Kapitel 7
Die Thronfolge

8 Familien | 4 Stunden | 1 Kaiser

Sie waren nun schon ziemlich lange auf dem Schiff eingeschlossen und befanden sich an einem Punkt, an dem die Ermittlungen nicht mehr wirklich voran kamen. So versuchten sie, die Zeit mit privaten Diskussionen totzuschlagen.

Jean-Jacques und Mike stritten sich bei ihrer Brückenwache darüber, welcher Spielfilm die beste Kampfszene hatte. Jean-Jacques war für Das Fünfte Element, Mike dagegen für John Carpenters Sie leben.

»John Carpenter ist der Beste – auch heute noch. Der Film ist sowieso völlig unterbewertet«, meinte Mike. »Du bist ja nur für Das Fünfte Element, weil da ein Franzose Regie geführt hatte, sozusagen aus Lokalpatriotismus.« 

»Ich bin Franko-Kanadier, kein Franzose«, entgegnete Jean-Jacques.

Taïrè, Nèřá und Anders betraten die Brücke.

»Andy, in welchem Film gibt es die beste Kampfszene?«, fragte Mike.

Dieser antwortete: »Das Fünfte Element. Ganz klar.« 

Jean-Jacques schaute Mike triumphierend an.

»Ist es die Szene mit der blauen Sängerin?«, fragte Nèřá. »Auch ohne die Nèk’h zu kennen, habt ihr in eurer Phantasie schon blaue Wesen geschaffen.« Sie blickte in die erstaunten Gesichter der anderen. »Jetzt schaut mich nicht so an. Nicht nur Toĝòf, auch ich habe mich mit terranischer Kultur und Geschichte befasst. Und besonders eure Spielfilme, alte und aktuelle, finde ich wahnsinnig aufregend.« 

Anders meinte: »Wir sollten uns beide Filme einmal ansehen, um uns dann entscheiden zu können. Mike?« 

Mike antwortete, dass er sich darum kümmern wollte. Zunächst aber musste seiner Ansicht nach vorrangig die Sicherheit des Schiffs deutlich verbessert werden.

»Bevor einer von uns draußen herumturnen muss, habe ich vor, eine Drohne oben am Kraterrand zu platzieren, um endlich eine bessere Datenverbindung zu bekommen. Auch sehen wir auf diese Weise schneller, wenn jemand zu Besuch kommt.« 

»Das hast du uns doch alles schon erklärt!«, beschwerte sich Nèřá.

Mike entgegnete: »Aber nicht denjenigen, die – hoffentlich – Drohnen fliegen können.« 

Taïrè fühlte sich angesprochen und sagte: »Ich bin Schiffspilotin und kenne mich mit der Steuerung von Drohnen überhaupt nicht aus!« 

»Das ist sicherlich korrekt«, bestätigte Mike. »Aber du bist nun einmal die Einzige von uns mit ausreichender Flugerfahrung. Außerdem kann man die Konsolen in einen Trainingsmodus umschalten, du kannst also zunächst einmal nichts kaputt machen.« 

Schließlich ließ sich Taïrè doch überzeugen, sich in die Drohnensteuerung einzuarbeiten.

Nach zwei Tagen war sie dann der Meinung, dass sie sich zutrauen könnte, eine Drohne zu steuern. Toĝòf erklärte sich bereit, unter Anleitung von ihr ebenfalls die Drohnensteuerung zu lernen.

In der Zwischenzeit hatte Mike in einem Frachtraum eine Drohne um noch fehlende Zurüstteile ergänzt und flugfertig gemacht. Die Drohne war eines der neueren Modelle, die mit vielen Video- und sonstigen Sensoren bestückt waren sowie auch leichte Waffen tragen konnten. Die Waffen hatte Mike aber erst einmal nicht ausgepackt.

Taïrè nahm an der Konsole Platz und setzte die Videobrille auf. Mike hatte ein Kamerasignal der Drohne auf eine Konsole im Frachtraum gelegt, so dass er den Flug mitverfolgen konnte.

Nachdem sie ein paar Proberunden im Frachtraum gedreht hatte und dabei keine Schäden anrichtete oder Mike verletzte, wurde beschlossen, nach draußen zu fliegen. Taïrè landete die Drohne sanft vor dem Tor der großen Frachtluftschleuse. Mike öffnete das Tor und die Drohne bewegte sich langsam in die Schleuse hinein. Nachdem das innere Tor geschlossen, der Druckausgleich durchgeführt und das äußere Tor geöffnet worden war, schaltete Taïrè die Außenscheinwerfer der Drohne ein und flog langsam aus der Luftschleuse heraus.

Mike hatte angeregt, einmal um das Schiff herum zu fliegen, um es nach Schäden untersuchen zu können. Diese »Ehrenrunde« brachte keine größeren Schäden zu Tage. Es gab nur ein paar nicht allzu tiefe Schrammen an der Stelle der Außenhülle, an der Taïrè mit dem Schiff einen Flügel des Flugdecktors gestreift hatte. Das Schiff – vor allem seine Außenhülle – war also noch vollkommen intakt.

Nach dieser eher erfreulichen Nachricht konnte die Drohne ihren Flug durch das Innere des Schiffswracks fortsetzen. Am Flugdecktor stoppte die Drohne und Mike ließ mit den Drohnensensoren Höhe und Breite der verbliebenen Öffnung vermessen. Er verglich die Messdaten mit den Angaben auf dem Bauplan des Schiffs.

»Das wird knapp, sehr knapp«, stellte Mike fest. »Zur Not müssen wir uns den Weg eben freischießen.« 

Vorsichtig durchquerte Taïrè mit der Drohne das Tor und ging dann in den Steigflug über. Kurz vor Erreichen des Kraterrands verlangsamte sie und ließ die Drohne vorsichtig über den Rand schauen. Mit einem vollen Schwenk von dreihundertundsechzig Grad wurde die Umgebung inspiziert. Zur Erleichterung aller waren keine anderen Schiffe oder Drohnen in Sicht oder von den Sensoren erfasst worden. Sie waren also – noch – alleine.

An einer Stelle des Kraterrands befanden sich einige Trümmerteile, dort landete die Drohne und konnte auf diese Weise etwas getarnt werden.

Mike kehrte auf die Brücke zurück und setzte sich an die Kommunikationskonsole. Mit den Systemen der Drohne peilte er erneut den Satelliten der Bergbaugesellschaft an. Schon nach wenigen Minuten stieß er einen Freudenschrei aus.

»Es funktioniert! Und es ist schnell«, jubelte er.

Sofort wurde er wieder ruhiger und ermahnte alle, dass dennoch weiterhin die Order galt, sich bei den Online-Aktivitäten eher unauffällig zu verhalten. Als nächsten Schritt verband er die Sensoren der Drohne mit der Navigationskonsole auf der Brücke und konnte feststellen, dass sich auch im weiter entfernten Umfeld des Asteroiden keine anderen Schiffe oder Drohnen befanden.

Mit der schnelleren Datenverbindung waren sie nun endlich auch wieder auf dem Laufenden, was das aktuelle Tagesgeschehen betraf. Wie sie erhofft hatten, ebbte das öffentliche Interesse an Tom, Taïrè und dem gestohlenen Schiff schnell ab. Auch die diversen staatlichen Organe hatten die Suche zwar noch nicht ganz eingestellte, aber es war das dafür abgestellte Personal deutlich reduziert worden – und sie suchten immer noch im falschen Sonnensystem, nämlich im Bereich der Erde. Taïrès Manöver in der Wurmlochpforte hatte ihnen also etwas Zeit verschafft. Obwohl Mike versucht hatte, alle Daten, unter anderem auch der Überwachungskameras, zu löschen, so war es doch nur eine Frage der Zeit, bis der Schwindel auffliegen würde und die Suche sich auf die nähere Umgebung von Tronòc verlagern würde. Daher war es wichtig, dass sie sich einerseits weiterhin ruhig verhielten und andererseits es entscheidend sein könnte, frühzeitig erkennen zu können, wenn sich ihnen jemand näherte.

Auch damit sie nicht erst mit dem ganzen Schiff aus dem Wrack herausfliegen mussten, um sich verteidigen zu können, wurde beschlossen, die anderen Drohnen ebenfalls flugfertig zu machen. Im Gegensatz zur Drohne, die am Kraterrand stationiert wurde, sollten diese Drohnen jetzt auch mit Waffen und mit Munition bestückt werden. Mike ging wieder in den Frachtraum und holte sich Tom und Taïrè als militärisch ausgebildete Experten hinzu, um die Drohnen vorzubereiten.

Taïrè musste sich noch einmal auf der Brücke an die Drohnenkonsole setzen und mit den zusätzlichen Drohnen weitere Testflüge im Frachtraum absolvieren. Die Testflüge waren schon nach kurzer Zeit erfolgreich und die Drohnen wurde in unmittelbarer Nähe der Luftschleuse abgestellt, damit die im Falle eines Falles schnell einsatzbereit waren.

Am nächsten Nachmittag saßen Toĝòf, Nèřá und Jean-Jacques zusammen in der Offiziersmesse. Toĝòf war noch ernster als sonst.

»Bitte hört mir zu«, begann er. »Wenn mir etwas zustößt, dann kümmert ihr euch bitte um meine Tochter!« 

Abwechselnd schaute er Nèřá und Jean-Jacques an. Jean-Jacques legte seine Hand auf Toĝòfs Hand, die auf dem Tisch lag und schaute ihm in die Augen.

»Versprochen!«, bestätigte er.

»Selbstverständlich!«, sagte Nèřá und legte ihre Hand dazu.

»Versprochen!«, meinte auch Bianca, die gerade zur Tür hereingekommen war und ihre Hand auf Nèřás Hand legte.

Ein weiteres »Versprochen!« kam von Tom, der nach Bianca in den Raum hereingekommen war und seine Hand obenauf legte.

Nèřá schaute Toĝòf an und bildete sich ein, dass sie Tränen in seinen Augenwinkeln entdeckt hatte.

Die Tage gingen dahin und sie hatten sich auf dem Schiff recht angenehm häuslich einrichten können. Mike versuchte weiterhin, dem Schiff alle seine weiteren technischen Geheimnisse zu entlocken. Eines Tages hatte hatte er wieder einmal im Computersystem des »Taktikraums« gestöbert. Dabei entdeckte er eine Software, mit der man die Thronfolge des tronischen Kaisers ermitteln konnte.

Die Ermittlung der Thronfolge war aus Gründen der Proporzwahrung recht kompliziert gestaltet. Damit alle acht Hohen Familien gleichmäßig berücksichtigt werden sollten und niemand durch einen Mord auf den Thron kommen konnte, war im Laufe der Jahrhunderte von vielen Gelehrten ein immer weiter verfeinertes Regelwerk verfasst worden. Als auch auf Tronòc vor etwa zwei Jahrhunderten Rechenmaschinen auf elektronischer Basis zum Einsatz gekommen waren, wurde die Thronfolge ebenfalls mittels Computerunterstützung ermittelt.

Mike kam die Idee, dass ein Putsch nur dann erfolgreich ausgeführt werden konnte, wenn auch die offizielle Thronfolge eingehalten würde, also auch ein ordnungsgemäß gewählter Kaiser das Ergebnis wäre. Das Schiff sollte offensichtlich im Falle eines Putsches sowohl den Putschisten als auch dem Kaiser und dem Kaiserhof als Zuflucht dienen. Mike schloss daraus, dass sich daher auch die Thronfolge-Berechnungs-Software in den Bordsystemen befand.

Er wollte daher das Programm auf der täglichen Taktikraum-Sitzung vorstellen und seine Gedanken den anderen aus dem Team mitteilen.

Nach und nach kamen alle durch die Tür herein und wiederum setzte sich Taé im letzten Moment um, so dass Nèřá wieder neben Mike Platz nehmen musste. Nèřá schaute Mike an und lächelte.

Als alle sich hingesetzt hatten, stand Mike wieder auf und begann die Sitzung damit, die Thronfolge-Software vorzustellen.

»Aber irgendwie bringt uns das auch nicht weiter«, ergänzte er resignierend, als er seine Erläuterungen beendet hatte.

Alle schauten auf die Familienstammbäume, welche die gesamte Breite der großen Displaywand einnahmen. Die acht tronischen Hohen Familien bildeten je eine Wurzel eines separaten Stammbaumes, für die einzelnen Personen waren neben dem Namen auch teilweise Bilder abgebildet. Eine gelbe Linie zeigte die aktuell vom Programm berechnete Thronfolgelogik an. Sie begann beim letzten Kaiser und endete bei einer Person, deren Angaben gelb umrahmt blinkten. An gesondert hervorgehobenen Punkten auf der gelben Linie konnte man weitere Informationen anzeigen lassen, zum Beispiel welche Regel an der betreffenden Stelle zur Anwendung kam.

»Taïrè, da bist ja du!«, rief Anders und zeigte auf eine bestimmte Stelle in dem Stammbaum ihrer Hohen Familie.

Sie erwiderte, dass dort aber ein altes und »furchtbar hässliches« Bild von ihr abgebildet sei. Sie bat Mike, das Bild bei Gelegenheit zu löschen oder durch ein aktuelleres zu ersetzen.

Nèřá zeigte plötzlich auf eine andere Stelle und behauptete, einen Fehler entdeckt zu haben.

Jean-Jacques meinte erstaunt: »Das siehst du so auf Anhieb? Ihr Nèk’h habt schon manchmal erstaunlich unheimliche Fähigkeiten.« 

Nèřá zog eine schiefe Grimasse und gab einen grunzenden Laut von sich.

Toĝòf sah sich die Stelle auf dem Display genauer an. »Du hast recht: Hier stimmt das Todesdatum nicht!«, bemerkte er.

Mike schaute in die Runde und fragte: »Jetzt aber ’mal ehrlich: Woher wollt ihr das so genau wissen?« 

»Ich hatte den Fall seinerzeit im DIID bearbeitet und Nèřá, die damals noch beim TCPD war, hat das irgendwie auch mitbekommen«, entgegnete Toĝòf. »Das war damals doch irgendwie merkwürdig. Der zuständige Gerichtsmediziner bestand darauf, den Todeszeitpunkt um vier Stunden, also von zwei Stunden nach Mitternacht auf zwei Stunden vor Mitternacht, nachträglich zu ändern.« 

»Also einen Kalendertag früher«, meinte Taïrè.

Toĝòf sagte: »Exakt. Ich erinnere mich deswegen daran so genau, weil der Gerichtsmediziner so hartnäckig war und sich nicht abwimmeln ließ. Ich habe es dann in der elektronischen Akte geändert. Und ich hatte mir nichts dabei weiter gedacht, da es sich ja lediglich um eine Verschiebung von ein paar Stunden handelte.« 

Jean-Jacques, der zuvor auf seinem Stuhl mehr lag als saß, war plötzlich hellwach und richtete sich auf. »War das nicht der Gerichtsmediziner, der mit seinem nagelneuen AirCar tödlich verunglückte?«, fragte er.

»Ja genau. Das ist aber ein merkwürdiger Zufall!«, sagte Bianca erstaunt. »Hat sich der Gerichtsmediziner bestechen lassen und dann das Datum ändern lassen?« Sie wandte sich an Mike. »Soweit ich die Thronfolgeregeln begriffen habe, beziehen diese ja alle Sterbedaten ein. Was passiert, wenn wir dieses eine Datum jetzt einmal ändern? Geht das überhaupt?« 

Mike nickte und begab sich an einen Touchscreen auf dem großen Konferenztisch. Er wählte die betroffene Person aus und änderte das Datum. »Ich gehe davon aus, dass der Datenbestand des Schiffes noch nicht entsprechend aktualisiert wurde. Daher stand hier noch das ursprüngliche Datum«, erläuterte er.

Auf dem großen Display änderte die bisherige gelbe Linie ihre Farbe in hellblau und eine neue gelbe Linie startete ihren Weg durch die tronischen Stammbäume. Sie nahm jetzt einen etwas anderen Verlauf als vorher und endete nun in einer anderen Hohen Familie bei einer anderen Person. Einer ihnen sehr bekannten Person.

Alle schauten Taïrè an. Sie wurde blass, als sie das Ergebnis sah. »Ich?«, fragte sie tonlos und schüttelte ungläubig ihren Kopf.

Anders antwortete: »Ja, langsam dämmert’s mir. Ich bin der Überzeugung, dass wir der ganzen Sache jetzt ein wenig näher kommen.« 

»Seit zweihundertfünfzig Jahren sind auch Frauen in die Thronfolge aufgenommen, insofern ist das korrekt«, ergänzte Nèřá.

Der Troner des »Drei-Knochenarten-Skeletts« war nicht im Thronfolgebaum zu finden, wie Mike feststellte.

»Kollateralschaden?« 

»Vielleicht. Aber es sollte wahrscheinlich nur der Ablenkung dienen.« 

»Warum konnte die Nèk’ha dann zügig durch Knochenmarkreste identifiziert werden?« 

»Fehler?« 

»Nein, nein, nein! Andy, diese Leute machen keine Fehler!« 

Die Diskussion wurde jäh unterbrochen.

»Stop!«, rief Taé, die bisher noch nie an den Besprechungen aktiv teilgenommen hatte. Daher blickten alle erstaunt zu ihr. »Seit hunderten von Jahren wurde nicht mehr versucht, sich zum Kaiser zu morden. Eben genau deswegen gibt es ja diese komplizierten Regeln!« 

Alle gaben ihr im Prinzip Recht, aber Anders war der Ansicht, dass ein hochintelligenter Täter mit genauester Kenntnis der Thronfolgeregeln die gesamte Aktion minutiös durchgeplant haben musste. Diese Tatsache könnte außerdem den möglichen Täterkreis eventuell ein wenig eingrenzen. Er schaute Mike schräg an, als er den Begriff »Mathegenie« ergänzte. Allerdings war ausgerechnet Taïrè als neue Thronfolgerin bestimmt worden, was ihnen in Bezug auf die Lösung ihrer Fälle überhaupt nicht weitergeholfen hatte.

Anders schloss seine Erläuterungen mit: »Wie Mike völlig korrekt festgestellt hatte, sind wir mit unseren Ermittlungen in einer Sackgasse angelangt und haben keine anderen Lösungswege mehr anzubieten. Leider sind wir jetzt auch noch in eine andere Sackgasse abgebogen.« 

Jean-Jacques meldete sich, indem er wie in der Schule eine Hand hob. »Ich habe einen Vorschlag: Jetzt tun wir einmal so, als wäre unsere bezaubernde Kaiserliche Hoheit – Aua!«, rief er, als die neben ihm sitzende Taïrè ihn auf den Oberarm boxte. »Also als ob sie tatsächlich ermordet worden wäre. Mike, bitte gebe den Tag ein. Das war der Tag, als das Schiff von Taïrè und Tom entwendet wurde.« 

»Nicht alle Mathegenies sind auch Serientäter«, sagte Mike leise grummelnd, als er die neuen Daten eingab.

Und wieder lief die gelbe Linie über die Anzeigewand und blieb bei einem neuen Namen stehen. Als Thronfolger stand jetzt plötzlich eine Person fest, mit der sie am wenigsten gerechnet hatten: Der stellvertretende Innenminister!

»Oh nein!«, rief Mike, der als Erster nach einer gewissen Schockstarre wieder das Wort ergriff. »Dieser – mit Verlaub gesagt – Idiot?« 

Er hatte von seinen höchsten Vorgesetzten, wie generell von allen Vorgesetzten, nicht die allzu beste Meinung. Und dieser kleine Giftzwerg war sein meistgehasster Chef.

Jean-Jacques zog eine Grimasse. »›Idiot‹ ist vollkommen korrekt. Hier gilt auch die Regel ›du sollst nicht schlecht über Vorgesetzte reden‹ nicht. Da sieht man dann wirklich auch eine Jahrhunderte lange Inzucht des Adels in Perfektion kumuliert«, bemerkte er sarkastisch. Er schaute zu Taïrè. »Das geht jetzt aber nicht gegen dich.« In Erwartung eines weiteren Treffers drehte er rasch den Arm von ihr weg.

Sie lachte. »Auch wenn du heute irgendwie ziemlich frech zu mir zu sein scheinst, so stimme ich dir doch zu. Wenn ich so sehe, was in meiner Familie für Gestalten herumlaufen… Allerdings haben wir im Laufe der Zeit einige Auffrischungen durch ›Bürgerliche‹ erfahren. Bei anderen Familien sieht das aber durchaus anders aus.« 

Sie wurde wieder ernst und meinte: »Eigentlich ist es ja sehr schade, dass Leute, die man normaler Weise nicht ernst nehmen kann, Posten bekommen, in denen man sie ernst nehmen muss!« 

Jean-Jacques überlegte, dass es wirklich nicht nachvollziehbar zu sein schien, wie der stellvertretende Innenminister zu seinem Posten gekommen war. Es sah nach einer Vergabe des Postens ausschließlich nach Adelszugehörigkeit und nicht nach Können aus. »Wahre Worte, gelassen ausgesprochen«, sagte er daher zu Taïrè. »Der Mann ist tatsächlich nicht zu unterschätzen!« 

Es begann eine angeregte Diskussion, in welcher auch zur Sprache gebracht wurde, dass ihnen bei ihren Ermittlungen doch einige Steine in den Weg gelegt wurden. Und wie sollte dies besser geschehen können, als von einer Stelle ganz weit oben in der Hierarchie… Mike wurde gebeten, noch einmal nachzuprüfen, ob alle Berechnungen auch korrekt waren. Er ließ die Berechnung erneut laufen, aber die gelbe Linie endete wiederum bei der gleichen Person. Das Programm lieferte erneut den stellvertretenden Innenminister als Ergebnis.

»Kann das so einfach sein?«, fragte Nèřá. »Eine Kaiserthronfolge exakt so zu gestalten, dass auch wirklich das gewünschte Ergebnis herauskam, wie Taé richtig bemerkte, wurde seit einigen hundert Jahren nicht mehr versucht – zumindest wurden die Regeln immer wieder angepasst und verfeinert.« 

Bianca meinte: »Ich behaupte einmal, konservative Kräfte, die im Prinzip auch nach Kriegsende noch ein gewisses Gewicht darstellen, würden eine formell ›korrekte‹ Thronfolge durchaus akzeptieren. Und dies unabhängig davon, was tatsächlich dahinter steckt, also auch so schreckliche Dinge wie Mord. Konservative neigen meiner Ansicht nach nämlich eher dazu, so etwas recht großzügig übersehen zu wollen. Es muss nur alles seine bestimmte ›Ordnung‹ haben!« 

»Dem muss ich leider zustimmen. Jemand hat außerdem einmal gesagt: ›Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben‹«, ergänzte Toĝòf.

Mike fragte: »Jemand?« 

»Dieses Zitat ist von einem Herrscher eines terranischen totalitären Staates auf einem Kontinent namens ›Europa‹, einem gewissen Walter Ulbricht.« Er konnte als Troner diesen Namen kaum aussprechen.

Mike war überrascht. »Es ist immer wieder erstaunlich, wie viel du über unsere Geschichte weißt. Und ich muss zugeben: Da hast du mir Einiges voraus! Europäische Geschichte ist nämlich eher nicht so das Spezialgebiet für mich mit meinen koreanischen und amerikanischen Wurzeln.« 

»Thronfolgetod«, murmelte Taé.

Anders fragte: »Wie bitte?« 

Sie erläuterte: »Thronfolgetod. Tod wegen der Thronfolge. Folge auf den Thron durch Tod.« 

Nun hatten sie immerhin eine Bezeichnung für das, was hier vor sich ging. Aber weiterhin stellte sich die Frage nach dem »Warum«. War jemand tatsächlich so kaltblütig?

Wieder meldete sich Taé zu Wort: »Ich tippe auf ein uraltes Motiv: Macht! Und wenn wir genauer nachbohren, lassen sich bestimmt noch einige weitere Morde zuordnen. Und dann hat der Mann wohl auch einen gehörigen Minderwertigkeitskomplex.« 

»Aber das hat der doch nicht selbst gemacht«, warf Bianca ein. »Der hat doch seine Handlanger.« 

Anders nickte zustimmend und meinte, dass man aber diese Hintermänner noch nicht kannte. Er schlug daher vor, sich von zwei Seiten zu nähern. Einerseits sollte das Umfeld des stellvertretenden Innenministers näher beleuchtet werden. Andererseits sollten sie versuchen, über die bisherigen und auch zukünftigen Opfer an die Sache heranzugehen. Da die Opfer nur bestimmte Troner aus Hohen Familien waren, also diejenigen, die in möglichen Szenarien für eine erneute Thronfolge vorkommen würden, lasse sich die Suche seines Erachtens außerdem recht gut eingrenzen.

Mike bot sich an, ausgehend vom stellvertretenden Innenminister in der Thronfolge-Software verschiedene Szenarien durchzuspielen und somit eine mögliche neue Strategie ermitteln zu können. Er war sich nämlich nicht sicher, ob es nicht doch möglich war, durch bestimmte Morde an bestimmten Personen an bestimmten Tagen die Thronfolge noch auf den erforderlichen Pfad umlenken zu können. Mike vertrat nämlich die Ansicht, dass kein mathematisches Modell hundertprozentig perfekt war, also eine mehr oder weniger große Anzahl von Fehlern, nicht berücksichtigten Sonderfällen oder Ungenauigkeiten enthalten müsste. Genau nach diesen hatte er vor zu suchen. Er wollte sich dabei von Nèřá Unterstützung holen, da ihm an ihr doch gewisse mathematische Fähigkeiten und gewisse logische Denkprozesse aufgefallen waren, die um Einiges über das Normalmaß hinausgehen schienen. Nèřá schaute etwas verlegen, da Nèk’h wohl eine solches direktes Lob noch nicht unbedingt gewohnt waren.

Taé rutschte schon einige Zeit unruhig auf ihrem Stuhl herum und nachdem Anders und Mike ihre Ausführungen beendet hatten, platzte es förmlich aus ihr heraus. »Wir haben jetzt allerdings noch ein viel größeres Problem, als ich gedacht hatte«, sagte sie hastig. »Tom, du hast durch die ›Entführung‹ dem Täter oder den Tätern alles mühsam Geplante mit einem Schlag zunichte gemacht.« 

Tom sagte: »Das könnte so stimmen. Und was bedeutet das jetzt genau?« 

»Das bedeutet, dass jetzt ein weiteres Motiv dazu kommt: Rache!«, meinte Taé.

Tom ließ nicht locker: »Und weiter?« 

»Daher unterstützen wir jetzt nicht nur die meistgesuchten Personen in zwei Sonnensystemen, also DIID, Polizei und alles an Staatsmacht ist wahrscheinlich auch hinter uns her. Sondern…«, sie machte eine Pause, »… auch sie sind jetzt hinter uns her!« Sie blickte in die Runde. »Jetzt schaut mich nicht so an. Als Tochter eines Polizisten wird von einem doch immer eine gewisse, sagen wir einmal, Fachkompetenz gefordert.« 

Wir sollten sie deutlich mehr in unsere Arbeit einbinden, dachte Anders. Sie ist ja schließlich auch kein Kind mehr.

»Der Gedanke ist an sich nicht schlecht«, warf Mike ein. »Aber offiziell haben wir alle doch Urlaub!« 

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