Kapitel 4
Die Befreiung

2 Geiseln | 10 Fliegen | 1 Großmutter

Sie waren zu spät gekommen und mussten nun den anderen Spuren nachgehen. Am nächsten Tag wurden daher am Schluss der »Morgenrunde« von Anders die neuen Aufgaben verteilt.

»Jay Jay, du schaust dir mit Agent Nèřá jetzt ’mal dieses Lagerhaus an.« Er zeigte auf eine Landkarte. »Da sollen angeblich ebenfalls Waffen aus dem Waffendepoteinbruch gelagert sein.« 

»Geht klar, Boss«, meinte Jean-Jacques.

»Agent Nèřá?«, fragte Nèřá verwundert.

Anders nahm ein Dienstmarken-Etui vom Tisch und klappte es auf. Neben einer Dienstmarke des DIID enthielt es einen Dienstausweis mit Nèřás Bild.

»Für die Dauer der Ermittlungen – die werden sich ja wohl noch etwas länger hinziehen und wir bekommen ja ständig etwas Neues hinzu – bist du uns jetzt zu hundert Prozent zugeteilt. Du bis jetzt also eine von uns. Willkommen offiziell beim DIID, Agent Nèřá!« 

»D–Danke«, stammelte sie verlegen und nahm ihre TCPD-Dienstmarke in die Hand. »Und was mache ich jetzt hiermit?« 

Anders antwortete: »Das behalte erst einmal. Man weiß ja nie, wann man so etwas einmal brauchen kann.« 

Er überreichte ihr das DIID-Etui und erklärte danach die Besprechung für beendet.

Jean-Jacques und Nèřá sprachen auf dem Flug nicht viel miteinander.

Zum ersten Mal war er nun mit der seiner Ansicht nach recht hübschen Nèk’ha direkt zusammen, seit sie dem DIID zugeteilt wurde. Unter Jean-Jacques’ vielen Damenbekanntschaften war bisher noch keine Nèk’ha gewesen, insofern ergab sich womöglich die Gelegenheit, seinen Horizont erweitern zu können. Weiterhin versuchte er aber, seinem sich selbst auferlegten Grundsatz zu folgen, keine Beziehungen mit Kolleginnen anzufangen. Er hatte aber auch schon registriert, dass Mike ebenfalls ein Auge auf sie geworfen hatte.

Jean-Jacques parkte den AirCar auf einem Parkplatz vor dem Bürogebäude, das mit dem Lagerhaus verbunden war.

»Warum ist Toĝòf nicht mit uns gekommen?«, fragte Nèřá.

Jean-Jacques antwortete: »Er ist mit Andy an der Entführungsgeschichte dran. Außerdem wollte Andy, dass wir einmal die Partner tauschen, daher sind wir zwei heute zusammen unterwegs.« 

Sie betraten das Gebäude durch den vorderen Eingang, der in einen Bürotrakt führte. Die Büros sahen zwar aus, als ob jemand darin arbeiten würde, aber sowohl in den Räumen als auch auf den Korridoren war niemand zu sehen. Als der Korridor einen Bogen machte, sahen sie zwei Personen vor einer Bürotür stehen, eine sehr große rothaarige Frau und ein etwas kleinerer Mann, beides Terraner.

Jean-Jacques erkannte in ihr sofort die bekannte Journalistin wieder. Auch Nèřá hatte den gleichen Gedankengang.

»Ist das nicht…?«, fragte sie.

»Ja genau, Bianca Kayser von Network News.« 

Schon hatte auch die Journalistin sie entdeckt und Jean-Jacques ging mit Nèřá auf die Journalistin zu.

»Hallo Bianca, was machst du denn hier?«, fragte er.

Sie antwortete, ohne die Frage zu beantworten: »Jay Jay! Natürlich! Das DIID also!« 

Nèřá wollte Jean-Jacques gerade fragen, woher er die Journalistin so gut kannte, dass sie sich direkt mit Vornamen ansprachen (Terraner hatten da eine besondere Logik, die sie nur teilweise durchschaute), da hörte sie, wie eine eine recht große Railgun abgefeuert wurde. Jean-Jacques hatte dies auch wahrgenommen, zog sofort seine Waffe und suchte hinter einem Schrank Deckung; Nèřá tat es ihm nach. Er fuchtelte mit den Armen und rief, dass Bianca und der Kameramann ebenfalls Deckung suchen sollten.

Dann schlugen die ersten Projektile in eine Wand neben ihnen ein. Jean-Jacques bekam starke Schweißausbrüche, als er wahrnahm, auf welche Art und Weise sie beschossen wurden. Die Projektile beschrieben nämlich eine bogenförmige Flugbahn, sie bogen sozusagen von einem in den anderen Korridor ab und kamen direkt auf die Gruppe zu. Und die Einschläge kamen immer näher. Nèřá sah Jean-Jacques mit weit aufgerissenen Augen an. Er zuckte mit den Schultern. So etwas hatte er, auch während des Krieges, noch nicht gesehen. Ein Projektil traf unvermittelt den Kameramann, der röchelnd zusammensackte und die Kamera fallen ließ.

Bianca schrie entsetzt auf.

Nèřá beugte sich über ihn und fühlte ihm den Puls. Sie schaute abwechselnd Bianca und Jean-Jacques an und schüttelte dabei den Kopf.

»Die haben meinen Kameramann umgebracht!«, rief sie.

Jean-Jacques bekam noch stärkere Schweißausbrüche. Als ob sich nicht schon genug Probleme auftürmten, nun hätten sie auch noch die Presse am Hals. Schlimmer noch, die tote Presse.

»Code Dreizehn! Code Dreizehn! Agents werden beschossen!«, brüllte Nèřá in ihr Komlet, nannte die Adresse und forderte Verstärkung an.

Wieder kam ein Geschoss aus dem Nichts und verpasste Bianca einen Streifschuss am Oberarm. Sie schrie auf und sackte zusammen. Jetzt wurde es Jean-Jacques zu bunt. Er hatte seine Waffe auf Dauerfeuer umgeschaltet und so arbeitete er sich bis zur Korridorbiegung vor. Die Gegenwehr zeigte augenblicklich ihre Wirkung, da die andere Seite das Feuer einstellte. Nèřá folgte ihm und gab ebenfalls einige Salven ab.

Er musste seine Waffe nachladen und ließ das leere Magazin seiner Waffe achtlos auf den Boden fallen. Schnell holte er ein gefülltes Magazin aus seiner Jackentasche und setzte es in die Waffe ein.

Nèřá warf sich zu Boden, rollte sich in Richtung des Korridorabzweigs und schoss auf dem Boden liegend in Richtung der Angreifer. Jean-Jacques schüttelte den Kopf und gab ihr zähneknirschend Feuerschutz, indem er wieder fast ein ganzes Magazin in Richtung der Angreifer feuerte.

Plötzlich gab es einen Schrei. Einer der Angreifer war wohl doch getroffen worden. Als Jean-Jacques und Nèřá sich vorsichtig den Korridor entlang bewegten, sahen sie einen Mann auf dem Boden liegen. Gerade noch konnten sie durch die Glasscheibe einer Tür, die nach draußen führte, einen anderen Mann weglaufen sehen. Immer noch sehr vorsichtig begannen sie, den bewegungslosen Mann zu untersuchen. Er war tatsächlich tot. Jean-Jacques nahm ihm die Waffe ab und war sichtlich genervt.

»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, hier so eine Nummer abzuziehen?«, herrschte er Nèřá an. »Immerhin bin ich der ranghöhere Agent und auch für dich verantwortlich!« 

Er überlegte, welche Art von disziplinarischen Folgen ihm wohl gedroht hätten, wenn sie als frisch eingesetzter DIID-Agent gleich am ersten Tag unter seiner Obhut erschossen worden wäre. Immerhin war sie schnell, sehr schnell; das musste er anerkennen.

Nèřá meinte nur, dass diese Aktion unter die beim TCPD übliche Eigeninitiative fiel.

Jean-Jacques hielt sie am Arm fest und knurrte: »Nächstes Mal stimmen wir uns vorher ab, verstanden?« 

Sie schaute ihm tief in die Augen und stammelte leise »verstanden«.

Zusammen gingen sie zurück zu Bianca. Aus der Ferne waren Sirenen zu hören.

Bianca hielt ein Tuch auf ihre Wunde und fragte: »Gibt das eine Narbe?« 

»Aber ja, wahrscheinlich fingerdick!«, lästerte Jean-Jacques. »Du kannst jetzt nichts Schulterfreies mehr anziehen!« 

Sie streckte ihm die Zunge aus und er wurde von Nèřá mit einem sehr finsteren Blick bedacht. Die ersten uniformierten TCPD-Polizisten betraten das Haus und wurden von Jean-Jacques eingewiesen, das Gebäude abzuriegeln, um niemanden Unbefugtes an die beiden Erschossenen zu lassen und die Spurensicherung zu unterstützen. Jean-Jacques hob die Kamera auf, Nèřá nahm Bianca in den Arm und gemeinsam gingen sie zu einem mittlerweile eingetroffenen Rettungswagen, um Biancas Wunde versorgen zu lassen. Vor der Absperrung fanden sich immer mehr Schaulustige ein.

Bianca setzte sich in den Rettungswagen und ließ sich ihre Wunde versorgen.

Plötzlich schob sie den sie behandelnden Rettungssanitäter zur Seite.

Leise sagte sie: »Jay Jay, da ist einer der Männer, die auf uns geschossen haben.« 

»Bist du dir sicher?«, fragte Nèřá.

»Ganz sicher. Das ist der mit der braunen Mütze. Gib’ mir bitte die Kamera.« 

Jean-Jacques reichte Bianca die Kamera

Sie zeigte ihnen eine aufgenommene Sequenz, aus der klar ersichtlich wurde, dass der Mann mit der braunen Mütze auf sie geschossen hatte und dann weggelaufen war, als Jean-Jacques und Nèřá das Feuer erwiderten. Die Kamera hatte sich wohl selbsttätig eingeschaltet, als sie auf den Boden gefallen war. Bianca hatte sie aufgehoben und zufällig in die Richtung gehalten, aus der die Schüsse gekommen waren. Der weglaufende Mann spiegelte sich in einer Glastür, er trug eine braune Strickmütze und hatte eine Waffe in der Hand.

Jean-Jacques zog Bianca zu sich.

»Alte Regel: beobachte die Schaulustigen«, flüsterte er. »Ein paar Dinge hast du ja noch behalten, Bianca«.

Sie verständigten sich darauf, dass Bianca im Rettungswagen bleiben sollte und Jean-Jacques mit Nèřá den Mann anschauen wollten.

Nèřá meinte: »Alles klar! Ich nähere mich ihm zu Fuß. Du nimmst den AirCar, um ihm den Weg abzuschneiden, falls er weglaufen will.« 

Er wunderte sich, wieso sie ihm, besonders nach ihrem eigenmächtigen Vorgehen vor ein paar Minuten, als ranghöheren Agent auf einmal auch noch Anweisungen erteilen wollte, und wollte gerade etwas erwidern, aber sie lieferte die Erklärung gleich nach.

»Vertraue mir. Nèk’h und vor allem auch Nèk’ha sind schnelle und ausdauernde Läufer. So sind wir genetisch entworfen worden. Ich laufe daher wahrscheinlich sehr viel schneller als du, obwohl du –«, sie musterte ihn, »– eigentlich sehr gut trainiert zu sein scheinst.« 

Sie griff unter ihre Jacke und schloss die Schnalle, die ihre Waffe im Schulterhalfter fixierte, damit diese beim Laufen nicht herausfallen konnte. Ihre Jacke knöpfte sie zu und ihr an einer langen Kette hängendes Etui mit Dienstausweis und Dienstmarke steckte sie unter die Jacke, damit es sie beim Laufen nicht behinderte.

Jean-Jacques gab den TCPD-Polizisten die Anweisung, sich um die Journalistin zu kümmern. Er betätigte die in seiner Jackentasche steckende Fernbedienung, um den AirCar in Betrieb zu setzen. Mit einem leichten Sirren starteten die Aggregate des AirCars und dieser erhob sich von seinen Parkstützen, um einige Zentimeter über dem Boden schwebend zu verharren. Er schaltete außerdem sein Komlet mit Nèřás Komlet direkt zusammen, so dass sie immer in Kontakt bleiben konnten.

Das mit dem Laufen müssen wir tatsächlich einmal nachprüfen, dachte er.

Leise sagte er: »Auf drei.« 

Sie nickten einander zu.

»Eins! Zwei!« 

Bei »Drei!« sprintete Nèřá los, diverse Schaulustige aus dem Weg stoßend. Der Mann mit der braunen Mütze erkannte dies, riss entsetzt die Augen auf, drehte sich um und lief in eine schmale Gasse hinein, die auf beiden Seiten von hohen Wohnblocks gesäumt wurde. Jean-Jacques sprang in den AirCar und klappte die Armlehne mit dem integrierten Steuerknüppel herunter. Er umfasste beide Steuerknüppel und zog diese hastig bis an den Anschlag nach hinten. Der AirCar bäumte sich mit dem Heck auf, so dass die vorderen Parkstützen funkensprühend über den Boden schrammten, und gewann rückwärts fliegend rasch an Höhe. In einer Höhe von etwa zehn Metern riss Jean-Jacques den rechten Steuerknüppel nach vorne und der AirCar wechselte nun die Richtung, um ein einer engen Linkskurve im Vorwärtsflug weiter aufwärts zu fliegen. Die Gasse war viel zu eng, um mit einem AirCar hindurch fliegen zu können, daher musste Jean-Jacques den längeren Weg oben über die Gebäude hinweg nehmen.

Ein schräg über ihm fliegender AirCar, dessen Flugbahn er zu schneiden drohte, begann zu hupen. Jean-Jacques hatte ganz vergessen, Blaulicht und Sirene einzuschalten und so holte er dieses jetzt nach. Der andere AirCar bremste und ließ ihn passieren. Als er in eine enge Kurve flog, um noch einem anderen AirCar auszuweichen, konnte er aus der offen gelassenen Tür unten in der Gasse Nèřá laufen sehen. Sie schien tatsächlich recht schnell zu sein und über das Komlet hörte er passend dazu ihren keuchenden Atem.

Aus dem Augenwinkel entdeckte er einen AirCar des TCPD über dem Wohnblock schweben und nahm mit ihm Kontakt auf, dass sie sich in der Parallelstraße am anderen Ende der Gasse treffen sollten.

Fast zeitgleich mit dem TCPD kam er am Treffpunkt an. Er sah, dass der Mann, den sie verfolgten, schon fast die ganze Gasse durchquert hatte. Er setzte seinen AirCar hart auf, klappte die Armlehne hoch und sprang heraus, dem aus dem anderen AirCar aussteigenden TCPD-Polizisten seine DIID-Dienstmarke zeigend.

Nèřá hatte währenddessen den Flüchtenden schon fast eingeholt und schrie, dass er stehen bleiben sollte. Der Mann mit der braunen Mütze blieb stehen und zog eine Waffe unter seiner Jacke hervor. Nèřá suchte sofort hinter einem Mauervorsprung Schutz. Jean-Jacques und einer der TCPD-Polizisten zogen ihre Waffen und richteten diese auf den Mann.

»Waffe fallen lassen und Hände über den Kopf!«, befahl der andere TCPD-Polizist über den Außenlautsprecher seines AirCars.

Nèřá kam hinter dem Mauervorsprung hervor und ging langsam mit der Waffe im Anschlag auf den Mann zu. Von der anderen Seite kamen Jean-Jacques und der TCPD-Polizist ebenfalls mit gezogenen Waffen näher. Plötzlich steckte der Mann mit der Mütze die Waffe in seinen Mund – und drückte ab. Die Mütze flog im hohen Bogen davon. Gehirnmasse und Blut spritzten aus dem aufplatzenden Hinterkopf heraus an die Wand. Der Mann sackte röchelnd zusammen und fiel so zu Boden, dass man direkt seinen zerfetzten Hinterkopf sehen konnte.

Der TCPD-Polizist stammelte: »Was zum…?« 

»Merde!«, fluchte Jean-Jacques.

Blut und Gehirnmasse liefen langsam die Hauswand hinunter, ein rot-graues Streifenmuster hinterlassend. Auf dem Boden um den Mann herum bildete sich eine große Blutlache. Nèřá beugte sich nach vorne und erbrach sich gurgelnd an eine Hauswand. Anschließend kniete sie auf den Boden nieder und ließ ihre Waffe fallen.

Das Gefühl des Ekels wurde den Blauen also nicht weggezüchtet, was sie irgendwie , er suchte nach einem passenden Begriff, – menschlicher macht, dachte Jean-Jacques.

Der TCPD-Polizist beorderte über sein Komlet Sanitäter und die Spurensicherung zum Anfang der Gasse.

Jean-Jacques ging zu Nèřá, half ihr auf und nahm sie in den Arm. »Geht’s wieder?« fragte er und reichte ihr ein Taschentuch.

Sie schaute ihn an, schüttelte ihren Kopf und wischte sich dann den Mund ab.

»Er hat sich erschossen. Erschossen. Einfach so.«, flüsterte sie und hatte Tränen in den Augen.

Jean-Jacques fragte: »Dein erstes Mal?« 

»Ich verstehe nicht«, erwiderte sie und schaute ihn fragend an.

»Dein erster Suizid?« 

Sie nickte schwach.

»Der erste Suizid direkt vor deinen Augen ist immer der Schlimmste. Was heißt das schon, es ist eigentlich immer grauenhaft. Man ist so hilflos. Ich werde Andy sagen, dass du dir ein paar Tage freinehmen sollst.« 

Nèřá lehnte jedoch den Vorschlag sofort ab. »Nein, nein! Arbeit lenkt mich ab!« 

Jean-Jacques sah aus den Augenwinkeln, wie Bianca mit der Kamera in der Hand auf sie zukam.

»Bianca, ich möchte dich bitten, das alles noch nicht auszustrahlen, zumindest nicht alle Details und auf keinen Fall Gesichter zeigen, um unsere Ermittlungen nicht zu gefährden. Versprochen?« 

Sie schaute ihn nur an, sagte aber nichts.

»Also gut, ich kann das Material auch gleich hier an Ort und Stelle beschlagnahmen; du kennst die Regeln. Komme bitte morgen ins DIID, anderenfalls werden wir mit der Kavallerie bei euch im Sender anrücken.« 

Bianca nickte schwach, was Jean-Jacques als Zustimmung wertete.

»Eine Frage hatte ich in dem ganzen Trubel ganz vergessen: Warum seid ihr eigentlich hier?«, legte er nach.

Sie antwortete: »Wir haben einen Hinweis bekommen, dass hier die Beute aus dem großen Waffenraub lagern soll.« 

Bianca packte ihre Sachen zusammen, stieg in einen AirCar mit der großen Aufschrift Network News und flog in Richtung des Stadtzentrums davon.

Auf dem Rückflug zum DIID war Jean-Jacques wieder auffallend schweigsam, er musste erst einmal seine Gedanken ordnen.

Was war geschehen? Der Mann, der ihnen eine Falle gestellt hatte, der offensichtlich am Mord des Kameramanns und auch am versuchten Mord an zwei DIID-Agents und einer Journalistin beteiligt gewesen war, hatte Suizid begangen. Was war so geheim, dass man es nicht der Polizei oder dem DIID überlassen konnte, was man auch nicht durch Gefangennahme bei Verhören verraten durfte? Jean-Jacques hatte keine Antwort. Der ganze Fall – und er war jetzt überzeugt, dass es sich um einen Fall handeln musste – wurde wirklich immer verzwickter. Da die Information über das Lagerhaus nur bestimmten Personen im DIID zugänglich gemacht wurde, hatte er jetzt endlich seinen Verdacht einer undichten Stelle bestätigt bekommen und leichte Wut stieg in ihm auf.

Auch als sie den AirCar abgestellt hatten und das DIID-Gebäude betraten, hüllte sich Jean-Jacques weiterhin in eisiges Schweigen.

Nèřá brach das Schweigen, indem sie fragte: »Woher kennst du eigentlich Bianca Kayser? Ich wusste gar nicht, dass ihr so einen guten Kontakt zum Fernsehen habt.« 

»Den haben wir eigentlich auch nicht; das ist eine lange Geschichte…« 

Er konnte den Satz nicht mehr vervollständigen, da ihnen Toĝòf über den Weg lief.

Jean-Jacques schob Toĝòf vor sich her und stieß ihn gegen die nächst gelegene Wand. Er hegte schon seit einiger Zeit den Verdacht, dass etwas mit Toĝòf nicht stimmte, und hatte daher die Information über das Lagerhaus nur erfunden und ihm bewusst eine Falle gestellt. Ähnliches hatte er auch noch mit Nèřá vorgehabt, aber da die undichte Stelle nun offenbar gefunden wurde, brauchte er diese Aktion nicht weiterführen.

»Das war eine gottverdammte Falle!«, schrie er. »Du bist ein verdammter Verräter! Wie sonst können die anderen erfahren haben, was wir vorhatten? Und wo, verdammt nochmal, kam das verdammte Fernsehen her?« 

Er hielt Toĝòfs Oberarme weiterhin mit festem Griff gepackt.

Anders kam aus seinem Büro gelaufen. »Was ist hier los? Jay Jay, lass ihn sofort los! Und was ist mit dem ›verdammten Fernsehen‹?« 

»Dieser Scheiß-Troner ist ein Spion«, sagte Jean-Jacques atemlos und zeigte auf Toĝòf. »Die Sache mit dem Lagerhaus war eine Falle. Wir wären fast alle getötet worden.« 

Anders sah zu Nèřá. Sie erläuterte, dass es eine wohlgeplante Falle war. Wäre nicht Jean-Jacques dabei gewesen, dann hätte es wahrscheinlich sehr schlecht ausgesehen. Trotzdem hatte es drei Tote gegeben, den Kameramann und die beiden Angreifer.

»Oh, das mit dem Fernsehen wirst du lieben. Sie kommt morgen früh hier vorbei«, ergänzte Jean-Jacques mit einem mehr als deutlichen sarkastischen Unterton in der Stimme.

Anders ignorierte dies aber und schaute Toĝòf tief in die Augen und sagte: »Toĝòf, ich möchte eine Erklärung.« 

Toĝòf wandte seinen Blick ab und sagte leise: »Ich konnte nicht anders. Sie haben mich in der Hand.« 

Er senkte seinen Kopf und sagte mit versagender Stimme, dass seine Ehefrau und seine Tochter entführt wurden.

»Wie bitte? Sie haben sie entführt?«, fragte Nèřá erstaunt.

Toĝòf nickte schwach und sank an der Wand herunter, bis er auf dem Boden saß.

»Warum hat du uns das nicht früher gesagt?«, fragte Jean-Jacques. »Du müsstest jetzt eigentlich beurteilen können, ob und dass du uns vertrauen kannst.« 

»Hast du eine Ahnung, wo sie gefangen gehalten werden?«, fragte Anders.

»Ihr nennt diesen Stadtteil East Urban Area; das ist ein Stadtteil im östlichen Bereich des Großraums von Tronòc City. Dort in der Polizeiwache Nummer sechzehn, wenn man den Aussagen meiner Informanten trauen darf. Da diese Information aus mehreren voneinander unabhängigen Quellen stammt, gehe ich davon aus, dass sie wohl korrekt ist.« 

Jean-Jacques war fassungslos. »In einer Polizeiwache?«, fragte er.

Mike war gerade aus dem Labor gekommen und hatte die recht lautstark geführte Auseinandersetzung größtenteils mitgehört.

»Na klar doch, jede tronische Polizeistation hatte ihren geheimen Keller, in dem Gefangene eingekerkert werden. Das weiß doch jeder«, warf er spöttisch ein.

Toĝòf blickte zu Mike auf und bestätigte dies, indem er einen tronischen Begriff nannte.

Mike wurde blass. »Wie meinst du? Angst-Stockwerk? Soviel Tronisch kann ich noch, dass ich das verstehe. Ihr habt sogar einen eigenen Namen dafür? Ihr Troner macht mir manchmal wirklich Angst. Toĝòf, das sollte eigentlich ein Witz sein!« 

Jean-Jacques entgegnete: »Ich glaube, er meint es ernst.« 

Anders streckte seine Hand zu Toĝòf aus, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. »Wir holen sie da raus!« 

Als sie zum Besprechungsraum gingen, klopfte Jean-Jacques Toĝòf auf die Schulter. »Tut mir leid. Ich wusste gar nicht, dass du Frau und Tochter hast«, sagte er.

»Nein, es ist alles meine Schuld!«, entgegnete dieser. »Jean-Jacques, ich habe dich und Nèřá – und alle anderen auch – unnötig in Gefahr gebracht. Und Tote hat es auch schon gegeben!« 

Toĝòf wusste jetzt aber, dass er sich zukünftig hundertprozentig auf seine Teamkollegen verlassen könnte, sofern er sie nicht wieder enttäuschen würde. Er fühlte sich überaus erleichtert, obwohl er keine Informationen hatte, ob seine Familie noch am Leben war. Er wusste aber auch, dass sein Team alles versuchen würde, um sie zu befreien. Er bemerkte, dass er es jetzt nicht mehr als »das Ermittlungsteam«, sondern es als »sein Team« bezeichnete.

Anders eröffnete die Sitzung. Es stellte sich heraus, dass Toĝòf die Informationen an eine anonyme Komlet-Adresse weiterleiten musste. Mike bekam den Auftrag, den Inhaber dieser Adresse zu ermitteln und den Weg der Daten zurückzuverfolgen.

Er fuhr fort: »Nun zu Toĝòfs Familie. Wie finden wir heraus, wo genau sie im Gebäude versteckt gehalten werden und wie wir sie unbemerkt befreien können?«

»Wir nehmen Fliegen!«, rief Mike freudestrahlend dazwischen.

Nèřá schaute Mike an. »Was sind Fliegen?«

»Oh nein, Daniel Düsentriebs neueste Erfindung der Abhörtechnik!«, spottete Jean-Jacques.

»Wer ist Daniel Düsentrieb?«, fragte Nèřá.

»Ja ja, lästere du nur!«, brüllte Mike und zeigte mit dem Finger auf Jean-Jacques. »Vielleicht hat Herr Kampfsau ja eine bessere Idee?!?«

»Wir können ja mal vor die Tür gehen und sehen, was Herr Kampfsau für Ideen hat, was mit alles deinem Gesicht machen kann!«, bellte Jean-Jacques zurück.

Anders hob beide Arme, um die Sitzung wieder in geordnete Bahnen zu lenken. »Klappe halten! Alle beide! Sofort!« Er wandte sich wieder zu Mike. »Du hast mir mal davon erzählt - aber ehrlich gesagt, habe ich das damals nicht ganz begriffen. Was hat das mit den Fliegen auf sich?«

Mike stand auf und ging zur Wandkonsole neben dem großen Monitor. Er drückte ein paar Knöpfe und auf dem Monitor erschienen mehrere Bilder von kleinen Robotern, die in etwa die Größe und die Form einer Fliege hatten. Er erläuterte, dass das Grundproblem einer jeden verdeckten Informationsbeschaffung sei, zunächst einmal die die Abhörgeräte, also die Wanzen, möglichst unbemerkt zu platzieren, auch ohne direkten Zugang von Personen zum Observationsort.

Jean-Jacques nickte zustimmend und er wahr überrascht, doch einmal mit Mike einer Meinung zu sein.

»Hier kommen also die Fliegen ins Spiel. Ich habe Wanzenprototypen entwickelt, die, um sie zu tarnen, wie Fliegen aussehen. Aufgrund des beschränkten Platzes in der Fliege – sie hat mit eingeklappten Flügeln nur etwa die Größe eines Daumennagels – ist allerdings die Sendereichweite begrenzt, so dass wir zusätzlich zur eigentlichen Wanze weitere Fliegen in gewissen Abständen als Relaisstrecke einsetzen müssen. Ich habe insgesamt zehn Stück von den Dingern, das müsste eigentlich reichen.« 

Man müsse sich also zum eigentlichen Ziel mit immer weiteren Fliegen vortasten, wobei dann die jeweils gelandete Fliege als »Relaisfliege« diente. Diese Fliege übertrug dann in einer Richtung die Steuerimpulse für die Flugmanöver und zur Ansteuerung der Audio- und Videoaufzeichnung. In der anderen Richtung würden dann die aufgenommenen Audio- und Videosignale übertragen. Auf diese Weise sei es möglich, die Sendeleistung so gering zu halten, dass normale Wanzenaufspürgeräte es sehr schwer hätten, eine Fliege zu orten. Auch könnte man die Komlet-Geräte eines Teams auf diese Relais umschalten und nur noch lokal kommunizieren. Die Fliegen seien darüber hinaus in gewisser Hinsicht selbstorganisierend, das heißt die Fliege mit dem schwächsten Energievorrat blieb jeweils als Relais zurück. Schlussendlich bräuchte daher nur wenig manuell in ihre Steuerung eingegriffen werden.

»Mike, auf Tronòc gibt es aber keine Fluginsekten!«, warf Toĝòf ein.

»Ja, das ist mir bekannt. Ich hatte noch auf der Erde angefangen, die Fliegen zu entwickeln. Dass wir die Erde einmal verlassen mussten, konnte ja keiner ahnen. Vielleicht hat man bei der Evakuierung einige Insekten nach Tronòc eingeschleppt. Wer weiß das schon so genau, oder?«, lachte er und zog die rechte Augenbraue hoch.

Nèřá lachte ebenfalls. »Ich verstehe zwar nicht alle Details von diesem technischen Kram, aber das ist so verrückt, dass es einfach funktionieren muss

In Ermangelung von Alternativen beschloss Anders, für das Aufspüren von Toĝòfs Frau und Tochter die Fliegen zu verwenden.

Nèřá hatte noch einen Einwand vorzubringen.

»Das ist doch eine Polizeistation. Sind wir als DIID-Agents nicht weisungsbefugt gegenüber dem TCPD?« 

Anders entgegnete: »Du kannst ja gerne einmal versuchen, deine Weisungsbefugnis gegen eine große Anzahl womöglich schwerbewaffneter Cops der City Police durchzusetzen, die wahrscheinlich allerdings nicht auf deiner Seite sind. Nein, nein, wir gehen da im Geheimen ein. Wir müssen nur für irgend ein Ablenkungsmanöver sorgen. Vorschläge?« 

Nèřá erklärte sich bereit, sich darum zu kümmern, und einige Gefallen einlösen lassen zu wollen. Mike stimmte diesem Vorschlag sofort zu und begründete dies damit, dass er vollstes Vertrauen in das »Gefallen-System« der Nèk’h hatte.

Noch in der gleichen Nacht flogen sie mit zwei zivilen AirCars des DIID von Tronòc City Richtung East Urban Area. Auf halbem Weg stieß noch ein weiterer AirCar zu ihnen. In ihm befanden sich einige Nèk’h, die Nèřá noch einen Gefallen schuldeten. Diese sollten oben in der Polizeiwache das Ablenkungsmanöver durchführen, während die anderen versuchten, unten die Geiseln zu befreien. Die Nèk’h waren allerdings nicht vollständig eingeweiht. Sie wussten daher nicht, was genau Nèřá vorhatte, und sollten die Polizisten auf der Wache nur möglichst lange beschäftigen.

Sie landeten ihre AirCars auf einem teilweise vom Schutt freigeräumten Trümmergrundstück in der Nähe der Wache. Mike startete seine Fliegen und tatsächlich konnten sie nach einiger Zeit einen Zugang zum Keller entdecken.

Anders wollte wissen, ob im Keller elektronische Überwachungsanlagen installiert waren.

Mike schaute auf seine Uhr und antwortete: »Da ist zwar etwas da, aber das wird alles in fünf Minuten ausfallen! In einem Elektro-Verteilerschrank wird man dann später drei große tronische Tausendfüßler finden, die ein wenig an den Kabeln herumgeknabbert haben. Leider, leider wird dann auch das Reservesystem davon betroffen sein.« 

»Sind das auch so kleine Roboter?« 

»Nein, das sind schon echte, aber tote. Offiziell ist es ein Nèk’h-Techniker, der gerade Tausendfüßlerfallen aufstellen wollte, aber die Viecher waren leider schneller. Inoffiziell benutzt er eine kleine Zange, die ich gebastelt habe und die genau wie die Beißwerkzeuge so eines Tausendfüßlers aussieht.« 

»Du entwickelst manchmal schon eine ganz gewaltige kriminelle Energie und ich bin froh, dass du auf unser Seite bist«, musste Anders anerkennen.

Mike grinste und meinte: »Aber ich bin nicht auf ihrer!« 

Die Fliegen flogen nacheinander durch den halb eingestürzten Eingang in den Keller hinein. Nach kurzer Zeit hatten sie den Keller erkundet. Er bestand aus zwei Trakten, die L-förmig angeordnet waren. Die Gefangenen – beziehungsweise zwei Körper – befanden sich gemeinsam im östlichen Trakt. Lebenszeichen wurden von den Fliegen keine gemessen. Genaueres war aber wegen der unzulänglichen Lichtverhältnisse im Keller nicht zu erkennen und ein Infrarot- oder Restlichtmodul hatte Mike noch nicht in seine Fliegen einbauen können.

Mike blieb zur Überwachung im AirCar und alle anderen machten sich auf den Weg in den Keller, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass die Alarmanlage auch tatsächlich ausgeschaltet worden war.

Der Keller war dunkel und muffig. Gedämpft drangen Geräusche aus der darüberliegenden Wache zu ihnen. Das Ablenkungsmanöver der Nèk’h und die komplett ausgefallene Elektrik mussten oben in der Polizeiwache für einen ziemlichen Wirbel sorgen, wenn man dies dort unten hörte, da das Gebäude und auch der Keller alte und massive Mauern hatten.

Dem Eingang direkt gegenüber lag eine Art »Glaskasten«, in dem zu früheren Zeiten wohl die Wachen ihren Dienst versehen hatten. Dieser war jetzt aber leer. In einer Ecke lag ein Haufen Gerümpel und bei jedem Schritt wirbelten sie etwas Staub auf. Langsam tasteten sie sich bis zu der Stelle vor, an der die Fliegen die zwei Gefangenen geortet hatten.

Jean-Jacques hörte das leise Summen einer der Fliegen, die knapp an seinem Ohr vorbei flog und auf einem alten und sehr staubigen Schrank landete, der in einer weiteren Nische stand. Sie hatten nun also tatsächlich einen der sagenumwobenen tronischen Folterkeller gefunden – und dazu noch einen, der bei Kriegsende nicht von den Tronern zerstört worden war und sich daher noch fast im Originalzustand befand. Jean-Jacques fragte sich, wie sich so etwas viele Jahre nach Kriegsende noch in diesem Zustand halten konnte. Es war wahrscheinlich, wieder einmal, eine von »ganz oben« angeordnete Geheimhaltung und Vertuschung zu vermuten. In was waren sie hier bloß hineingeraten? Das alles produzierte Bilder in seinem Kopf, die er lieber verdrängt hätte. Er wollte lieber gar nicht genau wissen, wie viele Troner und Nèk’h hier gequält worden waren und auch ihr Leben gelassen hatten. Der kalte Schauer auf seinem Rücken verstärkte sich zu einem Wasserfall. Er war erstaunt und überrascht, wo er sich doch eigentlich als eher abgebrüht bezeichnen würde, auch gerade wegen seiner Erlebnisse während des Krieges.

Als sie an dem Kellerraum ankamen, in dem sich Taé, Toĝòfs Tochter befand, teilten sie sich auf. Anders ging mit Toĝòf weiter, um dessen Frau zu suchen. Jean-Jacques blieb mit Nèřá bei der Tochter. Taé war an einen Wandhaken gefesselt, ihre Kleidung und ihr Gesicht waren zwar schmutzig, sie schien aber keinerlei sichtbare Verletzungen aufzuweisen. Allerdings war ihr Atem sehr flach.

Sie kniff die Augen zusammen, als Jean-Jacques’ Taschenlampe sie anleuchtete und wollte schreien, aber er hielt ihr den Mund zu. Er flüsterte ihr ins Ohr, dass sie von ihrem Vater kämen und sie befreien wollten. Nèřá schnitt ihre Fesseln durch und Jean-Jacques nahm sie auf seine Arme.

Nèřá drückte auf ihr Ohr, um das Komlet zu aktivieren. »Passagier zwei halbwegs wohlauf. Sind auf dem Weg zurück zum Fliegennest.« Mike hatte den Begriff »Fliegennest« als Codewort für den AirCar ausgesucht, in dem er die Operation und die Fliegen koordinierte. Auch die Bezeichnung »Passagier« stammt von ihm.

Taé fragte nach Trírå, ihrer Mutter, aber Anders und Toĝòf hatten sie noch nicht gefunden.

»Das ist nicht gut, gar nicht gut«, meinte Nèřá flüsternd, was aber alle dennoch über ihre Komlets deutlich verstehen konnten.

Anders fragte: »Was ist nicht gut?« 

»Keine Augenbinde bei Passagier zwei. Den Entführern war es offensichtlich egal, was und wen sie gesehen hatte. Oder die Entführer hatten Nachtsichtgeräte, was hier unten aber nicht wirklich etwas bringt, da es keinerlei Lichtquellen – auch noch so schwache – gibt. Oder die Entführer waren alle maskiert. Oder…« 

Jean-Jacques unterbrach sie: »Ich weiß, worauf du hinaus willst.« 

Wenig später wurde dann in einem der benachbarten Kellerräume die Mutter leblos aufgefunden. Nach kurzer Untersuchung konnte Anders nur noch den Tod feststellen.

Sie waren zu spät gekommen. Bevor Anders jedoch Toĝòf Vorwürfe machen konnte, kam Jean-Jacques dazwischen.

»Taé ist sehr schwach. Wir müssen sie dringend in ein Krankenhaus bringen!«, meinte er.

Sie brachten die beiden Frauen aus dem Keller heraus und auf dem Weg nach oben besprachen sie das weitere Vorgehen.

Nèřá sagte: »Das nächste ist das Universitätsklinikum.« 

»Wie weit ist das entfernt?«, wollte Jean-Jacques wissen.

»Zwanzig, mit gutem Willen vielleicht fünfzehn Minuten.» 

Mike meldete sich aus dem AirCar: »Wir machen das mit den AirCars selbst! Bis eine Ambulanz hier ist, dauert das länger als fünfzehn Minuten. Außerdem kann man das dann noch etwas unter der Decke halten!« 

Da er mittlerweile Mikes Planungen immer mehr vertraute, stimmte Anders dem Vorschlag sofort zu.

»Nèřá, bitte benutze deinen TCPD-Dienstausweis, so können wir erst einmal vom DIID ablenken«, erläuterte er. »Jetzt weißt du auch, warum du ihn behalten solltest.« 

Mike ergänzte: »Die Fliegen lassen wir erst einmal hier. Die sind so unauffällig, dass sie eigentlich nicht entdeckt werden könnten. Sie tun sich zu gegebener Zeit selbstorganisiert an einem sicheren Ort sammeln.« 

»Unter der Decke halten?«, fragte Nèřá, die mit terranischen Redewendungen immer noch einige Schwierigkeiten hatte.

»So können wir die Befreiung noch weiter geheim halten.« 

Mike kam näher an Anders heran.

»Ihr habt doch einen neuen AirCar bekommen, oder?«, fragte er. »Der Staat hatte mal etwas Budget übrig und so gab es doch eine ganze Anzahl neuer AirCars auch für das DIID. Das sind so richtig heiße Kisten, nachgerüstet mit den dicken Fünfziger-Magnetspulen, die es nicht für Privatkunden gibt und die gerade so in’s Chassis passen. Da geht was! Und hier parkt einer!« 

Anders konnte Mikes Enthusiasmus nicht unbedingt teilen und meinte: »Kann sein, darum habe ich mich noch nicht wirklich kümmern können. Das ist halt ’n AirCar.« 

Mike war nicht zu bremsen. »Nicht irgend ein AirCar! Das Teil hat noch das ›Aero-Kit‹ aus dem Rennsport bekommen, damit man nicht immer nur auf dem Magnetfeld fliegt, sondern auch mal enger um die Kurven kommt – richtige Bedienung vorausgesetzt. Das sind so kleine Flügelchen zum Ausfahren; hast du diese schon benutzt?« 

Anders war sich nicht im Klaren, was Mike nun genau meinte.

»Also werte ich das als ›Nein‹. Ich mache jetzt folgenden Vorschlag: Wir tauschen die AirCars, damit wir Toĝòfs Tochter schnellstens in die Klinik bringen können. Und ich wette mit dir um einen Zweihunderter, dass ich es in unter zehn Minuten schaffe.« 

Anders willigte ein und als sie an den AirCars ankamen, tauschten sie die Schlüsselkarten. Jean-Jacques legte Taé vorsichtig auf den Rücksitz des schnelleren AirCars und setzte sich neben sie. Mike und Nèřá nahmen auf den Vordersitzen Platz. Sie hatten vereinbart, erst an der übernächsten Kreuzung Blaulicht und Sirene einzuschalten, um in direkter Umgebung der Polizeiwache kein Aufsehen zu erregen. Nèřá hatte außerdem vorgeschlagen, sich nicht beim Krankenhaus über Komlet anzumelden, sondern sich erst direkt vor Ort als TCPD-Polizist erkennen zu geben. Darüber hinaus hatte sie sich schon eine ihrer Meinung nach recht plausible Geschichte ausgedacht, warum das TCPD mit einer schwer verletzten und einer toten Tronerin direkt in der Notaufnahme erschien. Da sie bei Mikes und Anders’ Wette als »neutrale Instanz« mitwirken sollte, startete sie an ihrer Armbanduhr die Stoppuhr.

Der neue AirCar beschleunigte tatsächlich sehr stark und Mike freute sich trotz des Ernstes der Lage wie ein kleiner Junge.

Sie kamen äußerst zügig voran, auch weil zu dieser nächtlichen Stunde fast keine anderen Fahrzeuge unterwegs waren.

Nach nicht einmal zehn Minuten bog Mike in die Einfahrt zur Notaufnahme ein und schaltete die Sirene aus. Als er die Landestützen ausfuhr und den AirCar vor dem Eingang der Notaufnahme aufsetzte, stoppte Nèřá ihre Uhr und zeigte sie Mike.

Da auf der Uhr »9:53« zu lesen war, freute sich Mike: »Hahaaa! Gewonnen!« 

Nèřá stieg aus, zog ihren TCPD-Dienstausweis heraus und winkte den am Eingang stehenden Wachmann zu sich.

»Age … ääh … Detective Inspector Nèřá, TCPD!«, rief sie. »Wir haben zwei Verletzte! Beides Troner, weiblich. Starke Dehydrierung, Blutverlust und wahrscheinlich auch innere Verletzungen! Und ich möchte den zuständigen Arzt sprechen!« 

Fünf Minuten später landete auch der zweite AirCar mit heulender Sirene. Im gleichen Moment kamen die Notfallteams des Krankenhauses mit zwei Fahrtragen aus der Tür heraus, um die Verletzten in Empfang zu nehmen.

Der diese Nacht zuständige Arzt war zur großen Freude Nèřás ein Nèk’h, was ihrer Ansicht nach das ganze Prozedere deutlich vereinfachen könnte. So konnte sie es unter Umständen mit einem Gefallen versuchen, falls sich Widerstand regen sollte.

»Wie Sie sehen, bringen wir hier zwei Verletzte. Wie Sie außerdem sehr schnell feststellen werden, können das aber keine normalen Unfallverletzungen sein. Und Sie werden sehr schnell die Verletzungen und den Gesamtzustand der beiden Frauen als das identifizieren, was es tatsächlich ist. Es handelt sich nämlich um eine Geheimoperation des TCPD, bei der zwei über einen längeren Zeitraum gefangen gehaltene Geiseln befreit wurden. Und eben, weil es eine Geheimoperation ist, müssen Sie beim Ausfüllen Ihres Berichts ein bisschen fantasievoll sein.« 

Der Arzt gab sofort sein Einverständnis und Nèřá fuhr fort.

Sie erläuterte dem Arzt die Version des Hergangs, die sie sich auf dem Flug zum Klinikum ausgedacht hatte. Das TCPD hat in einer Suchoperation zwei tronische Frauen gefunden, die mit ihrem AirCar im unwegsamen Bergland abgestürzt waren, so könnten sich die inneren und äußeren Verletzungen erklären lassen. Die starke Dehydrierung war darüber hinaus die Folge daraus, dass sie in ihrem abgestürzten AirCar mehrere Tage lang ohne Nahrung und Flüssigkeit auskommen mussten.

Der Arzt nickte.

Anders kam hinzu, gab Nèřá die Schlüsselkarte für den anderen AirCar und erläuterte, dass sie die AirCars umparken müssten, da sie den Eingang zur Notaufnahme blockierten.

Nèřá und Mike gingen zu den AirCars und sie stellte ihm die Frage: »Woher kennst du dich so gut mit AirCars aus?« 

»Ich war vor der Aktion hier als Techniker bei einer DIID-Undercover-Truppe dabei, die gegen die illegale Tunerszene ermittelt hatte.« 

»Übrigens netter Flugstil, hast du jemals AirCar-Rennen geflogen?« 

Mike war überrascht, dass sich die kleine Nèk’ha so für ihn interessierte, aber er gab bereitwillig Auskunft.

»Ich durfte eine Zeit lang einen der dort konfiszierten AirCars benutzen, aber Rennen – auch illegale – habe ich nie persönlich geflogen. Ich war, wie gesagt, dafür zuständig, dass diejenigen Undercovercops, die an diesen Rennen teilnahmen, auch vernünftiges und vor allem glaubwürdiges Material zur Verfügung hatten. Teilweise bin ich auch als Händler aufgetreten. Da lernt man dann einiges.« 

Eine Weile später stieß Toĝòf zu ihnen. Er hatte seiner Tochter frische Kleidung mitgebracht. Vater und Tochter weinten und umarmten sich lange.

»Ich wusste gar nicht, dass Troner auch weinen können«, flüsterte Jean-Jacques hinter vorgehaltener Hand zu Mike.

Sie beschlossen dann, vertrauenswürdige Polizisten vor Taés Zimmertür rund um die Uhr als Wache abstellen zu lassen. Die Mutter wurde ins Gerichtsmedizinische Institut gebracht, um sie dort im Kühlhaus unter einem DIID-Tarnnamen zunächst einmal zu verstecken.

Am nächsten Morgen besuchte Jean-Jacques Taé im Krankenhaus. Sie hatte das Kopfteil hochgestellt und saß aufrecht im Bett.

Nicht mehr verdreckt und nicht mehr in einem dunklen Keller sieht sie jetzt eigentlich ganz süß aus, dachte er – und verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Toĝòf konnte er sich als potenziellen Schwiegervater nicht im Entferntesten vorstellen. Man fange nichts mit Kolleginnen oder gar der Tochter eines Kollegen an, war eine alte Regel, das gäbe nur Ärger.

»Komm näher zu mir!«, sagte sie. »Du hast mich gerettet, nicht wahr?« 

Er beugte sich zu ihr und wollte gerade erläutern, dass es das ganze Team war, was sie gerettet hatte, da zog sie ihn zu sich heran und gab ihm einen gehauchten Kuss auf seinen Mund.

So kurz halten also meine Vorsätze, dachte er.

Er löste sich von ihr und sagte: »Kleine, wir müssen hier unbedingt verschwinden.« 

Sie erwiderte trotzig, dass sie nicht mehr klein wäre, und nannte eine tronische Jahresangabe.

Die Troner hätten schon merkwürdige Altersangaben, überlegte er. Da tronische Jahre länger sind, ergab sich also ein ungefähres Alter von achtzehn Jahren nach terranischer Zeitrechnung. Also immerhin volljährig… 

Jean-Jacques überlegte weiter, ob sie nicht vielleicht doch etwas zu jung für ihn wäre, da hörte er vor der Tür das charakteristische Geräusch einer abfeuernden Waffe.

»Kleine Railgun, Plasma, vierte Generation oder neuer«, dachte er laut, worauf ihn Taé fragend ansah.

Seine jahrelange Kampferfahrung täuschte ihn nie. Kurz darauf bekam er Gewissheit, da etwas dumpf zu Boden plumpste. Jemand hatte offensichtlich den Polizisten erschossen, der vor der Tür Wache hielt.

Er zog Taé hastig vom Bett herunter und ging mit ihr hinter dem Bett in Deckung, so dass sie aufeinander zu liegen kamen.

Sie hatte es vollkommen korrekt nicht als übertriebenen Anmachversuch interpretiert, sondern fragte statt dessen leise: »Wurde da geschossen?« 

»Ja, wir müssen jetzt hier wirklich verschwinden«, antwortete Jean-Jacques. Er zog seine Waffe aus dem Schulterhalfter. Mit den Worten »Kannst du damit umgehen?« gab er sie Taé.

Sie nickte. »Mein Vater hat es mir beigebracht.« Sie nahm die Waffe in die Hand, warf einen kurzen Blick darauf und entsicherte sie.

Danach zog Jean-Jacques seine kleinere Zweitwaffe aus dem Schienbeinhalfter und entsicherte sie ebenfalls.

Taé schaute ihn erstaunt an.

»Ab und zu braucht man auch einmal zwei Waffen, wie du siehst«, rechtfertigte er sich.

Bevor Taé etwas sagen konnte, wurde die Tür des Krankenzimmers plötzlich aufgestoßen. Sie prallte krachend gegen die Wand, so dass sie wieder ein Stück zurückschwang. Zeitgleich wurde eine Salve Plasmageschosse in das Zimmer abgefeuert, die in einer Wand einschlugen und dort schwarz qualmende Einschusslöcher hinterließen. Jean-Jacques schoss ein paar Mal blind durch die Türöffnung, worauf die Angreifer erst einmal das Feuer einstellten. Mit so einer Gegenwehr hatten sie wohl nicht gerechnet.

Jean-Jacques drückte auf sein Komlet und sagte hastig: »Mike, wir werden beschossen! Hol’ uns ab! Stockwerk und Raum weiß ich nicht.« 

Taé teilte ihm die Raumnummer mit.

»Zehnter Stock. Wir gehen auf’s Vordach an der Südseite. Peile mein Komlet an.« 

Sie krochen zum Fenster, öffneten es und kletterten auf das kiesbedeckte Vordach. Einige spitze Kieselsteine stachen in Taés Fußsohlen; sie hatte ja barfuß im Bett gelegen. Auch vor allem ihre durch die Folter hervorgerufenen großen Hämatome spürte sie jetzt wieder deutlich am ganzen Körper. Sie klammerte sich an Jean-Jacques’ Arm.

Plötzlich flogen Plasmageschosse durch das geöffnete Fenster auf das Vordach heraus. Taé schaute über Jean-Jacques’ Schulter, ließ in einer einzigen fließenden Bewegung seinen Arm los, hob die Waffe hoch und gab ein paar gezielte Schüsse in Richtung des Fensters ab. Man hörte daraufhin einen dumpfen Schrei. Sie hatte wohl einen Treffer erzielt.

Taé und Jean-Jacques nutzten die Feuerpause und suchten hinter einigen halbhohen Abluftkaminen Schutz. Jean-Jacques blickte Taé erstaunt an. Dass sie so gut mit Waffen umgehen konnte, hatte er nicht erwartet.

»Ich sagte doch, mein Vater hat es mir beigebracht«, meinte sie, als sie seinen erstaunten Gesichtsausdruck sah.

Jean-Jacques wollte gerade sein Komlet einschalten, da stieg hinter dem Vordach ein AirCar auf und blieb auf der Höhe der Dachkante schweben.

Jean-Jacques richtete seine Waffe auf den AirCar. Die Türen des AirCars öffneten sich und Mike steckte seinen Kopf heraus. »Taxi?«, fragte er.

»Musst du mich so erschrecken?«, fluchte Jean-Jacques leise. »Ich hätte dich beinahe erschossen.« 

Der Beschuss startete erneut und ein Geschoss verfehlte das Dach des AirCars nur knapp. Sie stiegen vom Dach in den AirCar, setzten sich auf die Rückbank und Mike flog mit einem waghalsigen Manöver aus der Schusslinie, so dass Taé wieder auf Jean-Jacques zu liegen kam.

Nachdem Mike den AirCar unter einem Vordach eines Hauses in einer Seitenstraße geparkt hatte, atmete er tief durch und drehte sich dann um.

»Weia, das war knapp! Seid ihr beiden Turteltäubchen in Ordnung?«, fragte er, als er sah, wie sich Jean-Jacques und Taé küssten.

Jean-Jacques ignorierte die Anspielung und antwortete: »Bis auf Taés Fußsohle sind wir unverletzt. Aber wie haben die uns gefunden?« 

»Oh nein, Transponder!«, rief Mike.

»Transponder?« 

»Jeder AirCar hat einen eingebaut. Die Dinger sind in die Verkehrsüberwachung eingeklinkt, so dass sie uns orten kann. Privatgelände, besonders ohne freie Sicht auf die entsprechenden Satelliten – so wie hier unter dem Vordach –, ist nicht Bestandteil der Verkehrsüberwachung. Die Ausnahme bilden öffentliche Parkplätze und Parkhäuser, die lokale Repeater haben.« 

Er kroch in den Beifahrerfußraum und verkündete, dass er jetzt die Kennungskarte des Transponders auswechseln würde.

Jean-Jacques war skeptisch und fragte: »Ist das nicht verplombt? Es darf doch sicherlich nicht jeder einfach daran herumbasteln, oder?« 

»Theoretisch ja und nein, aber…«, antwortete Mike lachend.

»Bitte keine technischen Details!« 

Er wechselte die Karte aus.

»Was sind wir jetzt?«, wollte Taé wissen. »Auf keinen Fall wohl mehr ein Fahrzeug des DIID.« 

Mike setzte ein breites Grinsen auf und hielt die ausgetauschte Kennungskarte hoch.

»DIID war einmal, jetzt kommt der Pizza-Service!« 

Er schaute aus dem Heckfenster des AirCars und holte eine weitere Kennungskarte aus seiner Jackentasche.

»Halt, ich habe eine bessere Idee«, meinte er.

»Hör’ mal, die Dinger hast du immer dabei?« 

»Aber klar doch. Für alle Fälle, falls wir mal verfolgt werden oder so.« 

Jean-Jacques setzte einen »das war ja klar«-Blick auf, sagte aber nichts.

Hinter ihnen auf der Hauptstraße sah man viele TCPD-AirCars mit eingeschaltetem Blaulicht vorbeifliegen.

»Und was sind wir jetzt?«, wollte Taé wissen, als Mike die Karte erneut ausgetauscht hatte.

»Ein TCPD-Zivilfahrzeug«, antwortete Mike. »Schnallt euch an, es geht los.« 

Sie verließen den Stellplatz unter dem Vordach, bogen auf die Hauptstraße ein und flogen mit Blaulicht und Sirene den TCPD-AirCars hinterher.

»Mike, wir fliegen ja wieder zurück zur Klinik!«, stellte Taé erschrocken fest.

»Taé, du hast das sehr richtig erkannt. Ich verstehe langsam, was Mike bezwecken will. Niemand wird ernsthaft in Betracht ziehen, dass wir wieder zurück fliegen. Und außerdem sind wir ja offiziell ein TCPD-Fahrzeug, das zu einem Tatort unterwegs ist. Ich nehme einmal an, dass die Uniformierten alle zur Klinik unterwegs sind. Unsere Schießerei hat wohl für einen Großalarm gesorgt.« 

Er klopfte Mike auf die Schulter.

»Sehr clever! Ich hoffe, du hast noch mehr so Aktionen auf Lager. Und ich nehme alles zurück, was ich über dich gesagt habe.« 

Mike entgegnete: »Gut. Und ich streiche die ›Kampfsau‹. Also sind wir quitt.« 

Nicht weit entfernt von der Klinik suchte Mike erneut eine überdachte Parkgelegenheit und ließ die TCPD-Streifenwagen weiterfliegen. Wiederum wechselte er die Kennungskarte aus.

»So, nun sind wir aber der Pizza-Service!« 

Mike startete und sie flogen weiter, nun aber wieder in die entgegengesetzte Richtung, und entfernten sich rasch von der Klinik. Immer noch kamen ihnen vereinzelt TCPD-AirCars entgegen.

»Wo fliegen wir eigentlich hin?«, wollte Jean-Jacques nach einiger Zeit wissen, als sie sich den westlichen Vororten näherten.

Mike meinte: »Ich weiß jemanden, bei dem wir Taé verstecken können.« 

Sie bogen in eine Nebenstraße ein und Mike lenkte den AirCar in eine Garage zwischen zwei Häusern. Er wendete und schwebte langsam rückwärts in einen Stellplatz hinein. Jean-Jacques nahm Taé auf den Arm und sie folgten Mike in einen Hauseingang. Sie fuhren mit einem Aufzug in ein oberes Stockwerk und Mike klingelte an einer Wohnungstür.

Mikes Großmutter war eine recht kleine Frau mit rundlichem Gesicht, asiatischen Gesichtszügen und weißen Haaren, die zu einem Knoten zusammengebunden waren. Jean-Jacques musste grinsen. Die Frau entsprach voll und ganz einer Klischee-Großmutter, wie man sie klischeehafter gar nicht stärker darstellen könnte. Er hatte schon lange keine so alte Frau mehr gesehen. Sie musste eine der wenigen alten Leute sein, die Krieg und Evakuierung überlebt hatten. Sie war hoch erfreut, als sie die Tür öffnete und ihren Enkel erblickte.

»Min-ki, schön, dass du mich einmal besuchen kommst!« 

»Min-ki?«, fragte Taé.

»Das ist mein koreanischer Vorname. Mein koreanischer Name lautet Park Min-ki. Der Vorname Min-ki bedeutet wohl soviel wie ›besonders clever und voller Energie‹. Ich bevorzuge aber ›Mike‹!« 

Sie betraten die Wohnung und Jean-Jacques lud Taé auf einem Sessel im Wohnzimmer ab.

Sofort wurden sie vom Redeschwall der Großmutter vereinnahmt. »Ich schaue einmal, ob ich für die schöne junge tronische Frau ein paar Kleidungsstücke und auch Schuhe finde. Die ehemalige Liaison meines Enkels – eine furchtbar undankbare Person, sie hat ihn gleich mit mehreren anderen Männern betrogen! – dürfte noch etwas hier gelassen haben. Und eine neue Liaison hat er auch nicht, obwohl sicherlich es an der Zeit wäre! Er wird ja auch nicht jünger.« 

»Oma!«, rief Mike, dem dies sichtlich peinlich war.

Jean-Jacques konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Mikes Großmutter ging in ein Nachbarzimmer und kam nach kurzer Zeit mit mehreren Kleidungsstücken in der Hand zurück.

»Wissen Sie, meine Liebe, ich bin ja nicht mehr so jung und knackig wie Sie, daher passen mir diese Sachen auch nicht – und das ist ja auch gar nicht mein Stil!« 

»Oma!« 

Jean-Jacques’ Grinsen wurde immer breiter.

»Meine Liebe, ich mache Ihnen jetzt einen schönen Kräuterumschlag für Ihren Fuß und dann noch einen schönen koreanischen Kräutertee. Sie mögen doch Tee? Er unterscheidet sich geschmacklich ein wenig von tronischem Tee, aber Ihnen würde er sicher schmecken.« 

»Taé, Miss Park. Ich heiße Taé.« 

»Nein, nein, nicht ›Park‹! Ich bin die Großmutter mütterlicherseits.« 

Mike wurde das Geplänkel jetzt zu bunt und er unterbrach mit: »Oma, wir müssen wieder los. Kommt ihr klar?« 

»Wir kommen schon klar«, beruhigte ihn Taé.

Sie zog Jean-Jacques zu sich heran und küsste ihn auf dem Mund.

»Du hast mich jetzt zum zweiten Mal gerettet«, hauchte sie.

Sie ließ Jean-Jacques los und umarmte Mike.

»Ich danke auch dir. Deine Großmutter ist süß und sie wird sich sicherlich sehr gut um mich kümmern.« 

Beim Hinausgehen meinte Jean-Jacques: »Mike, du hast wirklich eine niedliche Oma! Zwar sehr direkt, aber niedlich.« 

»Jay Jay, du glaubst gar nicht, wie anstrengend sie manchmal sein kann. Ich bin ihr einziger überlebender Verwandter, und insofern hängt sie sehr an mir.« 

Zurück beim DIID ließ sich Anders alle Einzelheiten des Anschlags auf Taés Leben erläutern. Auch er hatte von der Schießerei in der Klinik erfahren. Zur allgemeinen Erleichterung wurde allerdings kein T-Alarm ausgelöst.

Er schloss die Sitzung mit den Worten: »Ich will gar nicht wissen, wo sie ist. Je weniger davon Kenntnis haben, umso besser!« 

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