopf der Text eines recht wütend gehaltenen Blogeintrags auf.

Aus den Bildern, die vor der Schule aufgenommen worden waren, wusste er, dass sie Johanna hieß und in eine achte Klasse ging, er schätzte ihr Alter also ungefähr auf dreizehn. So viele dreizehnjährige Johannas aus Buchthausen und der näheren Umgebung sollte es wohl nicht geben.

Da alle Datenbankzugriffe auf der Kundensysteme außerhalb von mit »Spieldaten« bestückten Testumgebungen sowohl stark eingeschränkt als auch sehr ausführlich protokolliert wurden, wollte er auf keinen Fall den Namen Johanna direkt abfragen. Ein Datenschutz-Auditor wäre spätestens bei seiner Prüfung der sogenannten Auftragsverarbeitung darauf gestoßen und hätte recht unangenehme Fragen gestellt. Hier musste Mathias taktisch vorgehen, um seine Neugier zügeln zu können, aber dabei nicht die mit dem Kunden vereinbarte Geheimhaltung zu verletzen.

Bei einer Toilettenpause hatte er die Idee, sich aus dem Fehlerticketsystem einen passenden Fehler herauszusuchen, der dringend zu beheben war und für dessen Behebung es aber auch zwingend erforderlich war, eine Datenbank auf der Produktionsumgebung abzufragen. So erteilte ihm sein Chef auch ohne Rückfragen den Lesezugriff auf die sehr umfangreiche Produktionsdatenbank eines bestimmten Kunden, und flugs hatte auch das Datenbankteam ihm die notwendigen Berechtigungen zugewiesen.

Er kam sich dabei vor wie ein Geheimagent, wie jemand von der CIA. Das I in CIA stand ja auch für « Intelligence«, was nicht mit »Intelligenz«, sondern mit »Information« zu übersetzen ist.

Damit er möglichst keinen Verdacht schöpfte, nahm Mathias sehr grobe Suchparameter, die er sowieso für den Datenbestand benötigte, mit dem er den Fehler auf einer Testumgebung nachstellen wollte. Nach kurzer Zeit erschien eine Liste mit einer etwas größeren Anzahl an Ergebnissen. Nachdem er sich umgeschaut hatte, dass ihm auch niemand über die Schulter sah, lud er die Ergebnisliste in einen Texteditor und durchsuchte sie nach Johanna.

Die Suche lieferte nur fünf Datensätze zurück, die Johanna enthielten. Schon die dritte Johanna in der Liste war ein voraussichtlicher Treffer, der von den Daten her gut zu passen schien. Vor allem war eine Adresse in Buchthausen angegeben.

Das musste jetzt zwar noch nicht wirklich etwas heißen, aber so hatte er jetzt auch für alle Fälle ihre Adresse. Mit dem richtigen Datenbestand in der Hinterhand war es schon überraschend einfach gewesen, ihre bereits in den Social-Media-Seiten aufgefundenen Daten zu komplettieren. Offenbar hatte das Mädchen seine Daten in einem Gewinnspiel offenbart, dessen Datenbestand seine Firma für einen Kunden betreute.

Den Rest des Tages konnte er sich aber nicht wirklich auf seine Arbeit konzentrieren, sondern musste immer an die tote Johanna und an seinen Blogeintrag am Nachmittag denken.

Auf dem Nachhauseweg hatte dann er in Gedanken schon den Blogeintrag fertiggestellt. Auf jeden Fall wollte er einen Bezug zum Rennen herstellen. Die Kernfrage lautete dann, ob es es sich tatsächlich um einen Suizid handelte oder ob die Leiche absichtlich dort aufgehängt wurde, um die Rennteilnehmer vielleicht abzuschrecken. Und wenn das Mädchen sich gerade dort umbringen musste, wo das Rennen stattfand, um wenigstens noch ein Mal Aufmerksamkeit zu bekommen? Alles war sehr suspekt. Wenn es denn ein Tötungsdelikt gewesen war, woher konnte der Täter, der bestimmt kein Rennbeteiligter gewesen sein konnte – man störte doch nicht seine eigene Veranstaltung – dann von Ort und Zeitpunkt des Rennens gewusst haben? Ein wenig Verschwörungstheorie konnte im Blog sicherlich nicht schaden, erst recht bei so einem Anlass.

Als erste Aktion, nachdem er zu Hause angekommen war, sichtete Mathias die über das allgemeine Kommentarfeld des Blogs eingegangene Nachrichten. Wie immer gab es viele Spam-Kommentaren von »Reichwerdexperten« wie es ein anderen Blogger immer ausdrückte, oder leicht durchschaubare Versuche, ihm Schadsoftware zuzuleiten. In den vom Spamfilter nicht abgewiesenen Kommentaren herrschte die Frage vor, warum der Buchtblogger nichts zum Leichenfund beim Rennen geschrieben hatte, wo er doch offensichtlich zumindest beim Rennen live dabei gewesen war. So schnell, wie der Enthusiasmus für »Buchthausen Gear« aufgeflammt war, so schnell war er auch wieder abgeflaut, das tote Mädchen überschattete einfach alles. Mathias beschloss daher, einmal in die Vollen zu gehen und jetzt (fast hätte er laut ausgerufen »endlich einmal!«) die volle Verschwörungstheorie-Breitseite abzufeuern.

Er schrieb daher in sein Blog:

Ich hatte ja im letzten Blogeintrag vom Rennen berichtet und dabei ist etwas vorgefallen, was bekanntlich zur vorzeitigen Beendigung führte (und ich hatte noch geschrieben, wie viel Spaß alle hatten…). Deswegen musste ich auch meine Gedanken erst sortieren, und hatte noch nichts dazu geschrieben, denn ich war ja live dabei gewesen. Vielen Dank auch für alle Nachfragen, meine Meinung scheint meinen Lesern wohl wichtig zu sein.

Habt ihr schon ’mal Tote gesehen? Ich meine, nicht den Opa beim Bestatter, hübsch zurechtgemacht, sondern in der »freien Wildbahn«?

Ein totes Mädchen hing also plötzlich an einem Baum. Plötzlich. Einfach so. Ein totes Mädchen!

Wie ich jetzt schon weiß, hieß sie Johanna und wohnte hier in Buchthausen. Leute, ihr glaubt gar nicht, wie schnell der Name ’rumging! Heutzutage ist und bleibt echt nix mehr geheim.

War es ein Suizid oder gar ein Gewaltverbrechen, das wie ein Suizid aussehen sollte? War es ein Zufall, dass es ausgerechnet während des Rennens passierte? Sollte das Rennen absichtlich gestört werden und wenn ja, von wem?

Fragen über Fragen. Denkt ’mal darüber nach. Euer Buchtblogger.

Er überlegte immer noch, ob er die Bilder des toten Mädchens vom Vorabend dem Blogeintrag hinzufügen sollte, fand dann aber die Zurschaustellung des an der Brücke hängenden Körpers doch äußerst pietätlos. Kurz darauf erstelle er noch einen Nachtrag zum Blogeintrag, in dem er genau dieses darlegte.

Update: Drei Dinge habe ich noch:

1. Wie ihr euch denken könnt, hatte ich Bilder vom Rennen gemacht, soweit das in der Dunkelheit möglich war.

2. Wie ihr euch wohl auch denken könnt, ließ es sich nicht vermeiden, dass auf ein paar Bildern auch das tote Mädchen zu sehen ist.

3. Wie ihr euch bestimmt auch denken könnt, hatte ich diese Bilder aber bewusst nicht in den Blog hochgeladen.

Noch mehr Futter zum Nachdenken. Euer Buchtblogger.

Schon bald trafen dazu die ersten Kommentare ein.

Robotnik Arisa hat geschrieben:
Richtige Entscheidung. Da gehe ich voll mit. Sensationsgeil können dann die anderen sein. Du hast dir nichts vorzuwerfen.

Buchthausener Faultierverleih hat geschrieben:
Ist ja auch sein Blog. Ich glaube, da wird man hier im Kommentarbereich auch keine gegenläufige Meinung lesen.

Knapp daneben ist auch vorbei hat geschrieben:
Und wehe es kommt hier doch jemand mit SEND PIX!!!1! um die Ecke: Dem kannste eigentlich sofort Kommentarfunktion, IP-Adresse, Nickname, Sauerstoff, whatever für immer sperren.

Robotnik Arisa hat geschrieben:
HandhebIch bin voll dafür. Der Buchtblogger hat schließlich hier das Hausrecht.

Weitere Kommentarschreiber zeigten volles Verständnis, dass er nicht gleich etwas zu dem toten Mädchen geschrieben hatte. Erwartungsgemäß überboten sich die Kommentarschreiber aber in immer abstruseren Verschwörungstheorien, dennoch herrschte auch bei den Kommentatoren Ratlosigkeit darüber, ob es nun ein Tötungsdelikt oder gar ein Suizid, ob der Fundort auch der Tatort war, ob das Rennen absichtlich gestört werden sollte und noch vieles mehr. Schon nach kurzer Zeit besaß dieser Blogeintrag so viele Kommentare wie die letzten fünfzehn Blogeinträge zusammen. Sein Blog schien wohl nicht ganz unbekannt zu sein.

Mathias fand es an der Zeit, der Sache etwas tiefer auf den Grund zu gehen.

Er hatte sich ein, mittlerweile nicht mehr so kleines, Hilfsprogramm geschrieben, welches das Internet nach bestimmten Suchkriterien durchforstete, und es »Sisu«, die »super-intelligente Suche« getauft. Obwohl er in der Firma etwas Ähnliches entwickelte, hatte er doch den Quellcode nicht aus der Firma entwendet – was auch einen groben Verstoß gegen seinen Arbeitsvertrag darstellen würde –, sondern er benutzte lediglich die gleiche Methodik. Es war eher anders herum, denn er dachte sich zu Hause neue Funktionalitäten aus, die er dann in die Firmensoftware übernahm. Auch verwendete er zu Hause ein ganz anderes Betriebssystem.

Erst später fand Mathias heraus, dass es einen gleichartigen finnischen Begriff »sisu« gibt. Die Finnen bezeichnen damit unter anderem Beharrlichkeit oder Durchhaltevermögen, wobei das Wort nicht präzise ins Deutsche zu übersetzen ist. Er fand aber, dass dies ganz gut zu seinem Suchprogramm passte, das es unter anderem auch so konfigurierbar war, um andauernd suchen zu können.

Er hatte das Suchprogramm mittlerweile immer weiter ausgebaut und war auch ein wenig stolz darauf. Vor allem nutzte er es für Recherchen zu Blogeinträgen, was den Rechercheaufwand gegenüber früher deutlich vereinfachte. Er konnte Sisu in beliebig festzulegenden Abständen oder auch dauerhaft suchen lassen. Es gab die Möglichkeit, in bestimmten Social Media, Presse-Webseiten, Blogs oder Foren nach Namen und Schlagworten zu suchen. Die Suche konnte weiter feinjustiert werden, zum Beispiel ob Namen, Bilder, Social-Media-Postings, Presseberichte in eine Übersichtsliste oder als Einzelergebnisse ausgegeben werden sollten. Auch gab es die Möglichkeit, mit Bildern gespeicherte Informationen, die sogenannten »EXIF-Daten«, zu durchsuchen und auszugeben.

Mathias startete die Suche und war gespannt, was diese einen dreiviertel Tag nach dem Leichenfund als Ergebnisse lieferte.

mateck@rechenknecht ~/sisu> Sisu.py --interval 15min --timeframe recent --socialmedia all --name Fischer --vorname Johanna --media pictures --searchEXIF --keywords Buchthausen Autorennen Industriegebiet Leiche --output CSV allFields

Schon bald hatte das Programm ein paar Bilder des an der Brücke hängenden Körpers gefunden. Nun brauchte er zumindest nicht mehr seine eigenen Bilder ins weltweite Netz stellen, da waren ihm andere zuvorgekommen. Auch hier stellten sich wieder die mit den Bildern gespeicherten Daten als sehr aufschlussreich dar. Aus den Standortinformationen und Kameratypen, übrigens ausschließlich Smartphones, konnte zusammen mit den Nutzerdaten der entsprechenden Mobilfunkzellen auf die jeweiligen Personen zurück geschlossen werden.

Dann war es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis diese Personen Post von Anwälten oder auch Besuch von Ermittlungsbehörden bekommen sollten. Mathias wusste schon, warum alle seine Bilder die Koordinaten eines recht bekannten Leuchtturms in der Ostsee bekamen. Oft wurde er dafür belächelt, weil er als in der IT Beschäftigter nicht das neueste beziehungsweise überhaupt kein Smartphone besaß. Genau deswegen benutzte er ein »nicht-smartes« und recht altes Mobiltelefon mit mehreren teilweise im Ausland gekauften SIM-Karten, die er regelmäßig wechselte. Deutlich moderner sah dagegen seine sonstige technische Ausstattung aus, aber auch dort hatte er diverse Vorkehrungen getroffen, dass möglichst wenig Aktivitäten direkt zu ihm zurückzuverfolgen waren – diverse Datenschutz- und Abhörskandale gaben ihm hierzu immer wieder Recht.

Immer noch gingen die Online-Diskussionen über den Grund des offensichtlichen Suizids des Mädchens weiter, denn »Sisu« gab alle fünfzehn Minuten neue Ergebnisse aus, deren Umfang nicht ab-, sondern eher zunahm. So musste Mathias ständig auch den vollen Namen des Mädchens, Johanna Fischer aus Buchthausen, lesen. Neu für ihn war aber, dass sie eine ältere Schwester Maja hatte, die aber nicht mehr zur Schule ging, sondern derzeit ein »Freiwilliges soziales Jahr« in einem Kindergarten absolvierte. Und das alles hatte jemand einfach so in einen Social-Media-Kommentar geschrieben.

Leichtsinnig war das alles, sehr leichtsinnig… Alleine zum Thema »leichtsinnige Informationsweitergabe in Social Media« hatte er bereits mehrere Blogeinträge im Hinterkopf.

In der Firma war er gerade in einem Projekt beschäftigt, welches neue Datenquellen für Marketing oder Direktmarketing erschließen sollte. Auch durch den Fall der an der Brücke hängenden Johanna hatte Mathias wieder viel gelernt, wie viel die Leute doch heutzutage von sich einfach so preisgaben. Er wollte daher in das Projekt einbringen, inwiefern man Standortdaten aus im Internet veröffentlichten Bildern zu Werbezwecken auswerten konnte. Dass dabei für seine Privatrecherchen Erkenntnisse abfallen würden, brauchte er ja nicht offen mitzuteilen. Den Job bei dem Direktmarketingunternehmen empfand er zwar weiterhin – auch aus diesen Gründen – moralisch als eher verwerflich, aber er hatte ein sicheres Einkommen und ein Arbeitsklima, welches sich von anderen Abteilungen des Unternehmens, wie vor allem den diversen dem Unternehmen angeschlossenen Callcentern, doch deutlich zum Positiven abhob.

Beim Frühstück entdeckte er, dass regionale Medien damit begannen, die Hintergründe zu analysieren. Prompt erkannte Mathias einige Passagen aus seinen Blogkommentaren und als Diskussionsbeiträgen anderer Internetseiten fast wortwörtlich wieder. Wieder konnte er sich bestätigt darin fühlen, warum er weder eine Tageszeitung noch eine Zeitschrift abonniert hatte, denn er sah die Eigenleistung dieser Medien mittlerweile durchaus als nur noch äußerst gering an. Er hatte sich darüber hinaus auch abgewöhnt, sich regelmäßig die dazugehörigen trotz Werbeblocker immer noch grell blinkenden Online-Auftritte anzusehen. Nur von Zeit zu Zeit kam er nicht daran vorbei, um sich ein Bild davon machen zu können, was zu diesen Zeitpunkt die öffentliche Meinung zu sein hatte. Genau hierzu hatte er aber »Sisu« entwickelt, welche lediglich Text zurückgab, außer er ließ die Software explizit nach Bildern oder Videos suchen.

Beerdigungen von Kindern und Jugendlichen waren im negativen Sinne immer etwas Besonderes, und Mathias hatte lange überlegt, ob er überhaupt zum Friedhof gehen sollte. Er wollte es davon abhängig machen, ob er in der Masse untergehen konnte oder nicht. Auf jeden Fall wollte er aber Distanz wahren, gehörte er doch nicht zur Familie oder war ein Mitschüler, sondern er hatte lediglich den Leichenfund beobachtet. Dennoch oder gerade deswegen fühlte er sich aber irgendwie doch in gewisser Weise dazugehörig.

Als ein paar Tage später Johannas Beerdigung stattfand, war auf den Zufahrtsstraßen zum Friedhof kein Durchkommen mehr. Mathias war froh, dass er zu Fuß gegangen war, da der Friedhof auch nicht weit von seiner Wohnung entfernt lag. Am Friedhof angekommen, konnte er dann auch sehen, was das Verkehrschaos verursacht hatte. Mehrere Übertragungswagen, die anhand der Aufschriften bekannten Fernsehunternehmen gehörten, blockierten einen Teil der Zufahrt und nahmen fast ein Drittel des Parkplatzes ein. Er spürte sofort den aufkommenden Unmut der Friedhofsbesucher über diese Blockade.

Er hatte sich zwar dunkel, aber nicht zu feierlich gekleidet, und die schwarze Krawatte hatte er im Kleiderschrank gelassen. Die eigentliche Zeremonie war dann recht schnell beendet und Mathias schloss sich den Trauergästen auf dem Weg zum Grab an. Er hielt sich aber im Hintergrund und verließ dann durch einen Nebenausgang den Friedhof, um nicht wieder den Medienvertretern über den Weg laufen zu müssen. Von Reportern unbehelligt kam er wieder zu Hause an.

In der Zwischenzeit hatte Sisu aus dem Vollen schöpfen können. Es konnten sich nämlich – und im Prinzip erwartungsgemäß – einige Medien in ihrer mittlerweile zur vollen Blüte entwickelten Sensationsgier nicht wirklich zurückhalten. Besonders zwei Boulevardblätter zeigten ohne jedes Gewissen auf ihren Social-Media-Seiten die weinende Familie und weinende Mitschüler auf dem Weg zum Grab in natürlich vollkommen unanonymisierten Aufnahmen.

Wie Mathias auf dem Weg zum Einkaufen in der Auslage eines Zeitungskiosks feststellen musste, hatten die Bilder auch dort einen großen Raum auf den Titelseiten eingenommen. Darüber hinaus wurde sich in den Artikeln der klassischen Medien erneut ausgiebig aus Online-Diskussionsforen bedient.

Dies alles machte ihn so wütend, dass er noch drei weitere Ergänzungen zu seinem letzten Blogeintrag schreiben musste, bevor er zu Bett ging.

Zeit für ein paar Updates, trotz der späten Stunde.

Update 2: Ich hatte doch geschrieben, dass ich mich entschlossen hatte, keine Bilder zu veröffentlichen was zu durchweg positiven Rückmeldungen geführt hatte. Und was finde ich jetzt wieder einmal bei den üblichen Verdächtigen unter den Medien: Bilder, Bilder, Bilder! Bilder, die wieder einmal nicht einen Millimeter breit die Privatsphäre der trauernden Familie respektieren!

Update 3: Hallo, Fernsehen: Hauptsache, den Friedhofsparkplatz so dämlich, so pietät- und gedankenlos blockieren, dass die Familie des Opfers Slalom um eure blöden Fernseh-Riesen-Lkw laufen muss 

Update 4: Hey, Zeitungen: Wenn ihr schon von mir oder anderen Blogs abschreibt, dann aber auch richtig. STRG+C und STRG+V gibt es schon seit Jahrzehnten. »Digitalisierung« heißt das, kennt ihr bestimmt oder etwa nicht?

Kein Wunder, dass euch niemand mehr mag. Kann weg. Kann wirklich weg. Wir Blogger werden euren Platz mit Freude einnehmen!

Denkt jetzt erst recht darüber nach! Euer Buchtblogger.

Das waren zwar seiner Meinung nach ziemlich drastische Worte, aber diese waren schon lange überfällig gewesen. Er war gespannt, wie vor allem diejenigen darauf reagierten, die der ganzen Welt freiwillig alle möglichen Informationen preisgegeben hatten.

Wie erwartet, was die Zustimmung in den Blogkommentaren sehr hoch, auch und gerade wegen der Wortwahl. Dabei hielt sich die ich-habe-aber-nichts-zu-verbergen-Fraktion auffallend zurück, und die meisten Kommentare gab es zum Verhalten der Fernsehteams.

LowRider427CubicInch hat geschrieben:
Ich kann die Nummer mit den dicken Ü-Wagen auch nicht verstehen. Heutzutage gibt es doch kleine und leistungsstarke Kameras und Mikrofone für wenig Geld vom Chines’, mit denen viele Leute ihre Videos aufnehmen und dann auf die üblichen Videoportale hochladen. Aber nein, die »klassischen Medien«, oder wie man das gleich nennt, fahren hier mit schwerem Gerät auf.

Saga Norén, Länskrim Malmö hat geschrieben:
Eben. Zusätzlich ist die Qualität von Hobbyvideos auch in den letzten Jahren gefühlt deutlich besser als in den klassischen Medien, wie du das völlig korrekt bezeichnest. Also nicht nur optisch, sondern vor allem auch inhaltlich.

Robotnik Arisa hat geschrieben:
Das ist nicht nur gefühlt so, sondern den Trend beobachte ich schon seit Jahren. Gilt auch für Blogs vs. Zeitungen.

Saga Norén, Länskrim Malmö hat geschrieben:
Stimmt, Blogs hatte ich vergessen. Vor allem das Blog hier hat mir schon so manchen »Augenöffner« serviert. Der Spruch mit STRG+C, STRG+V war übrigens klasse. Danke für den »Klartext«, danke Buchtblogger, wer immer du auch bist.

Buchtblogger (Autor/Admin) hat geschrieben:
Oh, gern geschehen. RotwerdIch fühle mich geehrt.

Schnell hatte sich Mathias’ Wut gelegt, nachdem er vor allem den letzten Blogkommentar gelesen hatte. Die von ihm schon befürchtete schlaflose Nacht fiel dann doch gar nicht so schlaflos aus.

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