Kapitel 3
Die Wurmlochpforte

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Im Großraumbüro des DIID herrschte die normale Betriebsamkeit und alle waren entweder in Akten oder in ihre Bildschirme vertieft. Anders kam aus seinem Büro und verkündete, dass sein Team einen neuen Fall hätte und alle sich im Besprechungsraum einfinden sollten.

Er schaltete mit einer Fernbedienung einen großen Wandmonitor ein und sagte: »Wir haben eine Entführung und gleichzeitig auch einen Diebstahl.« 

Er betätigte einige Tasten auf der Fernbedienung und zwei Porträts erschienen, ein terranischer Mann und eine tronische Frau.

Anders zeigte mit dem roten Lichtpunkt des in die Fernbedienung eingebauten Laserpointers auf das Bild des Mannes.

»Sein Name ist Tom Greenhill, Terraner, ein Kriegsveteran, irgend etwas hoch Dekoriertes. Sein letzter Rang nach dem Ausscheiden aus dem Militär war Lieutenant Commander und er arbeitete dank seiner hervorragenden Kenntnisse der tronischen Sprache als Verbindungsoffizier und Dolmetscher bei den Kapitulationsverhandlungen sowie auch bei der Aushandlung des Friedensvertrags.« 

Er wandte sich zur abgebildeten Frau.

»Sie heißt Taïrè, adlige Tronerin, also Angehörige einer so genannten Hohen Familie. Ich kenne mich nicht so genau mit dem RCGB, Royal/Celebrity-Gossip-Bullshit, aus, aber sie ist irgend eine Berühmtheit oder so. Mike, weitere Informationen?« 

Mike kicherte.

»RCGB, den muss ich mir merken!« 

Er wurde wieder ernst.

»Andy, du hast Recht, wie gut, dass ich mich da etwas auskenne. Soweit ich weiß, war sie eine junge Frau, die nach jahrgangsbester Pilotin in der Militärakademie dann eine steile Karriere beim Militär gemacht hatte, zuletzt als Pilotin für besondere Einsätze. Beinahe wäre sie noch die jüngste Kriegsministerin aller Zeiten geworden, da die, sagen wir einmal, Personaldecke der Troner zu der Zeit doch recht dünn wurde. Aber nur beinahe, da dann das Kriegsende dazwischen kam. Sie war einige Monate in Kriegsgefangenschaft. Da ihr allerdings, im Gegensatz zu anderen Angehörigen ihrer Familie, keine direkte Beteiligung an Kriegsverbrechen nachgewiesen werden konnte, wurde sie bald wieder entlassen. Danach verliert sich leider ihre Spur.« 

Nach erneutem Betätigen der Fernbedienung wanderten die beiden Porträts auf der Anzeige nach oben und es wurde zusätzlich eine technische Übersichtsskizze eines Raumschiffs angezeigt.

Jean-Jacques war verwirrt. »Ein – Raumschiff? Moment mal! Dass ich das auch richtig verstanden habe: Dieser Mr. Greenhill hat nicht nur eine tronische Adlige entführt, sondern er hat auch gleich noch ein ganzes Raumschiff gestohlen?« 

Mike bestätigte dies. Und als ob die Entführung nicht schon mysteriös genug wäre, käme noch das Schiff hinzu, meinte er. Und dieses Schiff wäre ebenfalls reichlich mysteriös. Die DIID-Chefetage hätte ihnen nur soviel mitgeteilt oder mitteilen wollen, dass es sich wohl um einen Prototypen handelte. Und so wie es schien, wäre Tom Greenhill durch das Wurmloch Richtung Erde geflohen. Mike hatte außerdem Aufzeichnungen von Überwachungskameras der Wurmlochpforte angefordert, aber bisher noch nichts erhalten.

»Was immer hier vorgeht, ist irgendwie furchtbar geheim oder niemand will oder kann etwas wissen«, meinte er.

Jean-Jacques ergänzte: »So viel Geheimhaltung habe ich nach dem Krieg nicht mehr erlebt. Ich stimme Mike zu: Irgend etwas ist hier faul!« 

»Es wird doch nicht etwa wieder jemand anfangen, Kriegsschiffe bauen zu wollen? Nèk’h etwa?«, stellte Toĝòf in den Raum.

Nèřá schaute ihn finster an und erwiderte: »Ihr Troner habt euch ja noch nie groß um Friedensabkommen gekümmert!« 

Anders rief beide zur Ordnung und überlegte, ob es tatsächlich eine gute Idee der Chefetage gewesen war, in dieser heiklen Angelegenheit eine Nèk’ha und einen Troner direkt zusammenarbeiten zu lassen. Trotzdem wollte er die Zweier-Teams einmal »durchmischen«, damit er Toĝòf besser kennenlernen konnte.

Der nächste Tag begann so, wie der vorherige aufgehört hatte. Informationen zu ihren Fällen liefen nur sehr spärlich ein und wieder einmal war es Mike, dessen elektronische Recherchen etwas Licht ins Dunkel bringen konnten. Er hatte nämlich eine Verbindung zwischen Tom Greenhill und Taïrè herstellen können.

»Jetzt wissen wir auch, woher sie sich kennen«, verkündete er. »Bei Kriegsende war Tom Greenhill auf einem terranischen Schiff als Kommunikationsoffizier stationiert, welches ein tronisches Schiff aufgebracht hatte, dessen Pilotin Taïrè gewesen war. Da anzunehmen ist, dass unser Gesuchter als Einziger an Bord ausreichend Tronisch gesprochen hatte, gehe ich davon aus, dass sie sich auf jeden Fall über den Weg gelaufen sein mussten. Wie intensiv diese Bekanntschaft war, darüber schweigen sich die Aufzeichnungen jener Zeit leider vollständig aus.« 

Eigentlich sollten die Ermittlungen in den anderen Fällen mit größerem Nachdruck bearbeitet werden, doch Mike kam ihnen zuvor.

Er lief durch das Büro und strahlte über das ganze Gesicht, als er verkündete: »Alle mal herhören! Ich habe endlich die Videoaufzeichnungen von der Entführung!«

Das Team versammelte sich daraufhin im Besprechungsraum. Mike schaltete die Wiedergabe der Aufzeichnung auf den großen Wandmonitor. Die Bilder zeigten einen Korridor im Dockbereich der Raumstation. Mike legte dar, er hätte auf offiziellem Weg nur die Bilder von der Wurmlochpforte erhalten. Alle anderen Aufzeichnungen seien als »mehr oder weniger streng geheim« eingestuft wurden und nicht einmal Anders oder Jean-Jacques als Special Agents des DIID hätten die entsprechend notwendige Sicherheitsfreigabe vorweisen können. Dennoch war es Mike offensichtlich gelungen, zusätzliche Aufzeichnungen zu erhalten.

»Ich frage lieber nicht, wo du das her hast«, sagte Nèřá.

Mike schien die ganze Sache sichtlich Spaß zu machen und er antwortete fröhlich: »Das ist ganz einfach! Die Signale aller Kameras laufen über das normale Regierungs-IT-Netz. Wenn man weiß, wo die Signale in den jeweiligen Netzknotenrechnern zwischengepuffert werden, braucht man nur noch das Interface anzapfen und kann diesen Puffer auslesen. Allerdings sind die Signale selbstverständlich verschlüsselt, aber ein böser ehemaliger Mitarbeiter hat da ein kleines Hintertürchen eingebaut. Leider habe ich das Videosignal nur von zwei Kameras und die Aufzeichnungen sind auch nur sehr kurz. Die Audiokanäle wurden wohl über eine andere Strecke geleitet, daher konnte ich diese bedauerlicherweise nicht…« 

»Mike!«, ermahnte ihn Anders.

»Ich brauche auch nicht fragen, wer dieser böse Mitarbeiter war«, warf Jean-Jacques ein.

Anders ermahne nochmals alle zur Ruhe.

Alle konzentrierten sich jetzt auf die Aufzeichnung. Man sah zwei Personen den Korridor entlang laufen, die man eindeutig als Taïrè und Tom Greenhill identifizieren konnte.

»Was reden die da?«, fragte Jean-Jacques da sich ihre Lippen bewegten.

Nèřá murmelte etwas Tronisches.

Anders schaute Nèřá an. »Du verstehst, was die da reden? Du kannst von den Lippen ablesen?«

»Natürlich«, antwortete Nèřá. Mit einem Seitenblick auf Toĝòf sagte sie: »Fast alle Blauen können das. Wir mussten doch schließlich wissen, was unsere Gebieterin und unser Gebieter alles so redeten, was eigentlich nicht für uns bestimmt war. Das Lippenlesen wurde dann von den älteren an die jüngeren Nèk’h weiter gegeben.«

Anders, der von ihren ständigen Sticheleien gegen Toĝòf genervt war, befahl Nèřá, aufzuhören. »Mike, ich will wissen, was da gesprochen wird! Nimm Nèřá mit und ihr macht euch gleich an die Arbeit!«

Mike wollte aber noch fortfahren. »Ich habe aber noch zwei Aufzeichnungen.« 

»Nein!«, sagte Anders. »Ich will gleich eine vollständige Analyse. Wir treffen uns hier wieder in einer halben Stunde. Schafft ihr das?«

Mike nickte und er machte sich zusammen mit Nèřá auf den Weg zum Labor im Untergeschoss.

Es war jetzt das erste Mal, dass er mit der »kleinen Blauen« wie er sie nannte, direkt zusammenarbeiten durfte. Er war asiatischer Abstammung und daher recht klein. Nèřá war eine Frau, die noch ein wenig kleiner war als er, was er überhaupt als nicht störend empfand. Sein »Beuteschema« waren eigentlich eher hellhäutige, blonde und blauäugige Frauen, aber er konnte durchaus auch mit blauen Haaren und blauer Haut leben. Besonders mit Nèřás leuchtend hellblauen Augen war zumindest ein Merkmal seines Beuteschemas erfüllt und so genoss er es sehr, wenn sie ihm ab und zu direkt in die Augen sah.

Wie wohl alle Nèk’h hatte sie erstaunliche Fähigkeiten, von den Lippen abzulesen. Auch wenn es sich ihrer Aussage nach um einen besonderen tronischen Dialekt handelte, so kamen sie doch zügig voran und waren sogar vor der verabredeten halben Stunde mit ihrer Aufgabe fertig.

Als sich alle wieder im Besprechungsraum eingefunden hatten, startete Mike erneut die Aufzeichnung. Nèřá versuchte dabei, alles möglichst lippensynchron nachzusprechen. Sie merkte an, dass es sich dabei um die sonst nur am Kaiserhof gesprochene sogenannte »Hochsprache« handelte. In der Kürze der Zeit konnte sie sinngemäß rekonstruieren, dass Tom Greenhill sagte: »Ihr seid in großer Gefahr, Hoheit! Wenn Ihr weiterleben wollt, dann kommt mit mir.« 

»Was ist denn das für ein Blödsinn?«, meinte Jean-Jacques. »Welcher Entführer redet denn so ein geschwollenes Zeug?«

Mike entgegnete: »Warte ab, es kommt noch besser!«

Die zweite Aufzeichnung zeigte einen anderen Korridor. Wieder kamen Taïrè und Tim Greenhill in den Bereich der Kamera gelaufen. Er drückte ihr etwas in die Hand. Nèřá übersetzte: »Hier, Hoheit! Ihr werdet es zur Eurer Sicherheit brauchen!« 

Jean-Jacques fluchte, als er erkannte, dass dieser Gegenstand eindeutig als eine Waffe zu erkennen war. Er meinte: »Mike, du hast Recht. Welcher Entführer gibt schon seinem Opfer eine Waffe?«

Sie spielten diese Sequenz der Aufzeichnung wieder und wieder ab, aber änderte nichts an der Tatsache, dass er ihr tatsächlich eine Waffe gegeben hatte. Wieder eine Merkwürdigkeit mehr in dem schon an Merkwürdigkeiten reichen Fall.

In der dritten Videosequenz waren dann Bilder einer Überwachungskamera der Wurmlochpforte zu sehen. Sie zeigten die fünf Ringe der Pforte. Noch war das Wurmloch inaktiv. Ein Raumschiff näherte sich dem ersten Ring, wodurch sich das Wurmloch in einem blauweißen Schimmer aktivierte. Mike erläuterte, dass es sich bei dem Schiff eindeutig um das gestohlene Schiff handelte.

»Also sind sie durch das Wurmloch zur Erde geflohen. Das war es dann wohl!«, stellte Anders fest.

Mike war ganz in seinem Element. »Nein, nein, keinesfalls! Ich habe noch ein wenig an den Daten geschraubt. Und schaut mal, was wir da haben!« 

Er drückte ein paar Knöpfe auf der Konsole vor ihm und auf dem Monitor erschien wieder die Aufzeichnung der Pfortenkamera, nur diesmal als Einzelbilder hintereinander. Mike hatte die Aufzeichnung auf die entscheidenden Bilder verkürzt. Bei diesen Bildern stockte allen der Atem. Das Schiff drehte nach Passieren des ersten Rings abrupt um neunzig Grad ab und flog zwischen dem ersten und dem zweiten Ring wieder aus der Pforte heraus. Wohin es dann weiterflog, war leider nicht mehr zu erkennen, da der grelle Lichtkranz des jetzt vollständig aktivierten Wurmlocheingangs diesen Bereich des Bildes vollständig überstrahlte.

»Sie sind also noch hier«, murmelte Anders.

»Ist das überhaupt technisch möglich?«, fragte Jean-Jacques erstaunt. »Ich meine: Ist der Sog des Wurmlochs nicht zu groß?«

Mike antwortete: »Nun, wir gehen davon aus, dass zwischen dem ersten und dem zweiten Ring der Sog noch nicht so stark ist, so dass – gerade mit einem so großzügig motorisierten Teil, wie diesem Schiff da – eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, es zu schaffen. Es hat bloß noch niemand versucht, da die Gefahr besteht, dass das Schiff an den Ringen zerschellen oder gar am Dimensionsübergang in zwei Teile zerschnitten werden könnte, was im Vakuum bekanntlich gar nicht gut kommt.« 

»Mon dieu!«, sagte Jean-Jacques erstaunt. »Wer kann denn so fliegen?«

Nèřá war der Ansicht, dass so wohl nur eine jahrgangsbeste Pilotin fliegen könnte.

Toĝòf polterte plötzlich los: »Was soll das? Sie soll geflogen sein? Ich glaube, wir vergessen, dass es sich um eine Entführung handelt. Wir müssen weiter in dieser Richtung ermitteln!«

Jean-Jacques drehte sich zu Toĝòf um und sagte: »Und ich finde, das ist ganz und gar keine normale Entführung.« Er säuselte mit verstellter Stimme: »Holde Hoheit, komm mit mir, ich rette dich! Und hier hast du noch eine Waffe! Und du darfst ganz tolle Manöver mit einem ganz neuem Schiff fliegen!« Er machte eine Pause und blickte in die Runde. »Also wirklich, was meint ihr?«, sagte er wieder mit normaler Stimme.

»Nèřá hat durchaus Recht«, sagte Anders. »Irgend etwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu.« 

Obwohl es sich wohl ausgezahlt hätte, in diesem Punkt tiefer zu bohren, waren sie dennoch gezwungen, auch im anderen Fall weiter zu ermitteln. Der T-Alarm war mittlerweile aufgehoben worden, und so begaben sich Jean-Jacques und Toĝòf zur SkyPatrol, um dort Befragungen durchzuführen.

Die SkyPatrol-Zentrale lag auf einer Anhöhe etwas außerhalb der Stadt. Jean-Jacques und Toĝòf sahen auf ihrem Flug dorthin schon von Weitem die großen SkyPatrol-Fluggeräte starten und landen.

Schon als sie das Gebäude betraten und sich am Empfangstresen als DIID-Agents ausgewiesen hatten, wurden sie von allen schräg angesehen. Ausgerechnet ein Terraner und ein Troner sollten den Tod einer Nèk’ha untersuchen. Dazu kam noch die generelle Abneigung gegen interne Ermittler – und das waren sie als DIID-Agents nun einmal. Daher war ihnen gegenüber eine eher eisige Reserviertheit spürbar.

Dennoch konnten sie zumindest in Erfahrung bringen, dass die Nèk’ha-Pilotin nach Ansicht ihrer Vorgesetzten und ihrer Kollegen sich nie auffällig verhalten hatte oder in dubiose Geschäfte verwickelt gewesen war. Als erste Nèk’ha in der Funktion eines SkyPatrol-Piloten war sie aber sehr still und verschlossen, wahrscheinlich um bei niemanden anzuecken. Auch ihr privates Umfeld kannte niemand wirklich genau.

Beim Verlassen des SkyPatrol-Gebäudekomplexes gab es dann einen kleinen Zwischenfall. Toĝòf wurde vor dem Haus von einem Nèk’h angegriffen, so dass Jean-Jacques sofort seine Waffe zog.

Jean-Jacques wurde wütend. »Glaubst du wirklich, wir waren das?«, polterte er und hielt den Nèk’h mit seiner Waffe in Schach.

Toĝòf bestätigte: »Wie werden auf jeden Fall in alle Richtungen ermitteln!« 

Der Nèk’h ließ nicht locker. »Habt ihr keine Nèk’h, die das untersuchen?« 

»Doch, haben wir«, antwortete Toĝòf sofort. »Sie untersucht das private Umfeld.« 

Jean-Jacques ergänzte: »Das Ermittlerteam besteht aus zwei Terranern, einem Troner und einer Nèk’ha. Zufrieden?« 

Der Nèk’h entschuldigte sich vielmals und Jean-Jacques meinte, dass sie den Vorfall einfach vergessen sollten und den Nèk’h auch nicht bei seinem Vorgesetzten melden würden.

»Soviel zum privaten Umfeld. Sie scheint hier bei der SkyPatrol ja wohl doch Verehrer gehabt zu haben«, sagte Jean-Jacques leise zu Toĝòf, als sie das Gelände verließen.

Dieser zeigte sich überrascht, dass Jean-Jacques ihm zur Seite gestanden hatte.

Jean-Jacques, der sich gerade wieder beruhigt hatte, wurde wieder zornig.

»Natürlich stehe ich dir zur Seite und ich hoffe, dass du das auch für mich tun würdest!« 

Er holte seine Dienstmarke aus der Jackentasche hervor und hielt sie Toĝòf direkt vor das Gesicht.

»Da steht ›DIID‹ drauf und nicht ›Terraner‹, ›Troner‹ oder ›Nèk’h‹ – oder nicht? Wir sind nicht Terraner, Troner oder Nèk’h, sondern DIID-Agents! Wie ich diesen Rassenunterscheidungsquatsch satt habe! Genau dieser Quatsch führt zu Missgunst und Missgunst führt zu Kriegen!« 

Nun war Toĝòf an der Reihe, sich bei Jean-Jacques zu entschuldigen.

Jean-Jacques war aber sichtlich frustriert, dass ihr Ausflug ans andere Ende der Stadt vollkommen ergebnislos verlaufen war. Er verstand sowieso nicht, wieso sie immer noch wie in alten Zeiten durch die Gegend fliegen mussten, um Angehörige einer anderen Polizeieinheit zu befragen. Er verspürte kein Verlangen, stundenlang im AirCar sitzen zu müssen, um dann doch keine brauchbaren Ergebnisse zu bekommen. Es gab doch jetzt diese schönen »virtuellen Besprechungsräume« in denen sich die Teilnehmer als dreidimensionale Projektionen gegenüber sitzen konnten. Auf jeden Fall wollte er sich vornehmen, bei Gelegenheit Mike zu diesem Thema anzusprechen.

»Vielleicht haben Anders und Nèřá mehr Glück«, sagte er zu Toĝòf.

Während dessen befanden sich Anders und Nèřá auf dem Weg zur Wohnung der Nèk’ha. Dort angekommen, öffnete ihnen der Hausmeister, ein älterer Nèk’h, die Wohnungstür.

Dabei sagte er laut: »Ihr müsst den Täter finden! Sie war immer so gut zu uns allen!« 

In Windeseile hatte es sich herumgesprochen, dass das DIID im Haus war, und so kamen die Nachbarn (alles Nèk’h, wie Anders erstaunt feststellen musste) sehr schnell aus ihren Wohnungen und versammelten sich vor der Wohnungstür. Die Nachbarn zeigten sich hocherfreut, eine Nèk’ha bei den Ermittlungen beteiligt zu sehen. Sehr schnell bildete sich eine große Menschentraube vor der Tür. Anders bat den Hausmeister, den Wohnungseingang aufzuschließen und dafür zu sorgen, dass die Nachbarn sich bereithalten sollten, um befragt zu werden.

In der überraschend kleinen Wohnung war nichts Auffälliges zu entdecken. Es gab kein gewaltsames Eindringen, niemand hatte die Wohnung durchsucht oder etwas entwendet. Auch der Hausmeister und die Nachbarn hatten nichts außer der Reihe bemerkt. Viele Nachbarn machten einen sehr traurigen Eindruck und es stellte sich heraus, dass die Nèk’ha mehr oder weniger die ganze Nachbarschaft finanziell unterstützt hatte. Anders wollte daher die Ermittlungen in die Richtung konzentrieren, ob die SkyPatrol-Pilotin vielleicht bei ihrer Nachbarschaftshilfe jemanden bei seinen kriminellen Aktivitäten gestört hatte. Bei der SkyPatrol hat man normaler Weise keinen direkten Kontakt zu Kriminellen, so dass dies ausgeschlossen werden konnte.

Wie Mike wenig später herausfand, gab es bei der finanziellen Situation der Nèk’ha keine Auffälligkeiten. Allerdings waren keine größeren Guthaben vorhanden; sie lebte mehr oder weniger von der Hand in den Mund. Jetzt wo sie wussten, dass sie ihre Nachbarschaft finanziell unterstützt hatte, konnten sie diesen Sachverhalt besser einordnen und mussten nicht eine Erpressung oder Ähnliches annehmen.

Im Besprechungsraum ließ Jean-Jacques seinem Ärger freien Lauf.

»Bei der SkyPatrol nichts, privat nichts! Im Gegenteil, sie war wohl der Engel persönlich! Wer also sollte so jemanden umbringen wollen?« 

Nèřá stellte fest: »Da hat sie aber viele Gefallen offen gelassen.« 

»Gefallen. Ich höre immer nur ›Gefallen‹ bei euch Nèk’h«, meinte Mike.

Nèřá versuchte zu erläutern, warum die Nèk’h ständig jemanden einen Gefallen taten oder von jemanden einen einforderten. Nèk’h durften früher als tronische Sklaven keine eigenen Besitztümer haben, keine Wertgegenstände oder auch keine Zahlungsmittel. Die ganze Nèk’h-Kultur, parallel zu der ihrer Gebieter und eher im Geheimen angesiedelt, baut daher zum überwiegenden Teil auf Gefälligkeiten auf. Dies war ein System auf Vertrauensbasis und Gefallen konnten auch weitergegeben werden, so dass ein stark vernetztes System entstanden war. Das gegenseitige Vertrauen war auch notwendig, um die Unabhängigkeit zu den tronischen Gebietern aufrecht erhalten zu können. Das ganze System hatte sich außerdem bis in die heutige Nachkriegszeit fortgesetzt, obwohl es eigentlich nicht mehr notwendig sein müsste.

Nach Mikes Ansicht würde das erklären, warum die Nèk’h seiner Ansicht nach immer noch eine äußerst eng zusammenhängende Gemeinschaft waren.

»Man sollte seine Traditionen auch pflegen und beibehalten«, war seine Reaktion und er kam sich vor wie der alte Konservative, der er nie sein wollte.

Er war etwas irritiert, als Nèřá ihm tief in die Augen sah und ihm rechtgab.

Mike wechselte das Thema und meinte, einen Zusammenhang zwischen der Ermordung der SkyPatrol-Pilotin und dem Militärdepoteinbruch herstellen zu können. Er war der Ansicht, dass bedingt durch die sehr dünne Personaldecke bei der SkyPatrol kein Ersatz für die Pilotin vorhanden war.

Jean-Jacques unterbrach ihn und fragte: »Ja und? Was könnte das mit dem Einbruch zu tun haben?« 

»Jay Jay, ich habe mich vielleicht etwas unklar ausgedrückt«, meinte Mike. »Es scheiterte nicht am Personal an sich, Sessel-Breitsitzer gibt’s dort genug, vielmehr fehlte es an Personal mit Pilotenberechtigung für die großen Fluggeräte. Die Folge war eine Neuaufteilung und Vergrößerung der einzelnen Überwachungsbereiche, derer gibt es vierzehn, jetzt einen weniger, also dreizehn.« 

Jean-Jacques musste bei dem Wort »Sessel-Breitsitzer« breit grinsen und meinte: »Jetzt kann ich mir vorstellen, worauf du hinaus willst. Lass’ mich raten: Rein zufällig war das Waffenlager nicht mehr – oder nur noch teilweise – durch die SkyPatrol-Überwachung abgedeckt?« 

Mike nickte zustimmend.

Jean-Jacques musste zugeben, dass dies ein sehr merkwürdiger Zufall war.

»Wahrscheinlich können wir damit auch einen rassistischen oder finanziellen Hintergrund ausschließen«, stellte Nèřá fest.

Im Fall der Entführung traten sie weiterhin auf der Stelle. Sowohl das Schiff als auch Tom Greenhill und Taïrè waren immer noch von der Bildfläche verschwunden.

Bevor sie sich jedoch weitere Gedanken machen konnten, erschien der Verbindungsoffizier des DIID, der für die lokalen Polizeibehörden zuständig war, auf dem großen Bildschirm.

»Wir haben einen Hinweis auf eine große Anzahl abgegebener Schüsse«, berichtete er. »Diese wurden auf einer auch einige Jahre nach Kriegsende in Trümmern liegende tronischen Industrieanlage recht weit außerhalb des Stadtgebiets geortet. Jemand hat wohl intensive Schießübungen gemacht. Das TCPD war recht schnell vor Ort, hat aber niemanden mehr angetroffen. Die SkyPatrol hat auch niemanden mehr orten können; die haben sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Es wurden aber noch große Mengen an Waffen gefunden. Das TCPD sagt, die Waffen passen von ihrer Art her zu euren Waffen aus dem Einbruch!« 

Jean-Jacques ergänzte: »Das ist aber nicht der Ort, den mir mein Informant gemeldet hatte.« 

Mike hatte die Vermutung, dass die Waffen dort getestet wurden, um die defekten Exemplare ausschließen zu können. Schließlich lagerten die Waffen schon einige Jahre und sollten der Verschrottung zugeführt werden.

Anders unterbrach die Sitzung und sie flogen mit zwei AirCars in schnellem Flug dort hin.

Auf dem Fabrikgelände lagen verstreut einige Waffen- und Munitionskisten sowie diverse Waffen. An einer nach dem Krieg noch stehen gebliebenen Hauswand waren frische Einschusslöcher verschiedener Größen zu erkennen, deren Ränder teilweise noch leicht qualmten.

Mike schaute in die Kisten. »Scheint ja doch einiger Schrott dabei gewesen zu sein.« 

Nachdem sie alles fotografisch dokumentiert hatten, wurden alle Waffen getrennt nach Modell auf einer freien Fläche des Grundstücks abgelegt. So konnte Mike sie zählen und mit der Inventurliste der gestohlenen Waffen abgleichen.

»Ich komme insgesamt auf einundvierzig Waffen, darunter zwei Panzerfäuste«, sagte er. »Die Munition kann ich nur grob schätzen, da ich hier in den Trümmern nicht genau ermitteln kann, wie viel verballert wurde. Aber es dürfte noch genug übrig geblieben sein, darunter zwei Panzerfäuste mit etwa zehn passenden Raketen.« 

Nèřá meinte: »Das ist immer noch die Feuerkraft einer kleinen Armee!« 

Mike zeigte in Richtung der am Horizont sichtbaren Skyline von Tronòc City. »Und das ist jetzt alles irgendwo da draußen.« 

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