Kapitel 10
Epilog

4 Frauen | 0 Orden | 1 Rede

In ihrer neuen Rolle als – wenn auch inoffizielle – Kaiserin hatte Taïrè die höchsten Priester der tronischen Tèn-Religion dazu überreden können, die Trauerfeier und die Einäscherung von Trírå und Toĝòf an einem ganz bestimmten Ort stattfinden zu lassen. Für diesen Ort gab es einen für Terraner nahezu unaussprechlichen tronischen Begriff, der sehr frei mit »Trauerplatz« übersetzt werden konnte. Der Trauerplatz lag an einem See, dem Tèn-See, nach dem die Religion ihren Namen hatte. Er war wie ein natürliches Amphitheater geformt. Die zum See hin offene »Bühne« grenzte an einen etwa fünfhundert Meter hohen, steilen Abhang. Im Laufe der Jahrhunderte hatten Generationen von tronischen Priestern immer wieder neue Stufen aus dem Fels gehauen, und so besaß der Trauerplatz mittlerweile etwa dreihundert Sitzplätze auf den »Tribünen«.

Fast immer herrschten an diesem Abhang Fallwinde vor, so dass der Rauch der auf Tronòc üblichen Feuerbestattungen nicht nach oben aufstieg, sondern nach unten gezogen wurde. Nach tronischem Glauben wandern die Seelen der Verstorbenen mit dem Rauch in den See und sammeln sich dort im Wasser mit den Seelen anderer Verstorbener. Wenn dann aus dem See die Morgennebel aufsteigen, würden die Seelen mit zum Himmel aufsteigen.

Als die tronischen Monde sich in einer bestimmten Konstellation befanden, war nach der Festlegung der Priester der Zeitpunkt gekommen, an dem Trírå und Toĝòf eingeäschert werden sollte.

Im Vorfeld der Trauerfeier hatte es noch einen kleinen Disput gegeben. Hochrangige Vertreter der Regierung wollten Toĝòf post mortem einen hohen Verdienstorden verleihen, aber Taé hatte es abgelehnt, den Orden entgegenzunehmen. Als dann seitens der Regierung allzusehr Druck auf Taé ausgeübt wurde, schritt Taïrè ein und bereitete dem ein schnelles Ende.

Am Tag der Trauerfeier war der Trauerplatz bereits von DIID und SkyPatrol zu Land und in der Luft abgeriegelt worden. Ständig kreiste die SkyPatrol über den Areal und an einer Seite war ein Kontrollpunkt des DIID eingerichtet worden, damit nur geladene Gäste passieren konnten. Wegen dieser Kontrollen bildete sich ein langer AirCar-Stau, der sich nur langsam auflöste.

Langsam füllten sich die Ränge, alle waren feierlich gekleidet. Die anwesenden tronischen Frauen trugen schöne tronische weiß-silberne Trauergewänder. Die Männer hatten zum größten Teil ihre Polizeiuniformen angezogen, unter den vielen Polizeiuniformen sah man auch viele Uniformen der SkyPatrol. Sogar Mike als im Polizeidienst stehender Zivilangestellter trug zwar keine Uniform, aber dafür einen teuer aussehenden anthrazitfarbenen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte anstatt T-Shirt und Blue Jeans. Tom hatte seine mit Orden behängte Veteranen-Uniform angezogen. Bianca kam in einem sehr figurbetonten schwarzen Kostüm mit einer weißen Rüschenbluse und einem schwarzen Hut mit breiter Krempe daher. Es sah zwar alles ein wenig altmodisch aus, wirkte aber dafür sehr elegant.

Unten auf der »Bühne« waren die Leichname von Trírå und Toĝòf auf zwei großen Holzstapeln aufgebahrt.

Bianca hatte sofort angeboten, die Trauerrede zu halten. Sie war der Ansicht, dass der Untersuchungsausschuss, welcher seit geraumer Zeit eher auf der Stelle trat, wieder einmal einen Impuls erhalten könnte. Sie würde daher eine sehr politische Rede halten wollen. Obwohl nach tronischer Tradition ein nächster Angehöriger die Trauerrede halten musste, war Taé damit einverstanden, da sie auf Biancas rhetorisches Geschick vertraute. Diese Rede wird später einmal als besonderes politisches Signal in die Geschichtsbücher eingehen und die Verbundenheit von Terranern, Tronern und Nèk’h im Kampf gegen Putschversuche und Diktaturen bekräftigen. Nach Ansicht von Historikern stellt diese Rede außerdem den entscheidenden Wendepunkt von der direkten Nachkriegszeit hin zu einer mehrere Jahrzehnte andauernden friedlichen Koexistenz aller Volksgruppen.

Bevor jedoch die Rede beginnen konnte, hörten sie aus der Ferne ein Grollen, welches immer lauter wurde. Die SkyPatrol flog ein wenig zur Seite und machte Platz für eine Formation kleinerer Militärraumschiffe, die sich direkt über dem Trauerplatz auflöste und dann in drei verschiedene Richtungen davonflog.

Bianca begann ihre Trauerrede mit einem Zitat: »›Es ist Zeit, dass jetzt etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem eigenen Gewissen.‹« 

Sie blickte von ihren Notizzetteln auf, da sie das Zitat wörtlich abgelesen hatte.

»Liebe Angehörige, liebe Freunde und Kollegen, liebe Trauergemeinde, diese Worte sprach Graf von Stauffenberg, ein terranischer Widerstandskämpfer, kurz vor seinem – leider missglückten – Attentat auf einen terranischen Diktator. Toĝòf hat auch etwas getan und ist dabei getötet worden. Es stellt sich also die Frage: Gibt es einen gerechten Tod? Kann es einen Tod für eine ›gerechte Sache‹ geben? Müssen einige sterben, damit viele leben können?« 

Sie schaute zu Mike, der von Taé die Kamera übernommen hatte.

»Diese Fragen kann ich so nicht beantworten, da ein nicht natürlicher Tod niemals ›gerecht‹ oder ›angemessen‹ sein kann, ja: darf. Liebe Trauergemeinde, Trírå und Toĝòf starben keines natürlichen Todes! Trírå wurde feige zu Tode gefoltert, um ihren Gefährten, Toĝòf, zu erpressen, obwohl sie selbst mit den Polizeidienst nichts zu tun hatte. Toĝòf selbst wurde ebenso feige ermordet wie seine Gefährtin. Eine unschuldige SkyPatrol-Pilotin musste sterben und auch ein Arzt, ein Gerichtsmediziner im Dienste des DIID, um nur weitere Opfer beispielhaft zu nennen.« 

Sie musste einen kleinen Schluck aus einem auf dem Rednerpult stehenden Wasserglas nehmen, denn der Kloß in ihrem Hals wurde wider Erwarten doch stärker. Normaler Weise hatte sie sich bei Reportagen gut im Griff, auch wenn es um sehr grauenhafte Dinge geht. Dies hier betraf aber ihr persönliches Umfeld und so spürte sie, wie eine Träne ihre linke Wange hinunter lief.

»Ist das alles nur geschehen, weil sie sich gewehrt haben, etwas getan haben und ›im Wege standen‹? Die Geschichte sollte uns allerdings gelehrt haben: Indem Mittel gegen Repression kriminalisiert und zum Grund für Repression erklärt werden, wird Repression zum Selbstläufer. Toĝòf fand, dass Troner und Terraner sehr viel gemeinsam haben; eine Meinung, die ich persönlich ebenfalls teile. Er hat sich intensiv mit terranischer Geschichte und Philosophie auseinander gesetzt und hatte aus diesen Quellen immer ein passendes Zitat zur Hand.« 

Ihr Tränenfluss hatte jetzt so stark zugenommen, dass die Buchstaben auf ihrem Notizzettel verschwammen.

»Bitte entschuldigen Sie.« 

Bianca holte ein Taschentuch aus einer Tasche ihres Kostüms heraus und tupfte sich die Tränen ab. Dabei blickte sie Richtung Himmel und erspähte zwei der über dem Trauerplatz kreisenden SkyPatrol-Fluggeräte.

»Daher möchte ich zum Schluss nochmals ein Zitat anbringen. Es ist von einem weisen Angehörigen meines terranischen Volkes; sein Name war Benjamin Franklin. Er war beileibe kein Geistlicher oder Philosoph, sondern er war Wissenschaftler. Er hat einmal gesagt: ›Ein wahrhaft großer Mann wird weder einen Wurm zertreten, noch vor dem Kaiser kriechen.‹« 

Bianca machte eine Pause und sprach in mehr oder weniger akzentfreiem Tronisch: »Mögen sich nun ihre Seelen im heiligen See mit den anderen Seelen vereinen!« 

Bei diesen Worten trat Taé vor die Scheiterhaufen und setzte diese mit einer großen Fackel in Brand. Sie stellte die Fackel zurück in eine Halterung und ging nach vorne. Auf Tronòc war es Aufgabe der Frauen, die Toten mit Jahrhunderte alten überlieferten Gesängen zu betrauern. So begann Taé, einen tronischen Trauergesang anzustimmen. Auf der Tribüne standen Nèřá und Taïrè plötzlich auf und gingen zu Taé herab. Sie hakten sich auf beiden Seiten bei ihr unter und stimmten in den Trauergesang ein. Die eher tiefe Stimme von Taïrè und die eher in der mittleren Lage angesiedelte Stimme von Nèřá ergänzten sich perfekt zu Taés hoher Stimme. Die Amphitheaterform des Trauerplatzes ergab eine hervorragende Akustik und so ging der mehrstimmige Trauergesang unter die Haut.

Mike rutschte ein »Mensch, ist das feierlich!« heraus.

Bianca begab sich vom Rednerpult zu den drei Frauen. Sie hatte zumindest den Refrain des Trauergesangs auswendig gelernt und konnte an diesen Stellen in den Gesang mit einstimmen, soweit es ihre tränenerstickte Stimme zuließ.

Für den Bericht in den Fernsehnachrichten hatte sie ihren abschließenden Kommentar schon vorab aufgezeichnet, da sie wusste, dass sie nach der Zeremonie wahrscheinlich zu »verheult« sein würde, um ein vernünftiges Wort herauszubekommen. Der Bericht lief in der Hauptnachrichtensendung am Abend desselben Tages und sorgte erneut für einiges Aufsehen.

Warum darüber hinaus umfangreiches Beweismaterial zwar sichergestellt, aber bisher nicht katalogisiert, geschweige denn ausgewertet wurde, ist eigentlich unverständlich. Dies steht im deutlichen Gegensatz zu den letzten Monat gemachten Zusagen des Innenministers, die Arbeit des Untersuchungsausschusses zügig und mit höchster Priorität durchführen zu wollen. Es wird sich zeigen, ob tatsächlich alles vollständig und ohne Ansehen der Person aufgeklärt werden wird oder ob dies nur eine unverbindliche Absichtserklärung gewesen sein sollte.

Bianca Kayser, Network News, Trauerplatz am Tèn-See

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