Kapitel 5
Eineinhalb Jahre

»Es wird wohl wichtig gewesen sein, denn ein Agent Cassell macht nichts, ohne dass es wichtig ist.« 

Nach langer Überlegung kam ich zu dem Entschluss, das Blockhaus doch nicht aufzugeben. Lisas Verschwinden wertete ich als ein Raum-Zeit-Paradoxon, wenn auch ein kleines. Die Agency musste schon gut von den Korrektoren unterwandert worden sein, um zu so einem Mittel greifen zu können. Sie würde aber sicherlich nicht ein zweites Mal herkommen, weil die Gefahr eines großen Paradoxons dann einfach zu stark war. Das musste auch dem dümmsten Korrektor bewusst sein. Ich blieb also erst einmal hier. Zu Henrietta, Anna und Gina konnte ich nicht gehen, sie würden nur unangenehme Fragen zu Lisa stellen. Daher vermied ich jegliche Kontaktaufnahme zu ihnen. Die letzten Jahre war ich ja auch nicht immer direkt für Henrietta ansprechbar, sondern der Kontakt ging immer von mir aus. Für Henrietta stellte das überhaupt kein Problem dar, denn sie hatte es eingesehen, dass mein Beruf wohl längere Abwesenheiten mit sich brachte. Außerdem stand der Winter kurz bevor und ich hätte etwaige Abbau- und Umzugsaktivitäten zumindest auf das Frühjahr des Folgejahres verschieben müssen.

Vor dem Winter fuhr ich noch ein paar Mal in die nächste Großstadt, um meine Vorräte soweit aufzustocken, damit ich mindestens zwei, besser drei Monate lang vollkommen autark im Blockhaus leben konnte. Bei der Gelegenheit kaufte ich mir auch noch einen ganzen Stapel Bücher, denn ich war ja weiterhin von meinem Bücherbestand in der Zentrale abgeschnitten. In einem Baumarkt hatten sie Schneefräsen im Angebot, aber ich ließ sie dann doch stehen, da ich mich ja an sich gar nicht aus dem Haus herausbewegen musste. Auch hatte ich genug Holz für den Kamin gehackt, so dass ich auch auf eine alternative Wärmequelle zurückgreifen konnte und mich dadurch auch fit hielt.

Tatsächlich gab es Mitte Dezember einen sehr heftigen Wintereinbruch mit anfänglichem Eisregen und darauf folgend einem der landesüblichen Blizzards mit Schneemengen von etwa einem Meter fünfzig in nur einem halben Tag. Nun kamen mir doch Zweifel auf, warum ich gerade diesen Standort wählen musste. Von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, hatte in meiner Situation aber auch seine Vorteile. Mich ärgerte nur, dass ich bei der Planung dieses Standortes nicht die gesamten Wetterereignisse dieser Region aufgezeichnet hatte, als ich noch in der Zentrale war. Aber in die Zentrale konnte und wollte ich nicht zurückgehen.

Die Lokalnachrichten im Fernsehen zeigten Bilder, wie das öffentliche Leben zusammengebrochen war, mit umgeknickten Strommasten, blockierten Straßen, gesperrten Flughäfen und geschlossenen Schulen. Mir machte es mit meiner Energieversorgung aus dem vierundzwanzigsten Jahrhundert und genügend Brennholz fast überhaupt nichts aus, nur die Schneelasten auf den Dächern machen mir ein wenig Sorgen. Zwar hatte ich die Einhausung über den Zugang vom Haus zum Schiff recht stabil gebaut, Gleiches galt auch für das Dach über dem Teil des Schiffs, der unter dem Betondach der »Schiffsgarage« herausragte, aber so viel nassen Schnee konnten diese dann doch nicht verkraften. Als nächstes kam dann das Dach des Blockhauses dran. Ich hatte mir zwar erst überlegt, mit einer großen noch im Schiff versteckten Schallwaffe den Schnee aufzulösen, aber Versuche an einem großen Schneehaufen ergaben, dass ich damit maximal zehn Zentimeter große Löcher in den Schnee schießen konnte. Ich hätte also zum einen immer genau zielen müssen, um keine Löcher in die Dächer zu bekommen, und zum anderen hunderte Male auf den Schnee feuern müssen. Also griff ich mir eine große Schneeschaufel, kletterte auf die Dächer und schippte den Schnee mit Muskelkraft herunter. Diese manuellen Arbeiten betrachtete ich daher auch als Fitnesstraining. Den Schnee warf ich zum Schluss einfach in den See, der aufgrund des rapiden Temperatursturzes noch nicht vollständig gefroren war.

Das Wetter hielt mich auch in den nächsten Wochen mit immer neuen Schneefällen so auf Trab, dass ich überhaupt nicht dazu kam, Pläne für Lisas Rückkehr schmieden zu können.

Endlich hatte sich das Wetter aber ein wenig beruhigt und ich konnte meine Gedanken wieder ordnen. Als erstes musste ich herausfinden, wie die Korrektoren es geschafft haben konnten, Lisa zum passenden Zeitpunkt einfach verschwinden zu lassen, ohne dies in einem großen Paradoxon enden zu lassen. Daraus konnte ich dann hoffentlich ableiten, wie ich sie wieder zurückbekommen konnte. Und ja, ich war wirklich fest entschlossen, sie wieder zurückzuholen.

Eine Möglichkeit war, dass die Korrektoren in der Zeit zurückgekehrt waren und sie dann getötet hatten, als ich wegen meiner Beinverletzung in der Zentrale Innendienst schieben musste und sie lange mit den Korrektoren alleine gewesen war. Wahrscheinlich hatten sie es genauso gemacht, genau so etwas Grobes war ihnen zuzutrauen. Subtilere Methoden, wie entweder sie ihre Aufnahmeprüfung zur Agency nicht bestehen zu lassen (dafür wäre sie aber zu intelligent gewesen) oder zu verhindern, dass ihre Eltern sich kennenlernten, traute ich den Korrektoren dagegen nicht wirklich zu.

Zumindest musste ich herausfinden, was in der Zentrale vor sich ging, und wollte versuchen, mich in die Interdimensionskommunikation einzuklinken. Das war aber nicht so einfach, da der Saboteur ganze Arbeit geleistet hatte und auf dem Schiff nicht nur der Interdimensionsantrieb nicht mehr vorhanden war, sondern auch die Interdimensionskommunikationseinheit nicht mehr funktionierte.

Im Baumarkt hatte ich mir auch noch einiges an Werkzeug beschafft und einen dieser schönen Schubladenwagen, der das ganze Werkzeug sowie auch Schrauben, Nägel und vieles mehr geordnet aufnahm. Den knallrot lackierten Wagen schob ich nun durch den Übergang in des Schiff und begann, das Schiffscockpit auseinanderzunehmen, um nachschauen zu können, welche Gerätschaften noch funktionierten und welche nicht.

Viele Tage lang war ich damit beschäftigt, das Cockpit auseinanderzuschrauben, und mir vor allem zu notieren, wie es wieder zusammengehörte, da ich das Schiff noch brauchen konnte. Zum Glück waren die Schiffe auf einfache Wartung hin konstruiert, so dass ich recht einfach an alle Teile kam, zum Beispiel waren alle Wandverkleidungen, hinter denen Kabel verliefen, mit einem einfachen Schraubendreher zu öffnen.

Ausgehend vom Cockpit arbeitete ich mich zur Energieversorgungseinheit im Heck durch. Ein leicht verfärbtes Bodenstück gab dann den Hinweis, an welcher Stelle womöglich ein Sprengsatz angebracht worden war. Hätte ich das Schiff nicht systematisch abgesucht, wäre ich über diese Stelle hinweg gegangen, so minimal stellte sich die Verfärbung dar. Mit einer starken Baulaterne, die ich im Baumarkt gekauft hatte, leuchtete ich die Stelle direkt aus. Nachdem ich mehrere Bodenplatten hochgehoben hatte, war ein stark verrußter Bereich auszumachen. Hier waren tatsächlich Leitungen unterbrochen und es fanden sich ein paar kleinere Metallsplitter. Das waren wohl die Reste eines Sprengsatzes mit irgendeinem Zünder gewesen.

Sehr beunruhigt wurde ich von der Tatsache, dass die Bombe wohl eine ziemlich genau dosierte Sprengkraft besessen haben musste und daher nur das Nötigste zerstört hatte. Es war ja auch nur der Interdimensionsantrieb ausgefallen und dann abgestoßen worden, aber die Lebenserhaltungssysteme und der Atmosphärenantrieb waren intakt geblieben, so dass ich das Schiff zwar unsanft, aber doch sicher landen konnte. Mit kam der Werkstattleiter in den Sinn, aber ich verwarf den Gedanken sofort wieder.

Im Nachhinein hätte ich mir die ganze Arbeit also sparen können, wenn ich mich gleich von achtern nach vorne vorgearbeitet hätte, aber ich war sowieso eingeschneit und konnte außer Lesen und Holz für den Kamin holen nichts sinnvolles tun. Da sowieso das halbe Cockpit zerlegt war, konnte ich bei der Gelegenheit auch gleich den Schiffstransponder abklemmen und sendete somit keine Kennung und andere Daten in die Interdimension. Die verschmorten und unterbrochenen Kabel waren recht schnell durch andere unverschmorte Kabel ersetzt, die wegen des fehlenden Interdimensionsantriebs nicht mehr benötigt wurden.

Das erste Einschalten nach dem provisorischen Zusammenbau des Cockpits ergab keinen Kurzschluss, sondern zumindest funktionierende Anzeigen für den Atmosphärenantrieb, die Innenraumluftversorgung, das Radar mit Kollisionswarner und dann auch für die Interdimensionskommunikation.

Zuerst schaltete ich den Sprechfunk ein und bekam mit, wie ein Schiff im vierundzwanzigsten Jahrhundert um den Einflug in die Neutrale bat. Das war schon einmal positiv, doch mit Sprechfunk alleine kam ich hier nicht weiter. Für meine Zwecke brauchte ich nämlich einen funktionierenden Datenfunk, der auch in beide Richtungen funktionierte. Eine bisher dunkle Anzeige im Cockpit zeigte jetzt aber schon aktuelles Datum und Zeit in der Neutralen, so dass das Schiff wohl schon irgendwelche Daten aus der Interdimension empfangen haben musste.

Ich war lange genug bei der Agency, um Hintertüren aller Art zu kennen, und so konnte ich als Systemwartungszugriff getarnt unbemerkt in das elektronische Innerste eindringen. Aus den Einsatzberichten konnte ich erfahren, wann Lisa das erste Mal und das letzte Mal erwähnt wurde. Ich war am Anfang als ihr zuständiger Senior Agent angegeben worden, insofern war Lisa O’Donoghue tatsächlich als Trainee in die Agency eingetreten und sie hatten nicht versucht, sie vorher zu eliminieren. An der Neutralen konnten die Korrektoren auch mit viel krimineller Energie nichts verändern, ohne sich selbst zu gefährden, daher war es am wahrscheinlichsten, dass sie Lisa während eines Einsatzes hatten verschwinden lassen. Von ihrem ersten Einsatz ausgehend arbeitete ich mich durch Ausbildungs– und Einsatzberichte vor, und siehe da, zu einem gewissen Zeitpunkt war ein offizieller Code Zwanzig für Agent O’Donoghue verzeichnet. Auch kriminelle Korrektoren mussten sich halbwegs an Regeln halten – denn einen Zeitagenten konnte man nicht so einfach verschwinden lassen – und so hatten sie sich hier wenigstens formal korrekt verhalten. Wie sie Lisa genau haben verschwinden lassen, stand einerseits nicht im Einsatzbericht und andererseits wollte ich es auch gar nicht so genau wissen. Immerhin hatte ich nun die Zeitspanne eingrenzen können, in der ich sie retten konnte.

Ich wusste sofort, dass ich genau in diesem Zeitraum einen Einsatz mit ihr gehabt hatte, nämlich Qualle im Jahr 2010 in Minden in Deutschland. In die Zentrale zurückkehren konnte oder wollte ich aber nicht, so dass ich bei diesem Einsatz versuchen würde, in die Zeitläufe einzugreifen. Dort waren wir unter uns und keine Korrektoren oder andere Zeitagenten würden mich dabei stören. Worauf ich keinen Wert legte, war aber, in der Zentrale festgenommen und in eines dieser furchtbaren Schwerelosigkeitsarrestzellen gesteckt zu werden. Der Plan musste daher mehr als gut durchdacht sein.

In der Theorie sah alles ganz gut aus, aber in der Praxis gab es ein klitzekleines Problem. Ich hatte nämlich kein zeitsprungfähiges Schiff, denn mit dem Schiff, in dem ich gerade saß, kam ich nicht einmal zehn Sekunden in die Vergangenheit zurück. Also hieß es für die mehr als verwegene Phase Null meines Plans, dass ich mir als ersten Schritt ein zeitsprungfähiges Schiff beschaffen musste. Ich hatte vor, ein Schiff entweder zu entwenden oder gegen meines auszutauschen und den Transponder so zu manipulieren, damit es nicht sofort auffiel. Durch den heimlichen Zugriff auf die Einsatzpläne der Elektoren konnte ich nachsehen, ob und wann in von hier aus naher Zukunft ein Einsatz geplant war.

Das Ganze war aber äußerst riskant, ich würde sehr nah an Paradoxons herankommen, vielleicht sogar ein starkes selbst erzeugen. Die Liebe ging schon seltsame Wege, denn ich wollte Lisa auf jeden Fall wieder haben. War ich schon so »umgepolt«, dass mir solche seltsamen Gedanken durch den Kopf gingen? Der – frühere – große Zeitagent Tim Cassell, Senior Special Time Agent, der dienstälteste Protektor, der noch regelmäßig Außeneinsätze absolvierte, hätte niemals solche Gedanken gehabt.

Zumindest gab es mich als Zeitagenten in der Zentrale noch und ich absolvierte wohl auch noch Einsätze. Es würde sich so nicht vermeiden lassen, dass ich mir irgendwann einmal selbst begegnete. Die Physiktheorie besagte, dass zwei Objekte nicht den gleichen Raum einnehmen konnten, daher müsste ich einen gewissen Abstand zu mir selbst halten. Noch niemand hatte außerdem probiert, die Physik herauszufordern und sich mit sich selbst zu verschmelzen. Das bedeutete, mich einfach so durch Verschmelzen mit mir selbst in den normalen Tagesbetrieb in die Agency einzuschleusen, würde Verwerfungen im Raum-Zeit-Kontinuum verursachen. Verwerfungen im Raum-Zeit-Kontinuum lösten aber Zeitbeben aus, und diese würden sicherlich sofort registriert werden. Nachdem die Korrektoren aber mittlerweile so viel Mist gebaut hatten, da in Einsatzberichten eigentlich ständig Zeitbeben bei Korrektoreneinsätzen erwähnt wurden, sollten diese bei den Retroreflektoren folglich nur wenig aus dem Grundrauschen herausragen.

Dennoch war es durchaus sinnvoller, es irgendwie schaffen zu können, das bei einem Einsatz und nicht in der Zentrale bewerkstelligen zu können. Die Einsätze Bussard, Chamäleon, Dachs und Emu (wie ich diese Namen hasste) waren für mich mit einem nicht zeitsprungfähigen Schiff unerreichbar, erst der Einsatz Fasan sah passend aus, der in etwa eineinhalb Jahren bretto (noch so ein Wort) stattgefunden haben wird.

Dieser Einsatz fand zwar auf einem anderen Kontinent als Nordamerika statt, aber ich besaß ja noch ein Schiff, das zwar nicht zeitsprungfähig, aber immerhin atmosphärenflugtauglich war. Eineinhalb Jahre waren natürlich eine recht lange Zeit, aber so hatte ich genügend Freiraum, meinen Plan zu verfeinern und auszubauen. Leider waren in dieser Zeit auch keine Besuche bei Henrietta möglich, aber ich hielt sie weiterhin unter Beobachtung.

Der erste Teil des Plans sah vor, das funktionierende Zeitschiff gegen meins ohne Interdimensionsantrieb auszutauschen, was natürlich einfacher klang, als es war. Jedes Schiff hatte Sicherheitssysteme an Bord, damit eben genau so etwas nicht passierte. Die Technik des vierundzwanzigsten Jahrhunderts hatte einige Tricks auf Lager, die es schwer machten, sich dort einfach Zugang zu verschaffen. Ich war aber einerseits in die Interdimensionskommunikation erfolgreich eingedrungen und andererseits selbst an der Konzeption einiger Sicherheitssysteme beteiligt, so dass ich viele »Abkürzungen« kannte, die besonders bei Notfällen eingesetzt werden sollten. Lisas Verschwinden empfand ich als Notfall, insofern empfand ich keine Skrupel.

Hätte ich gewusst, dass ich diese einmal wirklich brauchen konnte, hätte ich deutlich mehr geheime Hintertüren in das Systemdesign eingebaut. So war ich offensichtlich in meiner Planung nicht weit genug gegangen, denn Verstecke unterschiedlichster Art reichten hier offensichtlich nicht aus. Ich war aber auch bisher immer davon ausgegangen, dass ich primär immer nur mich selbst retten konnte und hatte nie auf dem Radar, dies auch einmal gegen eine mich hintergehende Agency einsetzen zu müssen – und auch noch eine weitere Person zu retten.

Nun hatte ich aber auch eineinhalb Jahre Zeit für eine tiefergehende Planung, wobei es aber viele Unsicherheiten gab – und es konnte so ziemlich alles schiefgehen, was schiefgehen konnte. Falls ich auffliegen sollte, würde die Agency wahrscheinlich alle verfügbaren Zeitschiffe auf mich hetzen. Ich wäre bei so etwas sehr vorsichtig, denn noch nie war mehr als ein Zeitschiff gleichzeitig in die Vergangenheit gereist. Schon durch unsere reine Anwesenheit veränderten wir ja die Vergangenheit, daher wurden bisher auch die Größe eines Einsatzteams möglichst klein gehalten.

Es dauerte viele Wochen, bis die Schneemassen im Frühjahr vollständig weggetaut waren. Bedingt durch den harten Winter hatte sich mein Holzvorrat für den Kamin sehr gelichtet und so konnte ich endlich wieder mit dem Holzhacken beginnen. Die regelmäßige Überprüfung des Interdimensionfunks brachte keine neuen Erkenntnisse, außer dass die Korrektoren auch die letzten verbliebenen Protektoren in die Flucht geschlagen hatten, darunter auch meinen jetzt ehemaligen Chef.

Eines Tages – ich hatte recht schnell den anfänglichen Muskelkater überwinden können – kam mir beim Holzhacken die bahnbrechende Idee, wie ich möglichst unbemerkt von der Agency ein Zeitschiff entwenden konnte, ohne dass dies große Aufmerksamkeit erregen würde und ohne dass das Einsatzteam in der Lage war, geordnet mit der Zentrale zu kommunizieren. Irgendwo in der technischen Beschreibung des Interdimensionsfunks, der sowieso hart an der Grenze der Physik operierte, gab es doch einen längeren Abschnitt mit technischen Restriktionen, den ich bisher nur überflogen hatte.

Ich ließ die Axt fallen und begab mich schnurstracks zum Schiff, um diesen Abschnitt genau zu studieren. Und siehe da, es konnten nur eine bestimmte Anzahl von Sprach- und Datenpaketen gleichzeitig verarbeitet werden, ansonsten gingen weitere Nachrichten sowohl auf Sender- als auch auf Empfängerseite in Warteschlangen, um dann erst verzögert abgearbeitet zu werden.

Das war es!

Ich musste also nur den Interdimensionsfunk mit so vielen Nachrichten fluten, dass er quasi fast unbenutzbar wurde; ich selbst brauchte ihn ja nicht unbedingt. Wie jeder geniale Plan benötigte dieser auch etwas Vorbereitung, noch waren von den eineinhalb Jahren aber genügend Zeit vorhanden. Zum Glück hatte ich in zwei meiner Verstecke noch kleine Interdimensions-Funkmodule auf Lager, die ich einsetzen konnte. Die Interdimension sollte jedoch nicht schlagartig mit Nachrichten geflutet werden, sondern es sollte erst nach und nach etwas hinzukommen, damit niemand misstrauisch wurde. Über die Art der Nachrichten zerbrach ich mit mehrere Wochen lang den Kopf, bis ich auf einer meiner Einkaufstouren in einem Ladengeschäft einen lokalen Radiosender hörte.

Ich würde also in unregelmäßigen Abständen kleine Fragmente von Radiosendungen in die Interdimension einspeisen und es möglichst zufällig aussehen lassen. Der oder die Interdimensionssender – ich hatte mich noch nicht entschieden, ob ich einen oder mehrere verwenden wollte – wollte ich in der Nähe von großen Antennen- oder Radaranlagen platzieren, so als ob es dann aussah, als ob diese Anlagen mit dem Interdimensionsfunk interferieren. In dieser Zeitepoche, in der ich nun lebte, gab es wahrlich genug solcher Anlagen, so dass ich mir welche aussuchen konnte.

Zwei schöne große Anlagen, das Very Large Telescope Array in New Mexico in Nordamerika und das Duga-1-Radar in der Ukraine befanden sich entweder zu abgelegen oder sogar in einer radioaktiv verseuchten Sperrzone. Meine weitere Wahl fiel dann auf stillgelegte Mittelwellensender, von denen einer im Saarland in Deutschland mein besonderes Interesse weckte, da er sich nicht allzu weit entfernt von meinem Versteck in Norditalien befand, ich ja etwas Deutsch konnte und es auch gleich mit einer kleinen Europareise verbinden konnte.

Die Nähe zu Frankreich fand ich besonders gut, denn ich freute mich schon auf die Gesichter in der Zentrale, wenn ab und zu über den Interdimensionsfunk Fragmente französischer Chansons übertragen wurden. Wenn schon, dann mit Stil!

Damit mir im Blockhaus nicht die Decke auf den Kopf fiel, hatte ich für den Sommer sowieso Reisen geplant, und konnte so das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Beim Thema »Reisen« musste ich sofort an Lisa denken und dass ich eigentlich mehrere schöne Reisen mit ihr geplant hatte. Ich konnte mich aber dadurch ablenken, indem ich mich tief in die technische Dokumentation des Interdimensionsfunks und der dazugehörigen Funkgeräte einlesen musste.

Wie es aussah, waren ältere Geräte noch »offener«, das heißt es gab noch viele Möglichkeiten, diese zu manipulieren – und genau das hatte ich ja auch vor. Passenderweise besaß ich tatsächlich auch zwei funktionsfähige Geräte der allerersten Generation in meinen Verstecken.

Quasi nebenbei konnte ich auch noch ein anderes Problem lösen, nämlich wie ich ein Zeitschiff unter Umgehung der Sicherheitssysteme entsperren konnte. Zum notfallmäßigen Öffnen und in Betrieb setzen war zwingend ein Interdimensionssignal erforderlich, welches entweder über einen CR oder über ein Interdimensionsfunkgerät gesendet werden musste. Ich wollte daher genau wie damals nach dem Code Zwanzig vorgehen, als Lisa und ich als erste am Schiff angekommen waren und ich dieses mit dieser Notfunktion geöffnet hatte.

Je weiter ich in der technischen Dokumentation voran kam, desto besser sah es für mich aus. Für Funkgeräte der ersten Generationen waren dort ein paar Warnhinweise enthalten, die Geräte ständig nahe an der Spitzenlast zu betreiben oder diese gar zu überlasten. Sie würden dann zwar nicht gleich durchschmoren und unbenutzbar werden, aber waren dann nicht mehr für einen längerfristigen Dauerbetrieb bei hoher Last geeignet. Dies war wohl auch der Grund gewesen, warum diese Geräte frühzeitig ausgemustert wurden und ich mir unbemerkt ein paar Stück auf die Seite legen konnte. Auch hatte ich gar nicht vor, das Teil ständig in Spitzenlast zu betreiben, sondern es sollte nur etwa ein Jahr lang in unregelmäßigen Abständen Radioprogrammfragmente senden. Richtig begeistert war ich dann von der Beschreibung, was ein überlastetes Gerät verursachen sollte, nämlich ein klitzekleines Zeitbeben knapp unter der menschlichen Wahrnehmungsgrenze, aber doch für die Überwachungsgeräte in der Zentrale messbar. Genau das war es, was ich gebrauchen konnte, um mein geplantes Zeitmanipulationsvorhaben verschleiern zu können.

Die Reisevorbereitungen waren schnell getroffen und ich hatte mir nur Länder entweder ohne Visumzwang oder mit einfachen Visaverfahren ausgesucht, in die man also nicht nur vorangemeldet mit einer Reisegruppe hineinkam. Das Blockhaus war ja im Besitz einer meiner Tarnfirmen unter Verwaltung von Henrietta, war also nicht zu mir zurückzuverfolgen, und das Anzapfen der Agency-Kommunikation hatte diesen Namen nirgends auftauchen lassen, so dass ich weiterhin als Tom Cassidy durch die Weltgeschichte reisen konnte.

Die Visaerteilung und schon im Voraus durchzuführenden Einreiseformalitäten liefen dann auch erwartungsgemäß problemlos ab, und so konnte ich vollkommen legal und unbehelligt in Italien einreisen. Was mit meinem Schiff nur wenige Minuten in Anspruch genommen hätte, dauerte mit den Verkehrsmitteln des einundzwanzigsten Jahrhunderts fast zwei Tage. Mit dem Landfahrzeug fuhr ich vom Blockhaus nach Boston, dem nächstgelegenen Flughafen mit internationalen Flügen, von dort aus nach Mailand in Italien mit dem in der Zeitepoche »Flugzeug« genannten Fluggerät und von dort aus mit einem gemieteten Landfahrzeug zu meinem Versteck in Norditalien. In diesem Versteck sollte eine funktionierende Energieversorgungseinheit für ein Interdimensionsfunkgerät vorhanden sein.

Da gerade die Sommersaison zu Ende gegangen war und die Wintersaison noch nicht angefangen hatte, war die Ferienwohnung, die als mein Versteck diente, gerade nicht vermietet. So konnte ich mich dort erste einmal für eine kurze Zwischenpause einquartieren. Henrietta hatte dieses Versteck zwar vermietet, ohne es mit mir abgestimmt zu haben, aber ich hatte ihr auch gar keine genauen Instruktionen mit auf den Weg gegeben. Immerhin gab es meiner Tarnfirma einen offiziellen Charakter und Henrietta bekam auf diese Weise noch ein paar zusätzliche Einnahmen.

In einer Wandnische unter einer Dachschräge befand sich das Geheimfach, weswegen ich dieses Versteck aufgesucht hatte. Das Energiemodul war noch an Ort und Stelle und stellte sich außerdem zu meiner großen Erleichterung als voll funktionsfähig dar.

Gerne hätte ich noch weitere Tage in dieser schönen Berggegend verbracht, auch weil einige Bäume jetzt anfingen, herrlich bunte Herbstfarben zu zeigen, aber ich wollte den Interdimensionssender so schnell wie möglich in Betrieb nehmen. Schon am darauf folgenden Tag machte ich mich wieder auf den Weg und mein nächstes Ziel war ein Bankschließfach in München in Deutschland.

Über den Brennerpass und Innsbruck gelangte ich mit dem Landfahrzeug zügig nach München, um mich dann in einem Hotel am Rande der Innenstadt einzuquartieren. Als erstes wollte ich das Landfahrzeug abgeben, um nicht so weit nördlich mit italienischen Kennzeichen herumfahren zu müssen. Die Station der Mietwagenfirma befand sich etwas außerhalb der Innenstadt und so beschloss ich, nachdem ich eine Straßenbahn erblickt hatte, mit ebendieser wieder in die Innenstadt zurückzufahren.

Nachdem ich am Fahrkartenautomaten wohl einen ziemlich verzweifelten Eindruck gemacht hatte, kam mir eine Gruppe kichernder Teenagermädchen zur Hilfe, so dass ich »Tourist aus Amerika, wo es kaum öffentlichen Nahverkehr gibt« zum passenden Fahrschein für die richtige Linie in die richtige Richtung kam.

Das Bankgebäude, in dem sich das Schließfach befand, lag nur wenige Schritte von der Straßenbahnhaltestelle entfernt, und so war ich nach kurzer Zeit schon am Ziel meines Besuchs in dieser Stadt angekommen. Eine von meinen Tarnfirmen unter der Verwaltung von Henrietta hatte immer ordnungsgemäß die Schließfachgebühren bezahlt, und so war es nicht geräumt worden, so dass alles noch vollständig vorhanden war, auch Technik des vierundzwanzigsten Jahrhunderts. Dem Schließfach entnahm ich den Sender und nach nur zehn Minuten war ich schon wieder auf dem Weg ins Hotel.

Im Hotel angekommen, verband ich das Interdimensionsfunkgerät mit der Energieversorgung und sofort erwachte es zum Leben. So bekam ich mit, dass gerade im Jahr 2145, also weit außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs, ein Einsatz Bussard stattfand. Irgend etwas lief bei diesem Einsatz nicht rund, was mich jetzt nicht weiter verwunderte, stand er doch unter der Leitung eines Korrektors – Protektoren waren ja mittlerweile fast alle vertrieben worden. Das gab mir die Gelegenheit, gleich einmal mit dem Sender ein winziges Zeitbeben zu erzeugen, und zu hoffen, gerade so weit auffiel, es für eine unbeabsichtigte leichte Störung der Interdimension zu halten. Es funktionierte tatsächlich und ich bildete mir ein, ein ganz leichtes Zittern verspürt zu haben.

Dass es sich wirklich um ein Zeitbeben gehandelt haben musste, wurde mir gleich darauf durch den Interdimensionsfunkverkehr bestätigt, indem ein Retroreflektor aus der Zentrale das Einsatzteam lauthals beschimpfte, für dieses Zeitbeben verantwortlich gewesen zu sein. Ich konnte es mir bildlich vorstellen, wie jetzt im Einsatzteam eine hektische Betriebsamkeit ausbrechen musste, welche ihrer Aktionen jetzt zu diesem Zeitbeben geführt haben konnte. Somit hatte ich ungeplant zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können, einerseits schien das Interdimensionsfunkgerät wie gewünscht zu funktionieren und andererseits hatte ich der Agency eins auswischen können.

Damit die Sendung nicht zurückverfolgt werden konnte, hatte ich die Gerätekennung durch eine wirre Zeichenfolge ersetzt, das Gerät anschließend sofort wieder ausgeschaltet und es auch wieder von der Energieversorgung getrennt.

Nachdem ich mir am darauf folgenden Tag ein neues Landfahrzeug gemietet hatte, machte ich mich gleich auf den Weg in das Saarland, um den Interdimensionssender zu installieren. Die Fahrt vom Alpenrand durch die deutschen Mittelgebirge gestaltete sich recht ansprechend, und ich nahm mir vor, sollte ich Lisa jemals wieder zurückbekommen, irgendwo dort auf dem Land einmal Urlaub zu machen.

Schon von Weitem konnte ich die großen Sendemasten erkennen, die mit einem auffälligen rot-weißem Warnanstrich versehen waren und zwischen denen Seile gespannt waren, an denen große orangerote Bälle zur Warnung des Flugverkehrs hingen. Es war keine Alarmanlage vorhanden und kein Wachpersonal zu sehen, so dass ich ungestört das Interdimensionsfunkgerät nebst Energieversorgung in eine kleine Nische im Fuß eines Sendemastes unterbringen konnte. Überrascht wurde ich davon, dass dieser Radiosender noch in Betrieb war, entgegen meinen Recherchen. Erst später stellte ich fest, dass ich den falschen Sender genommen hatte, aber ich wollte nicht noch einmal auf das Gelände zurückkehren, um nicht doch noch entdeckt zu werden. Außerdem hatte ich mich noch nicht entschieden, welches Radioprogramm ich genau einspeisen wollte, insofern wurde mir diese Entscheidung gleich abgenommen.

Ich hatte das Interdimensionsfunkgerät dann so eingestellt, dass es verzerrte Fragmente des französischen Radioprogramms, welches dort ausgestrahlt wurde, in die Interdimension weiterleitete. Da ich festgestellt hatte, dass sich das Team von Bussard sich noch immer im Einsatz befand, konnte ich es und die Agency gleich wieder mit einer Übertragung ärgern, dieses Mal aber in der schwächeren Variante ohne Zeitbebenauslösung.

Wie erwartet grätschte der immer schlechter gelaunte Retroreflektor dazwischen und versprach dem Einsatzteam zum Schluss eine »ungemütliche« Abschlussbesprechung. So schön es auch war, die Agency mit einfachsten Mitteln in Aufruhr versetzen zu können, so musste ich Acht geben, weil alle meine Aktionen zu einer unmittelbaren Reaktion geführt hatten. Ich musste also meinen ursprünglichen Plan anpassen und wollte meine Übertragungen erst einmal nur während Einsätzen senden – ich hatte ja noch drei Einsätze zur Auswahl, bis Fasan anstand.

Erst wenn sich die Zeitagenten daran gewöhnt hatten, dass im Interdimensionsfunk manchmal seltsame Dinge passierten, wollte ich die Frequenz und die Intensität erhöhen.

Wieder beim Blockhaus zurück konnte ich nun den Interdimensionssender bequem vom Schiff aus steuern. So verbrachte ich die nächsten Monate damit, der Agency und auch den Korrektoren mit diesen kleinen Übertragungen mit und ohne kleinem Zeitbeben auf die Nerven zu gehen.

Da ich auch den Funkverkehr zwischen der Zentrale und aus der oder in die Neutrale fliegenden Schiffen anzapfen konnte, ließ ich nach etwa einem Jahr ab und zu kurz nach den Dimensionsübergängen ein zwar äußerst kleines, aber technisch dennoch messbares Zeitbeben erzeugen. Hier hatte ich es fast zu weit getrieben, denn nach dem Einsatz Dachs wurde vom Vorstand eine Einsatzpause verhängt und alle Interdimensionantriebe mussten auf ihre ordnungsgemäße Funktionsfähigkeit überprüft werden.

Mir tat der Werkstattleiter fast ein wenig leid, da er jetzt viele Sonderschichten für diese Untersuchung einlegen musste. Aber da die Bombe von jemandem mit sehr großen Detailwissen über Zeitschiffe gelegt worden sein musste, konnte ich ihn immer noch nicht von meiner Liste der Verdächtigen ausschließen.

Nach ein paar Wochen stand das Untersuchungsergebnis fest, es konnten keine Fehlfunktionen an den Interdimensionsantrieben und auch beim Interdimensionsfunk festgestellt werden. Da Ganze lief ja sowieso im Grenzbereich der Quantenmechanik ab und einige Wissenschaftler schoben es auf noch nicht erforschte Interferenzen im Raum-Zeit-Kontinuum, die beim Dimensionsübergang auftreten konnten.

Nirgends aber fielen die Begriffe »Tim Cassell«, »Saarland« oder gar »Tom Cassidy«, die Agency schien wirklich vollkommen im Dunkeln zu tappen. Ich konnte immer noch die Sonderberichte mitlesen, die regelmäßig an den Vorstand gehen mussten, und trotz der von mir erhöhte Störungsintensität hatte die Agency immer noch nicht die tatsächliche Quelle finden können.

So verbrachte ich die Zeit, soweit das Wetter es zuließ, mit ausgiebigen Waldspaziergängen, Schwimmen im See und natürlich Holzhacken.

Etwa einen Monat, bevor das Einsatzteam von Fasan meine Zeitepoche erreichen sollte, begann ich mit dem Freilegen des Schiffs hinter dem Blockhaus. Es war ja fast schon ein Bestandteil des Blockhauses geworden, ich hatte aber für den Fall eines Alarmstarts an vielen Ecken Sollbruchstellen eingebaut. Nun wollte ich aber beim Start nicht alles zerstören, da ich eigentlich vorhatte, hierher wieder zurückkehren zu wollen.

Um das Blockhaus, welches ja vom Schiff mit Energie versorgt wurde, auch während der Abwesenheit des Schiffs versorgen zu können, reiste ich zu einem meiner Verstecke an der Westküste des nordamerikanischen Kontinents, um eine dort lagernde Energiezelle des vierundzwanzigsten Jahrhunderts zu holen. Die andere Energiezelle versorgte ja meinen »Interdimensions-Störsender«, so dass ich nicht auf diese zurückgreifen konnte.

Als letzte Aktion nach meiner Rückkehr und der Installation des Energiemoduls in einem Geheimfach innerhalb eines Holzbalkens konnte ich das Verbindungskabel zum Haus vom Schiff lösen.

Vier Tage vor T-Null des Einsatzes Fasan sendete ich nochmals etwas französisches Radio in den Interdimensionsraum. Dabei bekam ich mit, dass sich in der Zentrale schon über die kleinen Störungen des Raum-Zeit-Kontinuums lustig gemacht wurde, denn irgendjemand hatte diesen den Namen Chanson-Zeitbeben verpasst. »Ach, das war doch nur ein Chanson-Zeitbeben!« fand so Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch in der Zentrale. Unabsichtlich hatte derjenige mir voll in die Karten gespielt, denn ich wollte ja gerade, dass diese Zeitbeben als harmlos angesehen werden sollten. Wenn diese Verharmlosung dazu beitragen konnte, dass nicht so genau nachgeforscht wurde, woher und aus welchem Jahr diese Übertragungen gesendet wurden, konnte das nur zu meinem Vorteil sein.

Pünktlich zum im Einsatzplan vorgesehenen Zeitpunkt schlug mein Interdimensionswarngerät Alarm und das Einsatzteam von Fasan trat in meine Zeitepoche ein. Flugs begab ich mich ins Schiff, um den Anflug auf die Erde, den Eintritt in die Erdatmosphäre, den Landeanflug und die Landung selbst mitzuverfolgen. Aus den Einsatzunterlagen wusste ich, dass zwei Tage vor T-Null hier eine Vorbereitungsphase eingeplant worden war. So hatte ich also genug Zeit, mich auf das Entwenden des Zeitschiffs vorzubereiten.

Ohne von Fluggeräten aus dieser Zeitepoche verfolgt zu werden, konnte ich mit meinem Schiff zu dem Ort gelangen, an dem das Einsatzteam landen sollte; ein geeigneter Landeplatz war für mich in der Nähe schnell gefunden. Kurz vor T-Null sollte das andere Zeitschiff noch an einen anderen Ort verlegt werden, und hier wollte ich mich dann ebenfalls synchron bewegen, um ein paar Überwachungssysteme im anderen Schiff und in der Agency zu verwirren. Auch sollte dieses Manöver von mindestens einem Chanson-Zeitbeben begleitet werden. Ich hoffte, dass das »Echo« eines anderen Zeitschiffes dann damit erklärt wurde.

Etwa fünf Stunden vor T-Null verließen dann die Zeitagenten – natürlich alles Korrektoren – das Zeitschiff an seinem neuen Landeplatz und begaben sich mit zwei Landfahrzeugen zum Einsatzort. Jetzt war meine Chance gekommen, das Schiff zu entwenden.

Ich hatte mir im Laufe meiner Zeitagententätigkeit ein paar Reservesystemkennungen und -codes zugelegt, und da diese schon seit vielen Jahren in keinem Sicherheits-Audit auffällig geworden waren, war ich zuversichtlich, diese hier zum erfolgreichen Kapern des Schiffes verwenden zu können. Als sich dann die Tür des Zeitschiffes öffnen ließ, ohne gleich einen Alarm auszulösen, das Schiff gleich wieder zu verriegeln oder Zeitagenten in großer Anzahl auftauchen zu lassen, war schon einmal ein großer Schritt geschafft.

Ich schaute auf die Uhr. In etwa zwanzig Minuten sollte das nächste Zeitbeben aus dem Saarland erzeugt werden. Kurz danach wollte ich mit dem Schiff starten und gleich ohne Umweg in das Jahr 2010 zurückkehren. Im Jahr 2010 war mein zweiter Einsatz gemeinsam mit Lisa gewesen, Qualle mit dem ZP-Ehepaar in Minden in Deutschland.

Unbehelligt konnte ich den Zeitsprung durchführen und das Schiff dann auf einer Industriebrache in Minden landen. Ich hatte den Zeitpunkt so gewählt, dass ich mein zweites Ich und Lisa direkt nach dem Verlassen des Restaurants und nach der Verabschiedung der ZP treffen sollte. Normalerweise sollte man unbedingt vermeiden, sich selbst in der Vergangenheit zu begegnen, aber jetzt konnte ich die Theorie aus der Physik einmal praktisch überprüfen, ob zwei Objekte tatsächlich nicht den gleichen Raum einnehmen konnten.

Ich schlich mich von hinten an und verschmelzte mit einem beherzten Sprung sozusagen mit mir selbst.

Womit ich aber überhaupt nicht gerechnet hatte, war die Gegenwehr meines anderen Ichs, von mir eingenommen zu werden, während die rein physische Verschmelzung problemlos über die Bühne ging. Mit einem »Lisa ist in großer Gefahr! Und wenn ich nicht eingreife, wird sie bald gar nicht mehr existieren!« brachte ich es zum Schweigen und konnte mich so ungestört um das weitere Geschehen kümmern. Wie gut, dass die Gesetze der Physik immer galten und ich mich nicht in ein Schwarzes Loch oder Ähnliches verwandelt hatte.

Lisa drehte ihren Kopf zu mir und schaute mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an.

»Du siehst ja plötzlich irgendwie anders aus! Und war das etwa ein kleines Zeitbeben?« 

Sie musterte mich von oben bis unten und ihr Gesichtsausdruck wandelte sich in leichte Fassungslosigkeit.

»Timothy, was hast du angestellt?« 

Sie benahm sich wie eine Mutter, dessen Kind ungezogen war. Wenn eine Mutter ihr Kind beim vollen Namen nannte, dann war immer höchste Vorsicht geboten.

Ich fasste sie daher fest an den Händen, sagte »Lisa, du hörst mir jetzt ganz genau zu!« und begann, ihr meine Rettungsaktion zu erläutern.

Sie kannte mich mittlerweile wohl gut genug, um mir zu glauben, dass ich keine Märchengeschichten auftischte. Da ich ihr wohl glaubhaft versichern konnte, dass es um ihre weitere Existenz ging, war sie sofort bereit, voll und ganz bei meinem Plan mitzuarbeiten.

Auf dem Weg zu meinem Landfahrzeug hielt sie dann dennoch kurz inne und fragte: »Das alles machst du nur für mich?« 

»Ich kann es nicht zulassen, dass die idiotischen Korrektoren dich schöne Frau einfach eliminieren wollen!«, rutschte mir heraus.

Schon bereute ich es, denn der darauf folgende sehr intensive Kuss kam gar nicht in meinem Plan vor und erwischte mich vollkommen unvorbereitet. Zu diesem Zeitpunkt waren wir uns ja noch nicht richtig nähergekommen, zumal ich nun auch wieder im Dienst und damit wieder ihr Vorgesetzter geworden war.

Im Blockhaus hatte ich mehrere Monate Zeit gehabt, mich durch viele technische Handbücher zu wühlen. So war an einigen Stellen dort in Fettdruck vermerkt, dass man nicht mit mehreren Zeitschiffen gleichzeitig einen Zeitsprung machen durfte, weil sonst im Grenzbereich der Physik alles durcheinander geraten würde. Da es aber doch einmal vorkommen konnte, für einen Einsatz mehrere Zeitschiffe zu brauchen, wurde die Möglichkeit geschaffen, Zeitschiffe aneinander zu koppeln und so den Zeitsprung als ein einziges Objekt durchführen zu können. Außerdem wollte ich es unbedingt vermeiden, Lisa als jetzt noch unerfahrene Pilotin alleine einen Zeitsprung machen zu lassen.

Nachdem wir noch Lisas Landfahrzeug eingesammelt hatten, flogen wir mit meinem Zeitschiff zum stillgelegten Schotterwerk, in dem Lisas Zeitschiff versteckt war. Dort angekommen, ließ ich sie aussteigen und ihr Schiff aus dem Versteck in Freie manövrieren. Niemand von uns hatte das Koppeln zweier Zeitschiffe jemals am lebenden Objekt geübt, und so mussten wir es auf einen Versuch ankommen lassen. Zumindest ließ sich eines der vielen Flughandbücher ausführlich darüber aus, wie dieses Manöver durchzuführen war.

Lisa stellte sich in ein paar Metern Entfernung auf, um mich einzuweisen. Vorsichtig brachte ich mein Schiff in den Schwebeflug und manövrierte es mit nur minimalen Bewegungen der Steuerknüppel genau über das andere Schiff. Lisa berichtete mir über ihren CR, dass beide Schiffe selbsttätig Kopplungsklammern (oder wie immer diese im Handbuch bezeichnet wurden) ausgefahren hatten, als der Abstand zwischen den Schiffen ein gewisses Maß unterschritten hatte. Diese ähnelten den Klammern, mit denen die Interdimensionsantriebe mit den Schiffen verbunden wurden. Als ich das Schiff auf das andere Schiff aufgesetzt hatte, spürte ich einen leichten Ruck und Lisa meldete, dass die Klammern sich verbunden hatten. Auch eine von mir bisher nicht bewusst wahrgenommene Luke im Boden zwischen den Sitzen machte ein klackendes Geräusch.

Kurze Zeit später öffnete sich die Luke und Lisa steckte ihren Kopf hindurch. Laut Handbuch musste man bei gekoppelten Schiffen eins als »Master« und alle anderen als »Slave« festlegen und so schickte ich sie wieder herunter ins Cockpit, um das untere Schiff zum »Sklaven« zu machen. Ich ließ sie anschließend aussteigen, um von außen einen ersten Startversuch beobachten zu können.

Im Cockpit des »Master«-Schiffes hatten sich jetzt mehrere Anzeigen zweigeteilt und zeigten gleichzeitig den Status beider Schiffe an. Zur Sicherheit schnallte ich mich im Pilotensitz an, bevor ich den Startversuch begann.

Ich zog die Schiffe nur ein paar Meter hoch, und da diese zusammen blieben und im Cockpit nicht irgendwelche Warnungen oder Fehler angezeigt wurden, konnte ich diesen Test als erfolgreich abhaken. Ich landete wieder, Lisa stieg wieder ein und kletterte zu mir ins Schiff, um mit mir den Flug zum Einsatz Fasan vorzubereiten. Sie fing an, mich weiter auszufragen, aber ich stoppte sie, da ich einen engen Zeitplan hatte, um den Zeitsprung durchführen zu können.

Vor dem Start setzte ich mich an die Kommunikationskonsole im Cockpit und löste nochmals mit meinem Sender im Saarland ein kleines Zeitbeben aus. Lisa beobachtete mich genau.

»Diese komischen Zeitbeben, das warst du?«, fragte sie.

Ich wollte ihr jetzt nicht stundenlang alles erklären wollen und wiegelte ab mit: »Das ist kompliziert.« 

»Das machst du alles nur, um mich zu retten?« 

»Ja, aber je weniger du darüber weißt, umso besser.« 

Sie kannte mich wohl mittlerweile gut genug, um mir dann auch keine weiteren Fragen mehr zu stellen.

Ich war wohl schon wirklich an einem Liebe-macht-blind-Syndrom erkrankt, dass ich das alles auf mich nahm. Auch schaute Lisa mir mehrmals sehr tief in die Augen, was mich sehr unruhig werden ließ. Ich musste aber erst versuchen, loszulassen und den Start geordnet über die Bühne bringen.

Zum Glück wurde ich von den Startvorbereitungen vollkommen vereinnahmt und konnte diese Gedanken erst einmal verdrängen. Der Start selbst und der Flug ans Ende des Sonnensystems verliefen vollkommen problemlos, beide Schiffe blieben zusammengekoppelt und es tauchten keine unfreundlich rot blinkenden Fehlermeldungen auf.

Auch die von mir für dieses Manöver entwickelte Kombination Chanson-Zeitbeben - Zeitsprung - Chanson-Zeitbeben ging ohne Probleme vonstatten.

Ein paar Kilometer neben dem ursprünglichen Landeplatz landeten wir und begannen, die Schiffe wieder auseinander zu koppeln. Etwa zehn Minuten bretto, nachdem ich das Zeitschiff entwendet hatte, landete ich es wieder am gleichen Platz. Mit dem Systemzugang eines Wartungstechnikers, den ich mir vor ein paar Jahren erschlichen hatte und der immer noch funktionierte, löschte ich einige Einträge in diversen technischen Logbüchern, so dass mein Ausflug in das Jahr 2010 von den Zeitagenten des Einsatzes Fasan vollkommen unbemerkt bleiben sollte.

Anschließend bewegten wir uns zu Fuß zu meinem nicht mehr zeitsprungfähigen Schiff, das ja auch noch in der Nähe versteckt war. Lisa sagte weiterhin nur das Nötigste, führte aber alles aus, was ich ihr auftrug.

Nur ein »Noch ein Schiff?« rutschte ihr heraus, als sie sich meinem nicht mehr zeitsprungfähigen Schiff näherte.

Das war auch wirklich ungewöhnlich. Drei Schiffe der Agency so eng zusammen gab es bisher nur in der Zentrale und vielleicht einmal auf dem Trainingsgelände, aber noch nie während eines Einsatzes in der Vergangenheit.

Nachdem ich Lisa zurück zu ihrem Schiff gebracht hatte, flogen wir nebeneinander in den Westen der USA. Ich versteckte mein Schiff in einer großen Höhle, die in einem einer von Henriettas Grundstücksverwaltungsgesellschaft gehörenden großen Wüstengelände lag. Auch hier schaute Lisa nur verwundert drein, als ich anschließend die Höhle mit einem großen Stahltor verschloss und dieses mit mehreren Schlössern aus dem vierundzwanzigsten Jahrhundert verriegelte.

Rechtzeitig kehrten wir dann mit dem Zeitschiff in das Jahr 2010 zurück, um den Einsatz Qualle ordnungsgemäß und im vorgegebenen Zeitplan abschließen zu können. Kurz vor den geplanten Zeitsprung zurück ins vierundzwanzigste Jahrhundert erzeugte ich noch schnell eines meiner Zeitbeben, um kurz darauf eine Meldung an die Zentrale abzusetzen, dass irgendetwas mit der Interdimension nicht stimmte und ob ich trotzdem den Zeitsprung wagen sollte. Die Agency konnte außerdem nachprüfen, dass ich erst einmal im falschen Jahr gelandet war. Auch hier hatte ich die Logbücher kreativ angepasst, um es nicht so aussehen zu lassen, um nicht den Eindruck zu erwecken, es genau auf den Einsatz Fasan abgesehen zu haben.

Die Rückkehr aus dem Jahr 2010 in die Neutrale verlief dann allerdings problemlos, auch da ich bei den Dimensionsübergängen kein passendes Zeitbeben mehr erzeugte. Trotzdem wurde ein kurzes Flug- und Einsatzverbot ausgerufen und eine Sondereinheit aus Retroreflektoren gebildet, die das Ganze untersuchen sollte.

Nun befand ich mich für längere Zeit wieder in meinem Quartier in der Zentrale, ein Ort, an den ich neben der Quarantänestation eigentlich nicht wieder zurück wollte, nach allem, was die Agency oder Teile davon mir und der anderen Lisa angetan hatte.

Mit »Es ist besser, wenn du gar keine Einzelheiten kennst!« bügelte ich weiterhin Lisas Fragen ab, wie ich es geschafft hatte, ein Zeitschiff zu entwenden und unbemerkt wieder zurückzugeben und was es mit den Zeitbeben auf sich hatte. Sie hatte aber nach ein paar Tagen eingesehen, dass ich sie vor irgend etwas gerettet hatte, aber nicht darüber sprechen wollte oder konnte. Auch hatte sie daraus nicht abgeleitet, dass sie mir deswegen etwas schuldig war. Zum Glück beschränkten sich unsere intimen Kontakte daher weiterhin lediglich auf ein paar Wangenküsschen, was ich als vollkommen ausreichend ansah.

Nachdem nach zwei Wochen die Sonderermittlung der Retroreflektoren nichts Außergewöhnliches ergeben hatte, konnte der planmäßige Einsatzbetrieb wieder aufgenommen werden. So konnten wir beginnen, den Einsatz Rentier in Florida zu planen. Damit ich nicht wieder angeschossen wurde, wollte ich die Einsatztaktik dieses Mal ändern und uns von zwei Seiten der ZP nähern, um auch das Geschehen hinter mir beobachten zu können. Dass ich beim ersten Mal von einer Projektilwaffe angeschossen worden war, erzählte ich Lisa natürlich nicht, auch war die Wunde an Bein dank der Medizintechnik des vierundzwanzigsten Jahrhunderts zu einer fast unsichtbaren winzigen Narbe verheilt.

Mit der geänderten Taktik konnten wir dann die ZP retten, ohne dass es zu einem Schusswechsel gekommen war. So konnten wir sie am Eingangstor zum Anwesen des Gangsterbosses abliefern, um anschließend gleich zum Zeitschiff zurückzukehren. Noch bevor der Hurrikan die Küste erreichte, waren wir schon wieder in der Zentrale angekommen. Ich fand es nur schade, dass dieses Mal kein Pokerspiel stattgefunden hatte. Da ich jetzt aber nicht krankgeschrieben worden war, konnte ich mich zwischen den Einsätzen voll und ganz um Lisas weitere Ausbildung kümmern.

Weiterhin hielt sie dicht, was ich ihr hoch anrechnete. Auch erwischte sie mich zwar dabei, wie ich noch zwei kleine Chanson-Zeitbeben erzeugte, aber sie sah es ein, dass ich noch ein paar erzeugen musste, damit es nicht so aussah, als ob diese gleichzeitig mit unserem Einsatz Qualle endeten.

Es kam dann, wie es kommen musste, denn Lisa hatte selbstverständlich auch in dieser Realität ihre Ausbildung mit Auszeichnung bestanden. So hatte ich jetzt einen vollwertigen Junior Agent an meiner Seite, um den ich mich aber weiterhin als zugeordneter Partner und Vorgesetzter intensiv kümmern musste. Daher konnte ich es auch vermeiden, dass sie sich mit dem Korrektor anfreundete, was ja ursprünglich dazu geführt hatte, dass sie mir zusammen mit den Korrektoren in den Rücken gefallen war, schlussendlich dann aber aufgehört hatte, zu existieren. Auch jetzt hatte ich ihr noch keine tiefergehenden Einzelheiten meines Rettungsplans mitteilen müssen.

Am damaligen Zeitpunkt ihres Code Zwanzigs war es dann aber soweit. Wir waren gerade damit beschäftigt, in einem Zeitschiff ein paar kleinere technische Übungen zu absolvieren, da stoppte ich eine Übung, setzte mich ins Cockpit und bat Lisa zu mir.

Nachdem ich mit einem meiner erschlichenen Wartungszugänge ein paar Aufzeichnungsgeräte vorübergehend deaktivieren konnte – Lisa schaute mich wieder einmal schräg dabei an –, begann ich, ihr reinen Wein einzuschenken.

»Erst einmal muss ich dir nochmals ganz herzlich danken, dass du dicht gehalten hast!«, sagte ich zu ihr.

»Es wird wohl wichtig gewesen sein, denn ein Agent Cassell macht nichts, ohne dass es wichtig ist.« 

Wenn sie wüsste, dass ich das ganze eigentlich nur durchgezogen hatte, weil ich in sie verliebt war… 

Ich holte in kleines Anzeigegerät aus der Tasche, schaltete es ein und hielt es in Lisas Richtung.

»Vor etwa fünfzehn Minuten hätte eigentlich das hier passieren sollen«, erläuterte ich.

Sie schaute auf den Bildschirm und wurde dann bleich, so kreidebleich, wie es nur eine irischstämmige Rothaarige werden konnte.

»Code Zwanzig, ich?«, fragte sie.

»Ja, das ist der Grund, warum ich das alles durchgezogen habe.« 

Ich stupste sie mit einem Finger an und ergänzte »Und wie man sieht, bist du aber noch lebendig und am Stück!« 

Sie bekam Tränen in die Augen, wusste wohl aber nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

Sie fragte: »Aber warum? Warum wollte mich jemand loswerden?« 

»Die Korrektoren wollten die komplette Herrschaft über die Agency übernehmen und ich als hochdekorierter Protektor, auf den auch die Chefetage hörte, stand ihnen damals im Weg. Da sie aber zunächst nicht direkt an mich herankamen, versuchten sie es indirekt über dich.« 

Sie schaute mich weiterhin mit feuchten Augen an.

»Ist es denn jetzt anders?«, wollte sie dann wissen.

»Ja, ich bin nicht in Florida angeschossen worden und du wurdest nicht als einziger Protektor auf einen Einsatz mit vielen Korrektoren geschickt, weil ich krankgeschrieben war und für Einsätze daher gesperrt war. Und dann konnten sie es jetzt auch nicht mehr so hindrehen, dass du in einem Code Zwanzig verschwindest.« 

In meinem Plan kam aber nicht vor, dass sie sich jetzt auf meinen Schoß setzte, ihre Arme um meinen Hals legte und anfing, mich intensiv auf den Mund zu küssen. Erst nach ein paar Minuten lösten wir uns wieder voneinander.

»Vorsicht, Mädchen! Noch bin ich dein Vorgesetzter, wir sollten es also nicht zu öffentlich machen, Gerüchte gibt’s mehr als genug.« 

Ich versetzte das Schiff in den Normalzustand und wir gingen wieder unser normalen Arbeit nach.

»Es ist aber noch nicht vorbei. Sei wachsam, Junior Agent Lisa O’Donoghue, sehr wachsam!«, gab ich ihr auf den Weg, als wir uns am Abend vor meinem Quartier verabschiedeten.

Nach ein paar gemeinsamen Einsätzen von mir und Lisa war die Agency zu der Ansicht gelangt, Lisa gleich eine Stufe hoch und mich dafür vorzeitig in den Ruhestand zu befördern. Der leitende Arzt der Agency war nämlich zu der Ansicht gekommen, dass ich schon viel zu viele Zeitsprünge absolviert hatte und er daher mir für keinen weiteren Einsatz eine Freigabe mehr erteilen wollte. Und da waren die Zeitsprünge in meinem »ersten Leben« und zwischen den Einsätzen Fasan und Qualle noch gar nicht mit eingerechnet; wahrscheinlich hatte ich das Limit schon mehr als überschritten.

An dem Tag, an dem die neuen Trainees in der Zentrale ankamen, wurde ich verabschiedet. Ich ließ es mir aber nicht nehmen, noch der Zuteilung der Trainees beizuwohnen. Wie üblich gab es wesentlich mehr Korrektoren als Protektoren, auch wenn dieses Mal sich immerhin drei Trainees für die Protektoren-Laufbahn entschieden hatten. Lisa bekam ein bildhübsches blondes Mädchen zugeteilt, wofür ich ein paar in der Agency noch bestehende Beziehungen hatte spielen lassen.

Leider konnte ich es nicht vermeiden, dass Lisa viele Tränen vergoss, als ich mich von ihr verabschiedete. Ich konnte ihr ja nicht erzählen, ihr anderes Ich bald wiederzusehen.

In den Ruhestand gehende Zeitagenten konnten sich in gewissen Grenzen aussuchen, wo und vor allem wann sie diesen verbringen wollten. Ich entschied mich dafür, mich nach Boston in Nordamerika bringen zu lassen, und zwar zu einem Zeitpunkt zwei Tage nach meinem Aufbruch nach Italien und Deutschland. Dass die Agency dies genehmigte, wertete ich als Indiz dafür, dass sie in dieser Realität mein Blockhaus nicht zu kennen schien.

Erst einmal kehrte ich mit meinem am Flughafen in Boston abgestellten Landfahrzeug zum Blockhaus zurück. Das in der Höhle versteckte Schiff und den in Deutschland installierten »Zeitbebensender« wollte ich zu späteren Zeitpunkten abholen. Im Blockhaus funktionierte alles einwandfrei, niemand war eingebrochen oder Ähnliches.

Um die Chanson-Zeitbeben nicht abrupt mit meinem Ruhestand enden zu lassen, erzeugte ich noch welche in unregelmäßigen Abständen, allerdings mit immer geringer werdender Intensität.

Nach drei Tagen war es dann soweit.

Ich setzte mich auf ein Sofa im Wohnzimmer und kurze Zeit später materialisierte sich plötzlich Lisa neben mir, begleitet von einem kaum spürbaren Zeitbeben. Sie sah tatsächlich noch so aus wie an dem Tag, als sie sich auf dem Seesteg aufgelöst hatte. Es gab nur zwei kleine Unterschiede, nämlich dass sie, warum auch immer, jetzt vollständig bekleidet war und sich im Wohnzimmer und nicht auf dem Steg wiederfand.

So ähnlich musste man sich wohl Teleportation vorstellen, nur dass dies dann kontrolliert geschah und man nicht nur hoffte, dass es passierte. Mit dem begleitendem Zeitbeben hatte ich aber nicht gerechnet, und so war ich froh, vor einen halben Tag noch ein sehr schwaches erzeugt zu haben. Ich wollte daher »in die Verlängerung gehen«, wie man im Sport sagt, und auch jetzt weiterhin kleinere Beben erzeugen, der Sender war ja immer noch in Betrieb.

Lisa schaute erst an sich herunter und dann mich an.

»Was ist passiert, ich war doch eben noch im See schwimmen?«, fragte sie.

Ich nahm sie in den Arm und antwortete: »Das ist eine lange Geschichte.« 

»Eine lange Geschichte? Hast du Zeit, sie zu erzählen?« 

Zeit hatten wir jetzt. Viel Zeit.

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