Kapitel 4
Blockhaus

»Warum bist du nicht bei Mama geblieben?« 

Lisas Laune besserte sich nur geringfügig. Sie machte bei den Einsatzvorbereitungen nur das Allernötigste, zeigte keinerlei Eigeninitiative wie früher und ging mir aus dem Weg, wo sie nur konnte. Ich fand ihre Entwicklung vom »Premium-Trainee« hin zu einem bockigen Mädchen sehr schade.

So konnte und wollte ich aber nicht mit meinem Partner zusammenarbeiten, und ich beschloss, sie bei passender Gelegenheit zur Rede zu stellen. Was ich auf gar keinen Fall wollte, dann ständig den höherrangigen Vorgesetzten spielen zu müssen und nur noch per Befehl oder Aktennotiz mit ihr zu interagieren.

Wieder bekamen wir das kleinste Modell eines Zeitschiffs zugeteilt, da wir ja nur zu zweit waren. Der Start und auch der Zeitsprung in das Jahr 2015 liefen glatt, aber beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre passierte es dann.

Die Hälfte der Anzeigen des Cockpits wechselten die Farbe auf ein hässliches Orange und die andere Hälfte auf ein noch hässlicheres Rot. Ohne dass ich auch nur den Hauch einer Chance hatte, den Vorgang zu beeinflussen oder gar abzubrechen, wurde das Antriebsmodul »aus Sicherheitsgründen« abgestoßen. Das Modul verglühte sogleich in der Atmosphäre, wie Lisa berichtete, die mit angsterfülltem Gesicht aus dem Cockpitfenster schaute. Noch funktionierten aber die wichtigsten Schiffssysteme und so machte das Schiff selbsttätig eine Notlandung abseits bewohnten Gebiets.

Lisa nahm sich die Havariecheckliste vor – auch an so etwas hatte die Agency gedacht – und wir begannen mit der Schadensaufnahme.

Das Interdimensionsantriebsmodul war verglüht und somit bestand keine Möglichkeit mehr, eigenständig zur Zentrale zurückzukehren. Vieles an Elektronik war durchgebrannt, unter anderem war die Interdimensionskommunikation ausgefallen und ein Ersatzgerät nicht vorhanden.

Wie bitte? Kein Ersatz? Hier war etwas faul. So hatten wir nun auch keine Möglichkeit, mit der Zentrale Kontakt aufzunehmen, denn die CR hatten nicht so eine große Reichweite.

Es war also noch einmal halbwegs gutgegangen und ich atmete tief durch. Ich schaute zu Lisa, auch sie atmete schwer und sah außerdem recht blass aus – soweit für Rothaarige überhaupt noch eine blassere Gesichtsfarbe möglich war.

Laut der Anzeige der Navigationskonsole befanden wir uns irgendwo auf einer Lichtung in einer abgelegenen Bergregion in Mittelamerika und ein schwerer Tropenregen prasselte gegen die Außenhaut des Schiffs. Ein ausführlicher Systemcheck ergab, dass das Schiff trotz des fehlenden Hauptantriebs noch atmosphärenflugtauglich war. Ich suchte mir daher das nächste Ziel meines »Plan B« aus, denn hier fernab jeglicher Zivilisation konnten wir nicht bleiben.

In der folgenden Nacht flogen wir dorthin. Ich versteckte das Schiff in einem leerstehenden Industriegebäude in einer Kleinstadt in Nordamerika und wollte versuchen, mit dem an Bord befindlichen Landfahrzeug, welches erstens unbeschädigt war und zweites zu dieser Zeitepoche passte, zu einem meiner »Lager« zu gelangen. Wenn meine Erinnerung mich nicht täuschte, hatte ich dort Geräte eingelagert, mit denen ich mit der Zentrale Kontakt aufnehmen könnte; die beschädigte Bordtechnik und auch die CR mit ihrer beschränkten Reichweite brachten uns hier nicht weiter.

Noch waren wir also auf der Erde gefangen, zum Glück aber Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts und nicht während eines weltumspannenden Krieges oder einer Eiszeit oder Ähnlichem.

Auf etwa der halben Stecke geschah etwas Unerwartetes: Die CR aktivierten sich und ein von der Agency gesandtes Rettungsteam versuchte mit uns Kontakt aufzunehmen und wir vereinbarten einen Ort, an dem wir uns treffen wollten. Das Team war ebenfalls mit einem Landfahrzeug unterwegs und so trafen wir uns nach etwa einer Dreiviertelstunde Fahrzeit. Wir stellten die Fahrzeuge auf einem Parkplatz ab und stiegen aus. Auf den ersten Blick waren es alles Korrektoren, auch Lisas »Freund« war unter ihnen.

Gerade als ich sie fragen wollte, warum die Rettungsaktion so zügig angelaufen war, spürte ich einen stechenden Schmerz im Rücken und verlor das Bewusstsein.

Ich kam wieder zu mir, als ich in einen nach muffigem, feuchten Beton riechenden, aber dennoch sehr staubigen Gebäude in einen Raum geführt wurde, in dem lediglich ein rostiger Metallstuhl stand. Ein Korrektor gab mir einen Stoß und ich fiel auf den Stuhl.

Dann erkannte ich Lisa zwischen den Korrektoren.

Lisa. Ausgerechnet Lisa. Sie war also auch Teil der – ja was war es denn? Was das hier alles eine Verschwörung der Korrektoren oder der Agency, um mich zu beseitigen? Die plötzlich aufgetauchten Defekte im Zeitschiff waren schon sehr merkwürdig.

Sie war nicht wie ich gefesselt oder Ähnliches, und zu allem Überfluss stand auch noch ihr Korrektor-Freund direkt neben ihr. Als sie direkt vor mir zum Stehen kam und mir in die Augen schaute, holte ich, so gut es ging, mit meinen gefesselten Händen zu einer Art halbkreisförmigen Rückhand aus und gab ihr eine kräftige Ohrfeige, die sie zu Boden gehen ließ. Ich wollte sie noch fragen, warum ausgerechnet sie mit den Korrektoren unter einer Decke steckte, da wurde ich zusammengeschlagen und verlor erneut das Bewusstsein.

Mir tat alles weh, als ich wieder aufwachte und mich immer noch auf dem Stuhl gefesselt wiederfand. Da mir das Zeitgefühl vollkommen abhanden gekommen war, hatte ich keine Ahnung, wie lange ich hier schon saß. Nach einer gewissen Zeit hörte ich näherkommende Schritte und kurz darauf öffnete jemand eine quietschende Tür. Ich hatte schon in Erwartung einer weiteren Prügelorgie die Zähne zusammengebissen, da erkannte ich Lisa und ihren Freund.

Ich hatte bisher immer die – naive – Ansicht vertreten, dass das Auftauchen einer schönen Frau nicht identisch mit der Absicht war, auch gleich jemanden übers Ohr zu hauen. Vielleicht erlebte ich in dieser Situation hier aber die Ausnahme von der Regel.

Lisas Freund beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: »Es sind außer uns nur noch zwei andere Korrektoren zum Bewachen hiergeblieben. Jetzt ist die Gelegenheit.« 

Lisa befreite mich von meinen Fesseln und half mir auf. Immer noch tat mir der ganze Körper weh. Ihre Lippen waren auf einer Seite leicht geschwollen, trotz der wahrscheinlich sofort eingesetzten Medizintechnik des vierundzwanzigsten Jahrhunderts waren immer noch die Folgen meiner Ohrfeige zu sehen. Ich hatte wohl doch ziemlich zugelangt – irgendwie hatte ich aber deswegen nicht wirklich ein schlechtes Gewissen.

Plötzlich hörte ich wieder einmal das charakteristische Geräusch einer abgefeuerten Schallwaffe und Lisas Freund brach stöhnend zusammen. Lisa zog eine Waffe (wo immer sie diese her hatte) und feuerte zurück. Ich hechtete trotz meiner Schmerzen auf den Boden, um mir die Waffe ihres Freundes zu schnappen.

Nach einem kurzen Feuergefecht schafften Lisa und ich es tatsächlich, die zwei Korrektoren unschädlich zu machen. Als sich der Staub verzogen hatte, kniete sie neben ihrem Freund nieder und fing leise an zu weinen. Ich untersuchte die Leiche, ein Schallwaffenschuss hatte knapp unterhalb seines Kopfes die Wirbelsäule und mehrere Blutgefäße durchtrennt. Er war wahrscheinlich sofort tot gewesen.

Wenn nun drei CR jetzt entsprechende Notsignale aussendeten (was sie normalerweise tun, wenn ihr Träger keine Lebenszeichen mehr von sich gab), dann war es nur eine Frage der Zeit, bis die anderen Korrektoren hier auftauchen würden. Hastig durchsuchte ich die toten Korrektoren, nahm etwas Bargeld an mich und zog dann Lisa von ihrem Freund weg.

»Los, wir müssen hier weg!«, herrschte ich sie an.

Auf dem Weg aus dem Gebäude heraus warf ich die Schallwaffen in einen dunklen Schacht, auf dessen Boden sie erst nach etwa einer Sekunde hörbar aufschlugen. Der Schacht war also tief genug, was mir sehr entgegenkam, da ich nicht wollte, dass wir von irgendwelchen Staatsorganen mit ihnen aufgegriffen werden. Wieder einmal hatten Korrektoren Waffen aus dem des vierundzwanzigsten Jahrhunderts in der Vergangenheit eingesetzt. Sie lernten es einfach nicht.

Durch ein sehr rostiges und wiederum sehr quietschendes Tor erreichten wir eine breite Straße, die vor dem Gebäudekomplex vorbeiführte. In diesem Moment sah ich aus der Ferne ein Personentransportfahrzeug, ein sogenanntes »Taxi«, sich nähern. Ich erinnerte mich an die Gepflogenheiten des einundzwanzigsten Jahrhunderts und winkte das Taxi herbei. Das Fahrzeug hielt an und wir nahmen auf der Rückbank Platz.

»Gibt es in dieser Stadt einen Bahnhof oder Busbahnhof?«, fragte ich den Fahrer.

Der Taxifahrer schien offenbar solche ungewöhnlichen Fragen nicht gewohnt zu sein, denn er antwortete nur kurz: »Bahnhof!« 

»Dann bringen Sie uns bitte zum Bahnhof.« 

Nach etwa zwanzig Minuten kamen wir am Bahnhof an, ich nahm ein paar Geldscheine aus der Hosentasche und gab sie dem Fahrer. Auf dem Weg in das Bahnhofsgebäude fiel mir siedend heiß auf, dass Lisa noch immer ihren CR trug. Ich nahm ihre Hand, zog den Ring ab und warf ihn auf die Ladefläche eines in diesem Moment vorbeifahrenden Pickups. Vielleicht fielen die Korrektoren ja darauf herein. Zumindest bewegte sich der Pickup zunächst einmal von Lisa und mir weg, was uns hoffentlich etwas Zeit verschaffte.

Im Bahnhofsgebäude angekommen verschaffte ich mir zunächst einmal einen Überblick. Auf einer großen Wandkarte in einem Glaskasten neben den Fahrkartenschaltern konnte ich sehen, wo genau wir waren und wo sich mein nächstes »Lager« befand. Vom Lager aus waren es dann noch ein paar hundert Kilometer bis zu dem Ort, an dem ich das nicht mehr zeitreisefähige Zeitschiff versteckt hatte.

In meinen Lagern hatte ich im Laufe der Zeit – soweit man bei meiner Zeitreiserei überhaupt von »im Laufe der Zeit« reden kann – genau für den Fall, dass wir auf der Erde gestrandet waren, einige nützliche Dinge gesammelt. Das den Korrektoren abgenommene Bargeld reichte zum Glück auch noch für zwei Fahrkarten in diese Stadt, und so saßen wir bald auf zwei recht bequemen Plätzen in einem noch vollkommen neu aussehenden (und auch so riechenden) Eisenbahnwaggon.

Noch immer hatte Lisa kein Wort gesagt und schüttelte nur leicht den Kopf, als ich sie fragte, ob sie schon einmal mit einem Zug gefahren war.

Kurz nach der Abfahrt schlief sie sofort ein und sie kuschelte sich in ihren Sitz ein. Später drehte sie sich zu mir und ihr Kopf sank auf meine Schulter. Obwohl ich immer noch sehr wütend auf sie war, hatte sie mich doch zusammen mit den Korrektoren hintergangen, ließ ich sie gewähren.

Jetzt, da sich mich ein wenig entspannen konnte, machten sich meine Schmerzen wieder bemerkbar. Die Korrektoren hatten mich gehörig vermöbelt und ich musste am ganzen Körper mit Hämatomen bedeckt sein. Hoffentlich erreichte ich bald das Lager, da sich dort ein paar Medikamente aus dem vierundzwanzigsten Jahrhundert befanden.

Ich ließ das Mädchen weiterschlafen, auch als ein Schaffner durch den Waggon ging und die Fahrkarten kontrollierte. Nach etwa zwei Stunden Fahrt kamen wir am Zielort an und eine noch recht verschlafen aussehende Lisa und ich stiegen aus.

Mit einer Straßenbahn – ich hatte dieses Lager so ausgesucht, dass es möglichst gut mit den damaligen öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen war – fuhren wir ein paar Stationen zu einem Industriegebiet am Stadtrand. Nach etwa einhundert Metern Fußweg kamen wir zu einem Lagerkomplex, der mit einer großen Leuchtreklame dafür warb, dass hier »jedermann für wenig Geld« einzelne Lagerräume mieten und dort »alles Mögliche« lagern konnte. Ich ließ Lisa an einer Hausecke warten und ging zur Tür eines Lagerraums. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als der Türschließmechanismus meinen eingegebenen Zahlencode akzeptierte, die Tür sich öffnete und ich den Raum betreten konnte. Sofort öffnete ich einen in einer Ecke stehenden Blechspind und holte einen kleinen Karton mit Medikamenten heraus. Ich spritzte mir gleich eine doppelte Dosis eines Schmerzmittels, welches schon kurz darauf seine Wirkung zeigte. Ohne Schmerzen konnte ich mich auch endlich besser konzentrieren.

Ich streckte mich, atmete tief durch, stellte den Medikamentenkarton wieder in den Spind und entnahm einem anderen Karton ein kleines graues Gerät. Das Gerät, ein Funkscanner aus dem vierundzwanzigsten Jahrhundert, zeigte keine Auffälligkeiten in der näheren Umgebung an. Auch die noch immer an der Hausecke wartende Lisa schien keine Signale auszusenden, weder auf den üblichen terrestrischen, noch auf den üblichen Frequenzen im Interdimensionsraum. Die Korrektoren hatten ihr also keine Wanze verpasst und ich konnte sie zu mir rufen. Sie half mir, eine Plane von einem im Lagerraum stehenden Landfahrzeug zu entfernen, sagte aber immer noch kein Wort.

Aus einem anderen Schrank holte ich eine große Sporttasche und füllte sie mit etwas Kleidung, zwei epochetypischen Projektilwaffen nebst Munition, zwei Kreditkarten, einem Bündel Bargeld und ebenfalls epochetypischen Ausweispapieren für mich. Ich warf die Sporttasche auf den Rücksitz, Lisa stieg ein und ich rangierte das Fahrzeug vorsichtig auf den Hof. Mehrmals überzeugte ich mich, ob ich die Tür auch wieder korrekt verschlossen hatte.

Auf dem Weg zum Lagerraum hatte ich aus der Straßenbahn heraus ein Motel gesehen, zu dem ich das Fahrzeug nun steuerte. Ich buchte ein Zimmer für zwei Personen für eine Nacht und stellte dann das Fahrzeug direkt vor der Zimmertür ab.

Lisa wanderte schnurstracks zur Toilette und ich zog erst einmal meine Oberteile aus, um in einem großen Spiegel an der Garderobe neben dem Eingang meine Verletzungen zu begutachten. Die Korrektor-Schläger hatten tatsächlich ganze Arbeit geleistet, ich war fast flächendeckend mit Hämatomen bedeckt. Ich hörte die Toilettenspülung und kurz darauf erschien Lisa. Sie stieß einen erstickten Schrei aus und fiel mir um den Hals.

Lisa hatte offenbar ihre Stimme wiedergefunden, obwohl sie durch ihr heftiges Schluchzen recht schwer zu verstehen war. Langsam wurde mein Oberkörper im Bereich des linken Schlüsselbeines durch ihre Tränen nass.

»Ich hatte ja keine Ahnung«, begann sie, »dass sie so brutal zu dir waren. Das habe ich nicht gewollt!« 

»Naja, zwei bis fünf blaue Flecken gehen auf das Konto meiner Ohrfeige, da bin ich selbst schuld. Tut eigentlich deine Lippe noch weh?« 

»Nein, sie haben mir gleich ein Medikament gegeben.« 

Langsam schien es ihr wohl zu dämmern, was sie angerichtet hatte, aber mittlerweile war ich ihr gar nicht mehr böse, denn so hart es klang, hatte sie ihre Strafe durch den Tod ihres Freundes schon erhalten. Schlagartig hatte sie ihre Bockigkeit abgelegt und war fast wieder die Lisa, die ich als Trainee in Empfang genommen hatte.

Sie löste sich von mir, und begann sich ebenfalls auszuziehen. Flugs stand sie barbusig vor mir. Ich hatte sie noch nie nicht angezogen gesehen, sondern maximal nur in Unterwäsche. Und eigentlich sah sie ja wirklich ganz niedlich aus.

Aber ich hielt ihre Hände fest und sagte bestimmt: »Nein, kein Sex! Zumindest nicht jetzt!« 

Sie schaute mich mit großen verweinten Augen an. Die einzigen Laute, die sie von sich gab, war ein leichtes Schluchzen.

»Mädchen«, fuhr ich fort, »ich werde jetzt doch nur meine Wut an dir auslassen und dann tut’s dir womöglich sehr weh und mir nachher womöglich sehr leid. Sex wäre jetzt eher eine ›Lose-Lose-Situation‹, verstanden?« 

Sie nickte und brachte nur ein »Mmm-hmm« heraus.

Ich ließ ihre Hände los und sie zog sich wieder an. Vollkommen unerwartet gab sie mir anschließend einen Kuss auf die Wange.

»Aber es tut mir leid!«, meinte sie.

Ich holte den Funkscanner aus der Sporttasche. In unser näheren und auch weiteren Umgebung waren keine CR-Signale oder Ähnliches zu erkennen. In der Stadt, in der ich gefangengehalten worden war, bewegten sich viele Signale in einem eng begrenzten Bereich hin und her. Das musste das staubige Industriegebäude sein und die drei toten Korrektoren waren wohl entdeckt worden. Diese sorgten nun für die entsprechende Aufmerksamkeit und viele Zeitagenten waren an diesem Ort gebunden, die dafür Lisa und mich nicht verfolgen konnten. Das war nicht schlecht, gewannen wir so doch einen weiteren Vorsprung. Unweit des Gebäudes hatten sie ihr Zeitschiff gelandet, was sich an den charakteristischen Signalen – vor allem der Kommunikation im Interdimensionsraum und des leichten Hintergrundrauschens des noch nicht vollkommen abgekühlten Interdimensionsantriebs – bemerkbar machte. Ein weiteres Signal, ein CR, bewegte sich von der Stadt weg und hatte zwei weitere CR-Signale im Schlepptau. Der Kennung nach schien es Lisas CR zu sein, mit zwei ihn verfolgenden Zeitagenten! Diese Amateure waren auf einen der ältesten Tricks der Menschheit hereingefallen, das geschah ihnen ganz recht. Sollten sie doch nur möglichst lange den Pickup verfolgen.

Dadurch wurden zwei weitere Zeitagenten gebunden und es verschaffte uns hoffentlich ausreichend Zeit, um rechtzeitig bei unserem Schiff anzukommen, ohne von irgendeinem Zeitagenten wieder gefangengenommen zu werden.

Zunächst einmal musste ich mehrere Grundbedürfnisse stillen (und nein, Sex gehörte – noch – nicht dazu). Vor allem Lisa brauchte etwas neues zum Anziehen, unsere zum Glück für diese Zeitepoche recht neutral aussehenden Zeitagentenuniformen waren sehr staubig und an einigen Stellen schon recht speckig. Ich hatte viele Stunden lang nichts getrunken und war wahnsinnig hungrig, und so wollte ich nicht nur jetzt gleich etwas zu mir nehmen, sondern danach uns noch etwas Lebensmittel und Getränke beschaffen, damit wir auch in meinem Unterschlupf ausreichend versorgt waren. Mein Ziel war immer noch, unversehrt erst zum Schiff und dann mit diesem zum Unterschlupf zu gelangen.

Einen halben Kilometer vom Motel befand sich eine große Shopping-Mall mit allem, was dazugehört. Ich stellte das Fahrzeug in einem Parkhaus neben der Mall ab und hoffte, dass die große Stahlbetonkonstruktion dessen Ortung zumindest erschweren würde. Das Fahrzeug war schließlich mit einer Energiequelle des vierundzwanzigsten Jahrhunderts ausgerüstet, und diese sendete trotz Abschirmung leider ein gewisses elektromagnetisches Signal aus.

Als erstes suchten wir diverse Fastfoodstände im obersten Stockwerk der Mall auf. Ich hatte mir von zwei Asiaten (damit die Menge nicht so auffiel) eine süßsaure Suppe, einen Salat mit Sojasprossen, eine kleine Packung Frühlingsrollen sowie eine große Schale mit gebratenen Nudeln und gebratenen Tofustreifen geholt. Lisa, die nur zwei Cheeseburger und eine kleine Portion Pommes Frites genommen hatte, schaute mich erstaunt an.

»Das willst du alles schaffen?« 

»Ja«, antwortete ich und nahm eine großen Schluck aus einer Coladose, »ich glaube, ich habe mir nicht zu viel vorgenommen.« 

Mir kam ein Gedanke und ich legte meine rechte Hand auf Lisas Arm.

»Lisa, das hier ist unser Einsatzendeessen, um die Tradition fortzuführen! Ich weiß nämlich nicht, ob ich jemals noch einen Einsatz mit dieser bösen Agency machen möchte.« 

»Das stimmt. Also Einsatzendeessen. Ich will auch nichts mehr mit der Agency zu tun haben. Ist die Agency denn böse?« 

»Vielleicht. Wahrscheinlich ja. Lisa, es gibt nicht nur ›die Guten‹ oder ›die Bösen‹. Es gibt nur Böse, aber diese stehen auf unterschiedlichen Seiten.« 

»Das stimmt. Das haben wir ja beim Gangsterboss gesehen.« 

Es war doch erstaunlich, wie schnell das Mädchen und ich wieder auf eine Wellenlinie kamen. Endlich hatte ich wieder die mir bekannte Lisa vor mir.

Gut gesättigt machten wir uns dann auf den Weg zu einigen Bekleidungsgeschäften. Lisa fand die zeitgenössische Mode äußerst ansprechend und so verbrachten wir fast drei Stunden damit, ihr etwas Passendes auszusuchen. Die Anproben gestalteten sich immer mehr zu einer Art Modenschau, und ich musste uns bremsen, damit wir nicht allzusehr auffielen. Wir waren schließlich immer noch zwei Zeitagenten aus dem vierundzwanzigsten Jahrhundert auf der Flucht, das durften wir nicht vergessen. Besonders ich musste mich bremsen, denn vor allem kurze Röcke standen ihr ausgezeichnet und spätestens jetzt hatte ich mich endgültig in sie verliebt. Immer wieder musste ich daran denken, wie sie mir barbusig im Motel gegenübergestanden hatte, und ich bekam ein merkwürdiges Gefühl im Magen, welches nicht nur vom vielen Essen herrührte.

Nach einem Zwischenstop beim Fahrzeug, bei dem wir erst einmal die vielen Tüten der Bekleidungsgeschäfte verstauten (eine oder zwei waren auch für mich darunter), ging es weiter zu einem großen Supermarkt, aus dem wir mit zwei vor allem mit lang haltbaren Lebensmitteln prall gefüllten Einkaufswagen zurückkehrten.

Lisa hielt mich plötzlich fest und flüsterte mir ins Ohr: »Sag’ nicht immer ›Landfahrzeug‹! In dieser Epoche sagen die Menschen ›Auto‹.« 

Gut, das gab einen Punkt für sie. Endlich auch hatte sie ihren »Dienst nach Vorschrift« wieder abgelegt.

Zurück im Motel wandte ich mich erst einmal wieder dem Funkscanner zu. Die schlechte Nachricht war, dass Lisas CR nicht mehr sendete. Wahrscheinlich hatte die Korrektoren ihn gefunden und deaktiviert, denn die zwei ursprünglich Lisas CR verfolgenden Signale waren wieder auf dem Rückweg zu den anderen Signalen, die sich offenbar immer noch in der Nähe des staubigen Gebäudes aufhielten. Das war auch gleichzeitig die gute Nachricht, denn durch diese Aktion hatte wir noch weitere Zeit gewonnen. Somit konnte ich mir (und auch Lisa, die mittlerweile recht mitgenommen aussah) eine ausreichende Nachtruhe gönnen. Wir packten nicht einmal mehr irgendwelche Tüten aus, sondern fielen gleich todmüde ins Bett.

Die Nachtruhe war dann doch nur von recht kurzer Dauer, da auf einer benachbarten Großbaustelle der Betrieb schon morgens um halb sieben startete. Da ich mir sowieso vorgenommen hatte, recht früh aufbrechen zu wollen, stellte diese Störung aber nicht wirklich ein Problem dar.

Eine noch recht verschlafen aussehende Lisa schaute mir – wieder einmal – tief in die Augen.

Sie hatte offenbar etwas vor, aber ich küsste sie nur auf die Stirn.

»Wir duschen jetzt schnell – einzeln! –, packen dann alles zusammen und brechen dann auf, okay?«, schlug ich vor.

Wir hatten ja nicht viel zu packen, denn das Meiste befand sich noch im Fahrzeug, nein, Auto. Ein kurzer Blick auf den Funkscanner zeigt keine Aktivitäten in näherer Umgebung und auf der von mir vorgesehenen Route, und so war ich guter Dinge, das Zeitschiff und dann den Unterschlupf erreichen zu können, ohne von den Korrektoren abgefangen zu werden.

Wegen der einzuhaltenden Geschwindigkeitsbegrenzungen und des sehr dichten Verkehrs mit vielen Stauungen kamen wir nur sehr zögerlich voran. Ich sah unseren Vorsprung zu den uns verfolgenden Korrektoren langsam dahinschmelzen.

Schließlich kamen wir erst viel später als geplant am Tor zum verlassenen Industriegelände an, in dem ich das Zeitschiff versteckt hatte. Wieder warf ich einen Blick auf den Funkscanner. Ein paar Signale befanden sich jetzt an dem Bahnhof, an dem Lisa und ich vom Zug in die Straßenbahn umgestiegen waren. Sie waren uns also auf der Spur. Mit der Technik des vierundzwanzigsten Jahrhunderts war es ein Leichtes, sich unbemerkt die Bilder diverser Überwachungskameras anzusehen und dann herauszufinden, welchen Weg Lisa und ich vom Zug aus genommen hatten. Auch die Straßenbahn besaß Kameras – zumindest wiesen Aufkleber darauf hin –, so dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie auch unsere Ausstiegshaltestelle ermittelt hatten. Nur dann würde es für unsere Verfolger recht schwer werden, da weder die nächste Umgebung noch das Gelände der Mietlagerhäuser selbst Überwachungskameras besaßen (was auch ein Grund dafür war, dass ich genau dieses Lager ausgesucht hatte).

Lisa stieg aus, öffnete das Tor und schloss es nach meiner Durchfahrt wieder. Langsam fuhren wir auf das Gelände und schon begann es zu dämmern, was mir sehr entgegen kam. Ich wollte nämlich auf jeden Fall im Dunkeln mit dem Nicht-Mehr-Zeitschiff fliegen, um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Wenn alles gut ging, sollten wir nur ein paar Sekunden in der Luft sein, aber ich wollte nichts riskieren. Ich fuhr einmal um das Gebäude herum, um etwaige Verfolger zu verwirren. Vorsichtig rangierte ich anschließend das Auto in den Laderaum des Schiffs, der sich zum Glück immer noch mit meinem Code öffnen ließ. Wir stiegen aus und machten es uns erst einmal im Cockpit bequem, bis die Dämmerung in eine vollständige Dunkelheit übergegangen war.

Nach einem vollständigen Systemcheck, der natürlich das Fehlen des Interdimensionsantriebs und der Interdimensionskommunikation aufzeigte, war das Schiff zumindest für einen Atmosphärenflug einsatzbereit – aber mehr verlangte ich vom Schiff ja auch gar nicht. Ich gab die Zielkoordinaten in den Navigationsrechner ein und wartete dann, bis kein Licht mehr von außen in das Gebäude drang.

Nachdem ich mir eine Nachtsichtbrille aufgesetzt und das Schiff vorsichtig auf einen betonierten Hof zwischen den Gebäuden manövriert hatte, ließ ich Lisa zum einen den mitgebrachten Funkscanner und zum anderen das Umfeldradar überwachen. Weder befanden sich die Korrektoren in unmittelbarer Nähe noch waren andere Fluggeräte, sogenannte »Flugzeuge«, unserer Flugroute im Weg.

Ich startete.

Schon nach etwa zwei Sekunden hatte das Schiff eine Höhe von fünfundzwanzigtausend Metern erreicht. Weitere vier Sekunden benötigten wir auf dieser Höhe in mein anvisiertes Zielgebiet, und nach insgesamt nur zehn Sekunden Gesamtflugzeit stoppten wir und verharrten ruhig über einem kleinen See innerhalb eines riesigen Waldgebiets in den Nordwest-USA. Ich schaltete die automatische Steuerung aus und wechselte in die manuelle Betriebsart. Nach leichtem Antippen des Steuerknüppels setzte sich das Schiff wieder langsam in Bewegung.

Nach der halben Flugstrecke über den See kam in meinem Nachtsichtgerät ein Blockhaus in Sicht und kam näher.

Lisa fragte, als auch sie das Haus erblickte: »Das ist es?« 

»Ja«, antwortete ich und hielt weiter direkt auf das Haus zu.

Vor dem Haus befand sich eine große Veranda, die in einen kleinen auf das Wasser hinausgehenden Steg mündete.

»Das ist aber schön!«, stellte sie fest. »Fast wie im Urlaub!« 

Da ich den Korrektoren schon seit langem nicht wirklich mehr über den Weg getraut hatte, war das hier eines meiner geheimen Verstecke. Und ja, es sah aus wie ein Ferienhaus. Wenn ich schon untertauchen musste, dann aber auch richtig.

Neben dem Haus lag ein kleiner Strand, dort stoppte ich das Schiff und ließ Lisa aussteigen. Ich gab ihr ein kleines Handfunkgerät mit geringer Reichweite aus dem einundzwanzigsten Jahrhunderts mit, da ich bewusst keinen CR nehmen wollte, um nicht doch noch von den Korrektoren geortet zu werden. Diese Art von Funkverkehr war vollkommen normal für diese Zeit und erregte hoffentlich kein unnötiges Aufsehen.

Ganz sachte manövrierte ich das Schiff nach Lisas Anweisungen auf eine kleine betonierte Fläche hinter dem Haus.

»Noch drei Meter«, hörte ich über das Funkgerät und ließ das Schiff sanft abstoppen.

Ich fuhr die Parkstützen aus, setzte das Schiff auf dem Boden auf und brachte den Antrieb in den Abschaltemodus. Nach dem Herunterfahren weiterer Schiffssysteme löste ich meine Sicherheitsgurte und stieg ebenfalls aus. Ich rief Lisa über das Funkgerät zu mir.

»Saubere Einweisung«, bedankte ich mich bei ihr.

Gemeinsam mit ihr zog ich einen ziehharmonikaartigen Zugang vom Haus zu einer Schiffstür und verriegelte ihn am im Betonboden eingelassenen Ösen. Dann zog ich ein dickes Kabel vom Haus zum Schiff, entriegelte aus dem Schiffsinnern eine kleine Klappe an der Außenhaut, die ich öffnete und dort das Kabel anschloss.

Während ich mit einem Spezialschlüssel das Haus aufschloss, erläuterte ich Lisa mein Vorgehen.

»Das Schiff soll auch der Energieversorgung des Hauses dienen, das habe ich von Anfang an so eingerichtet. Wenn meine Überschlagsrechnung stimmt, dann haben wir jetzt noch für etwa einhundertzweiundfünfzig Jahre Energie im Überfluss, müssen also auch keine harten Winter fürchten – die es hier durchaus gibt.« 

»Das hast du dir alles ausgedacht, geplant und gebaut?« 

»Ich erkläre dir das alles nachher in Ruhe – wir haben jetzt ja genug Zeit.« 

Im Haus öffnete ich einen Schaltkasten und schaltete die Hausstromkreise auf die Betriebsart Energiequelle auf Schiff. Danach ging ich wieder zum Schiff zurück und stellte auf einer Steuerkonsole die Betriebsart Energieabgabe nach extern ein. Wir waren hier in der Wildnis natürlich weit von irgendeiner kommunalen Energieversorgung entfernt und so hatte ich für das Blockhaus zwei Möglichkeiten vorgesehen: Zum Einen Wärmeerzeugung mit einem großen Küchenofen, der auch als Herd diente, sowie Bezug elektrischer Energie von Solarpaneelen auf dem Dach. Zum Anderen aber – und wesentlich komfortabler sowie auch winter- und schlechtwettersicherer – dann die vollständige Versorgung durch ein hinter dem Haus liegendes Zeitschiff. Ich ging ins Haus zurück und betätigte einen Lichtschalter. Die dazugehörige Wandlampe funktionierte und die Schiffsenergie wurde damit erfolgreich ins Haus übertragen.

Lisa hatte sich schon ein wenig umgesehen, sofern das im Dunkeln möglich war. Jetzt aber nahm ich sie in den Arm, schaltete diverse Lichter ein und begann meine »offizielle« Führung durch das Haus.

»Den Durchgang zum Schiff kennst du ja schon, den müssen wir aber dringend noch schneesicher machen, bevor der Winter kommt.« 

Am Schaltkasten erläuterte ich, dass die 1.200 Volt Schiffs-Drehstrom hier in 110 Volt Wechselstrom für nordamerikanische Geräte, 220 Volt Wechselstrom für europäische Geräte sowie 380 Volt Drehstrom für die Haustechnik und ein paar Maschinen, wie zum Beispiel eine Kreissäge, umgewandelt wurde. An einen kleinen Korridor schloss sich ein Schlafzimmer, ein Hauswirtschaftsraum nebst Waschmaschine und Trockner, ein Vorratsraum mit Kühl- und Gefrierschrank, ein WC sowie ein Badezimmer an.

»Du kannst natürlich auch die Reinigungskabine auf dem Schiff anstatt der Dusche verwenden, im Schiff funktioniert ja soweit alles. Aber wenn du lieber duschen möchtest…« 

Sie küsste mich und zog mich näher an sich. Weiter gingen wir Arm in Arm durch das große Wohn- und Esszimmer mit integrierter Küche. Alle Möbel waren noch in weiße Laken gehüllt, was dem Ganzen eine etwas unheimliche Atmosphäre verlieh. Ich öffnete eine große Schiebetür zur Veranda und wir traten hinaus.

»Willkommen in meinem kleinen Versteck!«, sagte ich, ließ sie los und setzte mich auf eine große Gartenbank.

Lisa setzte sich neben mich und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Es war stockdunkel und wir konnten den Sternenhimmel sehen.

»Danke, dass du mich mitgenommen hast«, begann sie nach einiger Zeit, »obwohl du wirklich allen Grund gehabt hättest, es nicht zu tun.« 

Ich erwiderte: »Ich konnte dich doch nicht wirklich mit den Korrektoren alleine lassen – oder?« 

Sie drehte sich zu mir, umarmte mich und wir küssten uns lange.

»Wie geht es jetzt weiter?«, wollte sie wissen.

Ich erläuterte ihr die übliche Checkliste für den Bezug eines meiner Verstecke.

»Eines deiner Verstecke? Hast du etwa mehrere?« 

»Später, Mädchen, später! Jetzt wollen wir uns hier erst einmal einrichten.« 

»Weil wir hier erst einmal nicht wegkommen?«, unterbrach sie mich.

»Ja, davon müssen wir erst einmal ausgehen.« 

Sie sah zunächst etwas betrübt aus, dann aber hellte sich ihre Miene auf.

»So schlecht ist das hier gar nicht«, bemerkte sie. »Hätte schlimmer kommen können.« 

Das war natürlich richtig. Wie schon beim Gangsterboss fand auch hier ein Zwangsaufenthalt in der Vergangenheit nicht in der schlechtesten Umgebung statt.

»Eben. Also: Checkliste. Erstens machen wir das Haus soweit wohnfertig, dass wir zumindest diese Nacht vernünftig hier schlafen können. Morgen früh machen wir dann weiter, das heißt Möbel ›auspacken‹. Zweitens machen wir dann gleich einen vollständigen Test der Haustechnik, dabei können wir dann – drittens – alle Laken und auch deine neuen Klamotten in die Waschmaschine befördern.« 

»Hier gibt’s wohl keinen Wäschedienst wie in Pollux-Vier-A?« 

Ich lachte.

»Viertens machen wir eine komplette ›Inventur‹ unseres Lebensmittelbestands, inklusive dem, was noch draußen im Auto ist. Ebenso – fünftens – wird der Kleidungsbestand gesichtet und nachgeschaut, was wir noch für Herbst und Winter brauchen; und wir werden wohl mindestens den Winter über hierbleiben.« 

»Wenn nicht doch noch irgendein Wunder passiert«, warf Lisa ein.

Ich wollte ihr zwar nicht den Optimismus nehmen, aber nach allem, was wir jetzt mit den Korrektoren erlebt hatten, war ich nicht wirklich zuversichtlich. Vielleicht hatten sie mittlerweile sogar die komplette Zentrale übernommen und alle Protektoren festgesetzt, gefangengenommen, getötet oder was auch immer. So eine große Aktion mit einem großen Zeitschiff und so vielen Zeitagenten außerhalb eines Einsatzes konnte niemals ohne Deckung der obersten Chefetage durchgeführt werden. Es war wirklich erstaunlich, welcher Aufwand getrieben wurde, eine einzelne Person, nämlich mich (Lisa war eigentlich nur »Beifang«) auszuschalten. Ich fragte mich immer noch, was ich den Korrektoren eigentlich getan hatte – außer vielleicht zu erfolgreich zu sein.

Als sechsten Punkt der Checkliste musste ich noch meine diversen Bankkonten überprüfen. Ich hatte zwar noch etwas Bargeld übrig, aber das war schneller ausgegeben, als einem lieb sein konnte. Hoffentlich war auf den Konten noch genug Guthaben vorhanden, so dass wir noch länger davon leben konnten. Als letzte Sicherheit hatte ich bei einem Einsatz, der von heute aus gesehen in der Zukunft lag, hier im Haus eine Liste mit historischen Börsenkursen hinter einem Schrank versteckt, die jetzt nun nicht mehr historische, sondern zukünftige Kurse darstellten. Somit konnte ich mir jederzeit wieder eine ausreichende Liquidität verschaffen.

Lisa schaute mich vorwurfsvoll an.

»Natürlich ist das nach dem ›Compliance-Regelwerk‹ der Agency höchst illegal«, rechtfertigte ich mich, »aber hier und heute fühle ich mich nicht wirklich mehr an irgendwelche Agency-Regeln aus dem vierundzwanzigsten Jahrhundert gebunden. Und, Lisa, hatten nicht die Korrektoren auch etwas höchst Illegales getan?« 

»Agency-Ressourcen für einen persönlichen Rachefeldzug gegen einen hochdekorierten Protektor verwendet, ich weiß.« 

Eigentlich war es trotz allem sehr schön, dass dieses intelligente Mädchen mitdachte und zum gleichen Ergebnis wie ich gekommen war. Ich hätte ja auch an eine strohdoofe Nuss geraten können, das war hier aber nicht der Fall.

Wo waren wir stehengeblieben? Siebtens? Also siebtens mussten wir das schon vorhandene Baumaterial sichten, da ich vorhatte, eine Art Einhausung über den Zugang vom Haus zum Schiff zu bauen. Gleiches hatte ich auch mit dem Schiff selbst vor, zumindest der Teil des Schiffs, der unter dem Betondach herausragte, musste noch vor neugierigen Blicken verborgen werden. Allerdings musste der Laderaum frei bleiben, da ich diesen als »Garage« für unser Auto nutzen wollte. So sollte alles winterfest gemacht werden – es konnte hier ganz ordentliche Schneemengen geben – und außerdem war alles dann aus der Luft nicht gleich als ein Zeitschiff (oder überhaupt als Raumschiff) zu erkennen. In dieser Zeitepoche gab es nämlich schon recht leistungsfähige Satelliten, vor allem militärische, die Objekte bis zur Größe eines Autonummernschilds auflösen konnten. Ein Raumschiff hätte jetzt nur für ein erhebliches Aufsehen gesorgt, und unser ganzes Versteckspiel war dann umsonst gewesen.

»Das ist das Ende der Liste, mehr fällt mir gerade nicht ein», beendete ich die Aufzählung.

Lisa meinte: »Ich möchte noch Nummer Zwei-A hinzufügen: Frühstück! Wir haben doch gestern im Supermarkt alles dafür eingekauft.« 

»Also gut: Frühstück.« 

»Und dann ist da noch etwas.« 

Nun war ich an der Reihe, verständnislos dreinzuschauen.

Sie zog ihr Oberteil aus und legte sich auf mich.

»Das!«, hauchte sie.

Jetzt ließ ich sie, im Gegensatz zum Motel, gewähren, es gab dem Untergetaucht-Sein (oder wie immer man es bezeichnen sollte) eine angenehme Note. Ich hatte schon seit langem keinen Sex mehr mit einer Frau aus Fleisch und Blut, eigentlich überhaupt keinen, sieht man von einem Besuch im Roboter-Bordell ab, bei dem ich mich einigen Kollegen mehr oder weniger freiwillig angeschlossen hatte.

Diese körperliche Aktivitäten machten mich hungrig, und nach der wohlverdienten Dusche begab ich mich sofort in die Küche. Am Vortag hatte ich alle Zutaten für ein großes englisches Frühstück eingekauft, und schon bald standen Spiegeleier, gegrillte Tomaten, Toastbrot undsoweiter auf dem Esstisch. Mit der Aussicht auf den See, auf dem einige Enten herumschwammen, und einer schönen jungen Frau an meiner Seite kam mir das Ganze eher wie ein Urlaub und nicht wie ein – wie hatte ich es genannt? – Untergetaucht-Sein vor. Nachdem Lisa einen großen Schluck aus ihrer Teetasse genommen hatte, stellte sie die Frage, die sie vermutlich schon lange stellen wollte.

»Wie viele von diesen Verstecken hast du eigentlich? Es sah mir alles sehr durchdacht aus, auch das mit dem Anmiet-Lagerraum oder wie das genau heißt.« 

Da ich sicher sein konnte, dass niemand von der Agency, besonders irgendwelche Korrektoren, mithören konnten, war ich jetzt endlich in der Lage, Lisa zumindest eine grobe Übersicht zu geben. Es gab drei Arten von meinen »Verstecken«, in aufsteigender Größe. Zunächst einmal waren dies »Kleinverstecke«, wie zum Beispiel Bankschließfächer, die mir mit Bargeld, Ausweispapieren sowie Debit- und Kreditkarten soweit weiterhelfen konnten, um ein Versteck der nächsthöheren Kategorie zu erreichen. Dieses ist dann bestückt mit größerer Ausrüstung, Kleidung, Waffen, weiterem Bargeld und unter Umständen auch einem Fahrzeug, meistens einem ausgemustertem Fahrzeug der Agency, das mit einem Energiespeicher des vierundzwanzigsten Jahrhundert und Elektromotoren ausgerüstet ist.

»So ein Versteck hattest du gerade kennengelernt, das war der Mietlagerraum«, sagte ich zu Lisa.

Dann gab es noch Häuser, wie dieses hier, in denen man eine Zeit lang – oder auch für immer – untertauchen konnte.

»Wie viele von diesen Häusern hast du denn überhaupt?« 

»Drei. Das hier in Nordamerika. Dann eins in Europa, genauer gesagt in Norditalien. Das dritte befindet sich in Südwest-Australien, somit habe ich alle Erdteile recht gut abgedeckt.« 

Plötzlich wurde Lisa bleich.

»Oh nein«, stieß sie hervor.

»›Oh nein‹?« 

»Tim, ich habe eher unabsichtlich ein Gespräch der Korrektoren mitbekommen. Die redeten davon, dass du ein stinkreicher Großgrundbesitzer bist. Ich glaube, dass das der wahre Grund ist – neben dem, dass du ihnen wahrscheinlich zu erfolgreich wurdest –, dich zu entführen und auszufragen.« 

Stinkreicher Großgrundbesitzer, soso. Eigentlich war doch Grundbesitz auf der kaputten Erde des vierundzwanzigsten Jahrhunderts vollkommen oder zumindest fast vollkommen nutzlos. Auch materieller Reichtum war eher relativ zu sehen, ich als Zeitagent war doch sowieso schon gegenüber der Normalbevölkerung in einer privilegierten Stellung. In der Zentrale zu leben, mit sauberer Luft, sauberem Essen und sauberer Kleidung war doch – allen potenziellen Risiken bei Zeitreisen zum Trotz – Reichtum genug.

Sicher hatte der Aufbau der Verstecke einiges an finanziellem und auch zeitlichem Aufwand erfordert, aber »stinkreich« war ich deswegen noch lange nicht.

»Tim, es tut mir leid. dass ich dich nicht gewarnt hatte oder so.« 

Ich konnte mich gerade noch bremsen und damit einen Fettnapf umschiffen, indem ich sie doch nicht auf ihre Liebesblindheit ansprach.

»Vergessen. Wir sind hier ja jetzt erst einmal in Sicherheit.« 

Siedend heiß fiel mir etwas ein.

»Apropos Sicherheit…«, meinte ich, als ich aufstand.

Ich öffnete ein Wandpaneel und einen dahinterliegenden Schaltkasten.

Nachdem ich auf einer Steuerkonsole ein paar Einstellungen vorgenommen hatte, konnte ich vermelden: »So, jetzt schlägt das Ding Alarm, wenn sich irgendwelche Aktivitäten im Interdimensionsraum auftun.« 

»Also wenn ein Zeitschiff aus dem Interdimensionsraum in diese Zeit eintritt?« 

Ich antwortete: »genau. Oder wenn überhaupt ein Interdimensionsantrieb gestartet wird. Ursprünglich was das als Hinweisgeber gedacht, dass ich unter Umständen wieder in die richtige Zeit zurückkehren kann. Jetzt ist das eher als Warnung vor den Korrektoren zu sehen!« 

Als ich wieder an den Esstisch zurückkam, stand Lisa auf und umarmte mich.

»Es tut mir leid«, wiederholte sie.

Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Und nochmal: Wir sind hier jetzt erst einmal in Sicherheit«, sagte ich.

Wir räumten den Esstisch ab, füllten die Spülmaschine und machten uns dann an den ersten Punkt meiner Liste.

Es war eine recht staubige Angelegenheit, alle Laken von den Möbeln zu entfernen und Lisa musste sogar ohne einen Zeitsprung ein paar Mal kräftig niesen. Schließlich hatten wir alle Laken in die Waschmaschine gestopft, ein Kurzprogramm eingestellt, da die Laken nicht so schmutzig waren, und konnten mit der Entstaubung fortfahren. Ich gab Lisa einen Staubwedel und nahm mir selbst den Staubsauger. Nach getaner Arbeit ließ ich mich erst einmal auf das jetzt benutzbare Sofa fallen. Lisa setzte sich neben mich und legte wieder ihren Kopf auf meine Schulter.

Ich stellte fest: »Jetzt sieht es hier doch ganz wohnlich aus.« 

Körperliche Arbeit empfand ich zwar nicht als so prickelnd, obwohl ich als Zeitagent eine gewisse Grundkondition besitzen sollte, aber das Ergebnis sprach doch für sich. Hier würden wir es tatsächlich längere Zeit aushalten können.

Der zweite Punkt, die Überprüfung der Haustechnik, war eigentlich schon fast erledigt. Die Küche funktionierte, die Waschmaschine funktionierte, der Staubsauger, das Warnsystem für Aktivitäten in der Interdimension sowie die Energieversorgung durch das Schiff. Nachdem ich einmal durchs Haus gegangen und alle Lichtschalter überprüft hatte, konnte ich auch diesen Punkt abhaken.

Bald konnten wir die nächste Wäsche starten und somit mit Punkt drei der Liste fortfahren. In dieser Zeitepoche wurde noch ganz viel Gift – um genauer zu sein, giftige Färbe- und Konservierungsstoffe – bei der Kleidungsherstellung verwendet. Ich empfahl Lisa daher, da es hier tatsächlich keinen Wäschedienst wie in Pollux-Vier-A gab, ihre neuen Sachen vor den ersten Anziehen erst einmal gründlich zu waschen. Prompt knuffte Lisa mir ihren Ellenbogen in die Hüfte.

»Mädchen, die wirst hier leider einige Komforteinbußen hinnehmen müssen, du musst also auch Essen machen, saugen, waschen undsoweiter.« 

Sie umarmte mich.

»Das macht nichts, hier ist es schön und keine Korrektoren schießen auf uns.« 

Die Waschmaschine zeigte nach dem Einschalten eine Restlaufzeit von 1:52, da ich dieses Mal ein längeres Programm gewählt hatte, und so konnten wir uns dem nächsten Punkt der Liste zuwenden.

Ich holte aus dem Vorratsraum eine klappbare Sackkarre sowie eine Handvoll klappbare Plastikboxen und wir brachten diese zum Schiff. Lisa blieb plötzlich zwischen Haus und Schiff stehen und ich hörte sie einen tiefen Atemzug machen.

»Diese Luft!«, rief sie.

Es roch auch wirklich wunderbar nach Tannennadeln, Holz, frischer Erde und was weiß ich noch allem – viel besser als die hunderttausendfach umgewälzte Luft in Raumschiffen oder in der Zentrale.

Mit einem kleinen Schalter an der Außenwand des Schiffs öffnete ich die »Garage« und wir machten uns daran, das Auto zu entladen. Nach mehreren Fuhren mit der Sackkarre war der Vorratsraum gut gefüllt und Lisa brachte noch ein paar mit Kleidungsstücken gefüllte Plastiktüten mit, die wir beim ersten Mal vergessen hatten.

Inzwischen waren auch die Sitzpolster für die Gartenmöbel aufgetaucht und wir konnten es uns auf der Veranda gemütlich machen. Nach so viel erneuter körperlicher Arbeit hatten wir uns wieder eine kleine Pause verdient.

Lisa schaute mich an und meinte: »So in etwa stelle ich mir das vor, wenn man ein Ferienhaus saisonfertig macht.« 

Zwischen den Ästen zweier großer direkt am Ufer stehenden Laubbäumen sprang ein dunkelbraunes Eichhörnchen hin und her und auf der spiegelglatten Wasseroberfläche des Sees erzeugte ein nebeneinander schwimmendes Entenpaar sich überschneidende Wellenmuster. Lisa konnte tatsächlich Recht haben, hier sah es fast wie im Urlaub aus.

»So wollte ich mich eigentlich zur Ruhe setzen«, stellte ich fest.

Sofort musste ich aber an die uns immer noch suchenden Korrektoren denken und somit verwarf ich den Urlaubsgedanken gleich wieder.

Nach etwa zehn Minuten erklärte ich die Pause für beendet und wir begannen, den nächsten Punkt der Checkliste abzuarbeiten. Schon nach kurzer Zeit hatten wir eine lange Einkaufsliste mit Herbst- und Winterkleidung sowie auch gleich Arbeitskleidung für den übernächsten oder den darauffolgenden Listenpunkt erstellt.

Lisa setzte die Pause gleich wieder fort und machte sich auf dem großen Sofa im Wohnzimmer bequem.

Ich begab mich ins Schiff.

Mit dem Schiffsrechner stellte ich eine Verbindung zum weltumspannendem Daten- und Informationsnetz her, in dieser Zeitepoche »Internet« oder »World Wide Web« genannt. Über den Umweg über mehrere Satelliten nutzte ich einen Netzzugangspunkt im kleinen europäischen Land Liechtenstein, den ich zu diesem Zweck schon zu einem recht frühen Zeitpunkt meines Zeitagentendaseins eingerichtet hatte und der – hoffentlich – ausreichend weit von meinem jetzigen Standort entfernt war.

Alle Bankkonten wiesen noch einen mehr als ausreichenden Bestand auf, und wir mussten uns mindestens drei Jahre lang keine finanziellen Sorgen machen. Und dann hatte ich ja noch meine »nicht ganz compliance-konformen« finanziellen Aktivitäten als Rückfallebene.

Ich ging wieder zurück ins Haus und weckte Lisa, um mit der Checkliste fortzufahren.

Der siebte Punkt ergab eine sehr lange Ergänzung der sowieso schon umfangreichen Einkaufsliste: Ich war noch nicht dazu gekommen, das Haus mit einer Grundausstattung an Werkzeug auszustatten, und so kamen auch Dinge, wie Bohrmaschine, Hammer, Schrauben, Nägel undsoweiter auf die Liste.

Für die nächsten Tage waren wir noch ausreichend mit Lebensmitteln versorgt, somit konnten wir uns für den nächsten Tag eine Auszeit gönnen, die sich jetzt tatsächlich auch wie Urlaub anfühlte. Zum ersten Mal nach langer Zeit lebte ich jetzt mit einer Frau auf privater Ebene (oder wie man das nannte, den das rein dienstliche Zusammensein zählte nicht in diesem Fall) ganztägig eng zusammen. Ich fragte mich ernsthaft, ob ich nach langer Zeit des – von der Agency zwangsweise verordneten – Single-Daseins überhaupt »beziehungsfähig« war. Dieser »Urlaub« war wohl doch nichts für mich, wenn ich jetzt schon in so krause Gedankengänge abdriftete, beziehungsweise da ich jetzt genügend Zeit hatte, in so krause Gedankengänge abzudriften. Mir fehlten meine Bücher, und ich lenkte mich damit ab, indem ich auf der Einkaufsliste nachschaute, ob auch Bücher darauf enthalten waren. Weiter lenkte ich mich mit der Vorplanung der diversen anstehenden Heimwerkarbeiten ab.

Lisa musste bemerkt haben, dass ich irgendwie in Gedanken versunken war.

»Was denkst du gerade?«, war dann auch eine typische Frauen-Fangfrage mit hohem Fettnapfanteil.

Immerhin war ich so auf Fettnapfvermeidung gepolt, dass ich gar nicht erst Diskussionen über die Ausgestaltung unser – jetzt wohl längerfristigen – Beziehung anfing, sondern ihr mitteilte, wie ich mir den Bau der Einhausung des Übergangs zum Schiff sowie des kleinen Daches über dem Schiff vorgestellt hatte.

Sie gab sich mit der Antwort zufrieden und fragte nicht mehr nach, dennoch würde ich mich früher oder später mit Beziehungsfragen konfrontiert sehen. Ich fragte mich aber, ob Lisa diese überhaupt stellen konnte, da wir jetzt ja mehr oder weniger in einer Art »Zwangsehe« zusammenlebten und wir derzeit sowieso keine Wahl hatten, als uns miteinander zu arrangieren.

Am Abend saßen wir noch lange draußen auf der Veranda und wieder stellte sich halbwegs ein Urlaubsgefühl ein. Das Urlaubsgefühl hätte auch noch länger andauern können, wenn da nicht die Stechmücken gewesen wären, die uns zwangen, irgendwann fluchtartig die Veranda zu verlassen und ins Haus zu gehen. Ich schrieb Mücken-/Fliegenfänger auf die Liste und setzte mich dann neben Lisa auf das Sofa.

Der einzige Unterschied – neben der Tatsache, dass wir für die Agency jetzt offenbar »vogelfrei« waren – zu einem richtigen Urlaub war, dass ich nicht auf meine im Laufe der Zeit gesammelten Bücher zurückgreifen konnte. Die Bücher bevölkerten die Regale in meiner Kabine in der Zentrale, und sie waren jetzt zwei Jahrhunderte von hier entfernt. Nun gut, dafür hatte ich ja Lisa um mich herum, die sich auch prompt wieder an mich ankuschelte. Ich würde einfach wieder anfangen, neue Bücher zu sammeln und schrieb daher Bücher und Bücherregale auf die Liste.

Am darauffolgenden Tag war dann unsere große Einkaufstour angesetzt. Zum ersten Mal, seit ich das Schiff hier gelandet hatte, rangierte ich unser Auto aus seiner Garage heraus auf den Vorplatz vor dem Haus. In einer leichten Kurve führte der Zufahrtsweg eine kleine Anhöhe hinauf, bis er nach etwa zwei Kilometern auf eine schnurgerade Landstraße traf. An der Grundstückseinfahrt angekommen, stieg Lisa aus und öffnete ein stählernes Gatter, so dass ich durchfahren konnte. Ich stieg ebenfalls aus und ging zu einem an der Einmündung stehenden großen Briefkasten. Die Post, größtenteils eher Werbung, warf ich erst einmal auf den Rücksitz.

Nach etwa neunzig Minuten Fahrt erreichten wir die nächstgrößere Stadt und ich fuhr schnurstracks auf den Parkplatz eines großen Supermarktes. Wieder einmal hatten wir nach kurzer Zeit zwei Einkaufswagen mit Lebensmitteln in Großküchendimensionen vollgeladen; ich wollte nämlich nicht in den nächsten Wochen gleich wieder herkommen müssen. Leider konnte ich aber nicht an einem dunkelgrünen Kugelgrill vorbeigehen, und so nahm ein großer Karton die ganze untere Ablage eines unserer Einkaufswagen ein. Dadurch ergab es sich, dass wir trotz Lisas leisem Protest noch einmal quer durch den ganzen Markt zur Fleischtheke zurücklaufen mussten.

Auf dem anschließenden Weg zum Baumarkt kamen wir dann an einer Fahrzeugzulassungsstelle vorbei. Über das Internet hatte ich die Verlängerung meiner Fahrzeugzulassung bestellt und so konnte ich nach nur kurzer Wartezeit an einem Schalter der Zulassungsbehörde einen kleinen Aufkleber abholen, den ich dann hinter die Windschutzscheibe klebte.

»Das muss alles seine Ordnung haben«, rechtfertigte ich mich, »damit wir hier nicht unnötig auffallen!« 

Das Fahrzeug war natürlich auf eine meiner Tarnfirmen zugelassen, ebenso gehörten Grundstück und Haus auch dieser Tarnfirma. Das Ganze war aber so konspirativ aufgezogen worden, dass die Korrektoren mein Quartier in der Zentrale auf den Kopf stellen konnten und nichts finden konnten. Nur für Lisa musste ich mir etwas einfallen lassen, um sie mit »offiziellen« Ausweispapieren auszustatten.

Auch im Baumarkt hatten wir schnell die benötigten Holzteile zusammen und die restlichen Posten der Liste waren auch schnell abgearbeitet. Lisa mahnte zwar zur Eile, aber ich konnte mich nicht beherrschen und schlich mehrmals um eine Holzspaltemaschine herum, die mit 380 Volt zu betreiben war und für die ich schnell auch schon einen Platz hinter dem Haus in Reichweite einer 380-Volt-Steckdose ausgesucht hatte. Schlussendlich legte ich dann aber doch zwei Äxte in den Einkaufswagen, eine kleine für Lisa und eine größere für mich.

»Das ist sowieso besser für die Fitness«, stellte Lisa fest, die offensichtlich froh war, nicht noch ein technisches Gerät mitnehmen zu müssen.

Plötzlich hielt sie mich am Arm fest.

»Schau ’mal auf die Frau da drüben, lange schwarze Locken, linke Hand, Ring!«, zischte sie.

Ich konnte gut durch ein nicht ganz gefülltes Regal mit Lackspraydosen hindurch sehen und dann hatte ich erfasst, was Lisa so aus der Fassung gebracht hatte. Kurzzeitig lief es mir ebenfalls kalt über den Rücken.

Die Frau trug deutlich erkennbar einen Ring. Einen Ring, der eine sehr bekannte Form hatte. Er sah wirklich verdächtig nach einem CR aus. Meine kleine Nachwuchs-Zeitagentin hatte gute Augen.

Hastig fuhren wir auf Umwegen zur Kasse, so dass wir von der Frau und ihrem Begleiter nicht gesehen werden konnten.

Im Auto schaute ich auf den Funkscanner und es stellte sich zum Glück als falscher Alarm heraus. Ich lobte Lisa, dass sie so aufmerksam gewesen war.

»Leide ich schon unter Verfolgungswahn?«, fragte sie mit zittriger Stimme.

»Nein«, entgegnete ich, »sie sind ja wirklich hinter uns her!« 

Als Dank für diesen frechen Spruch knuffte sie mich auf den Oberarm, zeigte aber ein leichtes Lächeln.

Das Auto war dann neben den Lebensmitteln randvoll mit Holzpfosten, Holzbrettern, mehreren Rollen Dachpappe und vielen Plastiktüten mit Maschinen, Werkzeug und Kleinteilen.

Wohlbehalten kamen wir dann wieder am Tor zu meinem Grundstück an und nach kurzer Zeit konnte ich das Auto vor dem Haus abstellen. Keine Korrektoren standen vor der Tür und im Interdimensionsraum war es auch ruhig. Ein Blick auf den Funkscanner ergab, dass sie weiterhin an der falschen Stelle suchten und auch noch immer weniger Personal dafür einsetzten. Unser erster Ausflug in das Umfeld des einundzwanzigsten Jahrhunderts von diesem Versteck aus war, bis auf den Fehlalarm mit dem CR, ohne Probleme über die Bühne gegangen. Ich öffnete die Heckklappe und sofort fiel mir ein zusammengepacktes Schlauchboot entgegen, das ich (»wir wohnen ja schließlich an einem See«) nebst Paddeln und Luftpumpe noch als letzten Artikel aus dem Baumarkt mitgenommen hatte.

Nachdem wir alles ausgeladen und vor dem oder im Haus verstaut hatten, begann Lisa, mir in einer Art »Modenschau« ihre frisch gekaufte Herbst- und Winterkleidung vorzuführen. Ich hatte mich mit einer Flasche Bier in der Hand auf dem Sofa breit gemacht und sie ging zwischen Schlaf- und Wohnzimmer hin und her.

Lisa war glücklicherweise, obwohl sie keine ausgesprochen dürre »Model-Figur« hatte, eine dieser Frauen, die in allen möglichen Kleidungsstücken gut aussahen. Natürlich hatte sie die Farben perfekt passend oder auch im hübschen Kontrast zu ihren roten Haaren gewählt; so etwas konnten Frauen viel besser, da konnte ich als Mann nicht im Geringsten mithalten. Eine besonders dicke Daunenjacke hatte sie dann bis oben hin geschlossen sowie auch noch die Kapuze mit Fellrand aufgesetzt und zugeschnürt.

»Muss die dicke Jacke wirklich sein? Ich komme mir vor wie ein Polarforscher!«, beschwerte sie sich, war aber unter der Kapuze kaum zu verstehen.

Ich hatte ihr zwar schon erzählt, dass es hier unter Umständen auch recht strenge Winter geben konnte, aber zum Beweis zeigte ich ihr im Internet einen Zeitungsartikel aus dem vorletzten Winter, in dem ein Schneesturm diesen und den Nachbarlandkreis mehrere Wochen lang nahezu vollkommen lahmgelegt hatte.

»Jetzt kommt die letzte Runde!«, hörte ich sie irgendwann einmal aus dem Schlafzimmer rufen.

Als ob ich es nicht schon geahnt hatte, stand sie dann splitterfasernackt vor mir.

»So ist’s natürlich am Besten!«, meinte ich, stellte die Bierflasche ab und zog Lisa zu mir.

Am nächsten Tag begannen wir gleich mit dem Bau der Einhausung. Mit der neuen Bohrmaschine, die hervorragend funktionierte, da ich mir aufgrund meiner finanziellen Reserven das teuerste Modell eines deutschen Herstellers leisten konnte, bohrte ich recht schnell viele Löcher in den Betonboden zwischen Haus und Schiff. In diese Löcher steckte Lisa dann Dübel und wir verschraubten anschließend dort Winkel aus Edelstahl, die dann die Pfosten halten sollten, auf denen das Dach zum Liegen kam. Nach einem Tag war zumindest das Grundgerüst aus Pfosten und Querbalken fertig und wir konnten uns für den folgenden Tag das »Dachdecken« vornehmen.

Durch die ungewohnte körperliche Anstrengung war ich am Abend zwar hundemüde, konnte aber nicht einschlafen. Nachdem ich mich im Bett ein paar Mal hin und her gewälzt hatte, beschloss ich, aufzustehen und zum Schiff zu gehen. Ich wollte überprüfen, wie der Energiespeicher des Schiffs auf die Energieabnahme durch das Haus (und jetzt auch die Heimwerktätigkeiten) reagierte. Alles war aber im grünen Bereich, es gab keine ungewöhnlichen Rückkopplungen der Technik des einundzwanzigsten Jahrhunderts mit der Technik des vierundzwanzigsten Jahrhunderts und ich musste mir hierüber keine Sorgen machen.

Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass wir immer auch noch andere Sorgen hatten, die sich auch prompt mit einem Alarm an einer Schiffskonsole bemerkbar machten. Ich schaute mir die Konsole kurz an und rannte dann ins Haus, um Lisa zu wecken, die aber schon wach war.

»Alarm in deinem Elektrokasten?«, fragte sie schläfrig, denn auch dieser hatte sich bemerkbar gemacht.

Ich antwortete: »Zeitschiff in Startvorbereitung. Interdimensionsantrieb hochgefahren, das hat auch den Alarm ausgelöst. Etwa sechshundert Kilometer von hier entfernt, es sind also ›unsere‹ Korrektoren!« 

Sie kam mit mir, setzte sich auf den Kopilotensitz und betätigte ein paar Schalter.

Sie meldete: »Aye, Käpt’n, bereit für Alarmstart! Systeme auf Standby. Was machen wir mit dem Stromversorgungskabel?« 

»Das hat eine Art Sollbruchstelle und löst sich, wenn wir starten.« 

Ich hatte mit Lisa besprochen, dass wir hier im Schiff viel sicherer waren, wenn die Korrektoren tatsächlich kommen sollten. Auch wenn das Schiff nur leicht bewaffnet war, so hatten wir damit doch eine gleichwertige Möglichkeit, uns gegen sie verteidigen zu können.

Ein kurzer Blick auf den Funkscanner zeigte, dass kein Zeitagent – oder zumindest kein Zeitagent mit einem CR – auf der Erde zurückgeblieben war. Sollten sie tatsächlich die Suche nach uns so schnell aufgegeben haben? Für mich als bekennenden Berufspessimisten ging das alles etwas zu schnell und ich wollte uns nicht in Sicherheit wiegen.

»Sie gehen auf die Drei«, stellte Lisa fest.

Das Zeitschiff, das ja in Gegensatz zu meinem über einen funktionsfähigen Interdimensionsantrieb verfügte, nahm also die sogenannte »Route Drei«, um einmal um die Sonne zu fliegen, von dort aus zu einem Punkt weit außen im Sonnensystem zu gelangen und dann den Zeitsprung durchzuführen.

Nachdem der Zeitsprung den üblichen kleinen Lichtblitz erzeugt hatte, der von der Erde aber nicht mit bloßem Auge sichtbar war, sondern nur über die Konsolen des Schiffs registriert wurde, wurden dann nur noch geringe Restechos im Interdimensionsraum angezeigt.

Unsere Verfolger waren also ins vierundzwanzigste Jahrhundert zurückgekehrt.

Ich fuhr die Schiffssysteme wieder herunter und wir gingen zurück ins Haus.

»Sind wir jetzt in Sicherheit?«, wollte Lisa wissen.

»Naja, für’s Erste…« 

Sie ließ aber nicht locker.

»Würden sie es wieder versuchen oder sogar noch weiter in die Vergangenheit gehen, um dich – uns – zu stoppen, gefangenzunehmen, zu töten, was auch immer?« 

»Lisa, ich glaube: eher nicht. Nicht ’mal der dämlichste Korrektor würde wegen so etwas ein Raum-Zeit-Paradoxon mit allen seinen Konsequenzen riskieren wollen.« 

Nachdem sich am nächsten Morgen der erste Frühnebel dieses schönen Frühherbstes – mit ersten Anzeichen eines »Indian Summers« – verzogen hatte, wurde es wieder recht warm und wir konnten mit dem Bau fortfahren.

Ich war erstaunt, wie gut Lisa mit einem großen Zimmermannshammer umgehen konnte. Wenn sie die Leiter hinauf- oder hinabstieg, hing dieser ganz lässig in der dafür vorgesehenen Schlaufe ihrer Arbeitslatzhose. Es sah recht professionell aus und ihr schien diese Arbeit eine willkommene Abwechslung zu sein. Um die Mittagszeit war dann das ganze »Dach« mit Holzbrettern gedeckt und wir gönnten uns erst einmal eine ausführliche Mittagspause.

Nachmittags wurde es dann wieder sehr warm und ich musste feststellen, dass Lisa außer ihrer Arbeitslatzhose und den Arbeitsschuhen nichts weiter anhatte, so dass ab und zu ihre Brüste in Gänze hervorschauten. Das Mädchen wusste schon, wie sie mich kriegen konnte, und so kam es dann auch zu einer ungeplanten Unterbrechung der Bautätigkeiten.

Kurz vor Einsetzen der Dämmerung hatten wir es dennoch geschafft, die letzte Bahn Dachpappe komplett festzunageln. Noch nie war ich so oft eine Leiter hinauf- oder hinuntergeklettert. Erschöpft ließen wir uns dann auf das große Sofa fallen.

Lisa streckte sich.

»Aah, mir tut fast alles weh!«, jammerte sie.

Trotz aller Fitnessraum-Zwangsbesuche, die man in der Zentrale machen musste, um etwaigem Muskelschwund aufgrund zu geringer Schwerkraft vorzubeugen, waren die Bewegungsabläufe beim Bau der Einhausung für unsere Körper offenbar vollkommen ungewohnt. Ja, unsere Körper: Auch ich spürte, dass ich am Morgen einen recht starken Muskelkater haben würde.

Alles in Allem sah das Endergebnis aber gar nicht einmal so schlecht aus, besonders da wir beide ja als ausgebildete Zeitagenten lediglich über eher unterdurchschnittliche Heimwerkfähigkeiten verfügten. Seine Bewährungsprobe würde die Konstruktion aber dann erst bei starken Regen- und vor allem Schneefällen beweisen müssen.

Schon ein paar Tage später hatte die Konstruktion aber schon die Chance, sich zu bewähren, denn Dauerregen suchte über mehrere Tage hinweg die Gegend heim. Sogar der Wasserstand des Sees hatte schon fast die Unterkante des Stegs erreicht und ich befürchtete, bei weiter steigendem Wasser das Haus räumen und mit dem Schiff einen höhergelegenen Platz aufsuchen zu müssen. Seit das Haus gebaut wurde, war es aber noch nie überschwemmt worden, was mir etwas Zuversicht verschaffte.

So hatte ich aber ausgiebig Zeit, Lisa eine neue Identität zu verschaffen, denn ihre von der Agency erstellten falschen Ausweispapiere und Kreditkarten konnte sie auf keinen Fall weiterverwenden, ohne sofort bei der Agency Aufmerksamkeit zu erregen. Da es etwas kühler geworden war, hatte ich sogar abends ein Kaminfeuer angezündet und bat Lisa, alle ihre falschen Ausweispapiere in das Feuer zu werfen und somit restlos zu vernichten.

Nach ein paar Tagen war es dann soweit und Larissa Odenkova, Urenkelin russischer Einwanderer, war »geboren«. Mit der Technik des vierundzwanzigsten Jahrhunderts auf den Datenbanken verschiedener staatlicher Organisationen des einundzwanzigsten Jahrhunderts hatte ich nach einigen Mühen, aber unbemerkt, einen glaubhaften Datenbestand geschaffen, der kein Aufsehen erregte und der genau zu Lisas »Alter Ego« passte. Den dazugehörigen Reisepass, Führerschein undsoweiter hatte ich bei einem zuverlässigen Fälscher in Auftrag gegeben, der auch schon meine, auf Tom Cassidy lautenden Dokumente hergestellt hatte.

Nach etwa zwei Wochen, das Wetter hatte sich inzwischen zu einem Zwischenhoch ohne Niederschläge verbessert, konnte ich dann auf einer Parkbank in der übernächsten Stadt einen kleinen Umschlag mit Bargeld gegen einen kleinen Umschlag mit den Fälschungen eintauschen. Bei der Erstellung der notwendigen Passbilder, die seit einiger Zeit »biometrisch korrekt« oder so etwas sein mussten, hatte ich Fotografien von Lisa so nachbearbeitet, dass ich ein paar Merkmale für das bloße Auge nicht sichtbar angepasst hatte; Gleiches hatte ich auch schon für meine falsche Identität gemacht. Ich wollte damit erreichen, dass eine elektronische Suche nach Lisas und meinen Gesichtern in den Pass- oder Führerscheindatenbanken möglichst ins Leere laufen sollte, da wir eben dann für ein menschliches Auge nicht wahrnehmbare, aber für eine maschinelle Erkennung dann durchaus signifikant abweichende Nasen-, Kinn-, Augenbrauen- und vor allem Ohrenformen hatten als Larissa und Tom. Zumindest bildete ich mir ein, mit dieser Taktik schon einen gewissen Erfolg erzielt zu haben, da die Korrektoren oder auch allgemein die Agency mich bisher nicht finden konnten, obwohl ich zum Beispiel im Motel oder im Baumarkt mit Toms Kreditkarte bezahlt hatte.

Es tat mir aber furchtbar in der Seele weh, diese wunderschönen Fälschungen, die wahre Kunstwerke darstellten, in die Waschmaschine zu werfen, um sie zumindest soweit unbrauchbar, aber noch lesbar zu machen, dass bei der Bank und diversen Behörden neue bestellt werden konnten oder mussten. Dieses Verfahren hatte ich auch schon für mich angewendet und dank der passenden Datenbankeinträge war ich schlussendlich in den Besitz von vollkommen legalen Ausweis- und sonstigen Dokumenten gekommen, die jeder optischen Prüfung und jeder Gegenprüfung in den Datenbanken statthielten. Lisa würde dann die dumme rothaarige Frau spielen und sich mit quietschender Stimme hundert Mal entschuldigen, dass sie so gedankenlos gewesen war, auf einer Kanutour ihre Papiere nicht in ein wasserdichtes Gefäß gesteckt zu haben.

Tatsächlich funktionierte alles wie geplant – und Larissa Odenkova war jetzt eine offiziell registrierte Einwohnerin dieses Landkreises mit gültigen Ausweispapieren. Lisa war wirklich eine gute Schauspielerein, was sie ja auch schon als irische Rechtsanwaltsangestellte unter Beweis stellen konnte.

Gleichzeitig hatte ich auch mit meiner Verwalterin Kontakt aufgenommen und sie hatte Lisa/Larissa und mich/Tom zu sich eingeladen. Jetzt hatte Lisa ja gültige Ausweispapiere und wir würden nicht unangenehm auffallen.

»Du bist doch sehr wohl ein stinkreicher Großgrundbesitzer, wenn du dir extra dafür eine hauptberufliche Verwalterin leisten kannst!«, frotzelte Lisa, als wir ins Auto stiegen.

Die Stadt, in der die Verwalterin lebte, lag an der Atlantikküste und wir mussten fast einen ganzen Tag lang fahren, um dorthin zu gelangen. Mit einem Zeitschiff wären es nur wenige Sekunden gewesen, aber es erschien mir zu auffällig. Henrietta, die Verwalterin, war eine alleinerziehende Mutter von Zwillingen, der ich eine zweite Chance gegeben hatte – ich war durch und durch ein Protektor und musste eben alle beschützen.

Henrietta hatte mir mitgeteilt, dass sie in eine neue und größere Wohnung umgezogen war. Diese Wohnung lag in einem Sanierungsgebiet in einer Hafenstadt, in dem Industriebrachen am Hafen in ein neues »In-Viertel« mit vor allem hochpreisigen Wohnungen umgewandelt worden waren.

An der Einfahrt zur Tiefgarage des sehr modern mit viel Glas gestalteten Appartementhauses meldeten wir uns mit einer Gegensprechanlage bei Henrietta an. Lisa, die jetzt als Larissa endlich auch »offiziell« fahren durfte, parkte unser Auto auf einem Besucherparkplatz und wir fuhren mit einem Aufzug in das vierte Stockwerk des Gebäudes. An der Wohnungstür wurden wir von Henrietta empfangen.

Als ich sie sah, blieb ich erst einmal erschreckt stehen. Es war aber kein negatives Erschrecken, sondern eher ein positives Überrascht-Sein – oder wie immer man es am Besten beschreiben sollte. Die Frau hatte sich verändert, sehr verändert, sehr zum Postiven verändert! Aus der Frau, die ich halbverhungert gerettet hatte, war jemand geworden, dem man die Zufriedenheit und innere Ausgeglichenheit schon von Weitem ansah. Sie hatte leicht an Gewicht zugelegt, so dass die eingefallenen Wangen jetzt wieder gleichmäßigen Gesichtszügen gewichen waren, was auch von einem dezenten Makeup unterstützt wurde. Auch die langen blonden Haare hingen nicht mehr stumpf und zottelig umher, sondern sahen glänzend, locker und frisch frisiert aus. Sie hatte sich außerdem nicht allzusehr aufgetakelt, war aber dennoch sehr modisch gekleidet – und die Sachen sahen nicht gerade preiswert aus. Henrietta lächelte mich an. Ich konnte sofort erkennen, dass sie sich auch ihre Zähne hatte richten lassen.

»Was ist, möchtest du nicht hereinkommen?«, fragte sie.

»Öhm, j-ja«, stammelte ich, noch immer vollkommen überwältigt von ihrer Verwandlung. »Gut siehst du aus, sehr gut!« 

Sie entgegnete: »Ich fühle mich auch gut.« 

Wir gingen hinein und sie umarmte mich lange. Jetzt konnte ich spüren, wie sie den Hauch eines leichten und ebenfalls sehr teuer riechenden Parfüms verströmte.

»Danke nochmal für alles, wir sehen uns ja so selten«, hauchte sie mir ins Ohr.

Ich glaubte, aus dem Augenwinkel zu sehen, wie Lisa langsam in eine Art »Eifersuchtsmodus« zu wechseln schien, aber Henrietta entschärfte die Situation, indem sie mich losließ und dafür Lisa lange umarmte. Die kleine Lisa konnte also offensichtlich eifersüchtig auf andere Frauen werden, eine sehr interessante Entwicklung.

Henrietta bat uns dann in einen großen und mit vielen Pflanzen vollgestellten Wintergarten, in dem zwischen den ganzen Pflanzen der Esstisch fast nicht zu erkennen war.

Aus dem Wintergarten heraus schaute man auf ein in einen Sportboothafen umgewandeltes Hafenbecken, aus dem gerade eine große Motoryacht auslief. Ich hatte einen Kaffee mit Milch und Zucker bestellt und Lisa war mit Henrietta in die Küche gegangen, um sich eine bestimmte Teesorte aussuchen zu können.

Ich schaute mich um. Meine Verwalterin hatte sich wohnungsmäßig schon sehr deutlich gegenüber dem Dreckloch verbessert, aus das ich sie geholt hatte.

»Schön habt ihr’s hier«, musste ich feststellen, als sie wieder aus der Küche in den Wintergarten zurückkehrten.

»Ja«, bestätigte Henrietta, »und seit wir hier am Meer wohnen, ist auch mein Asthma fast verschwunden.« 

»Wo sind eigentlich die Mädchen?«, wollte ich dann wissen, als sie mir ein großes Stück Schokoladenkuchen reichte.

Sie schaute auf ihre – auch nicht ganz preiswert aussehende – Armbanduhr und sagte: »Sie müssten eigentlich gleich kommen. Sie sind noch in der Schule und heute haben sie Spätunterricht.« 

Nachdem ich zwei Stücke des zwar sehr leckeren, aber auch sehr stopfenden Kuchens vertilgt hatte und auch Lisa keinen Nachschlag mehr haben wollte, bot Henrietta uns einen Rundgang durch ihre neue Wohnung an. Die finanziellen Reserven einer meiner Tarnfirmen ließen es zu, dass Henrietta – beziehungsweise die Firma – sich vor fast zwei Jahren diese recht teure Wohnung leisten konnte. Henrietta hatte ihre Entscheidung nicht bereut, denn diese Wohnung gab ihr auch noch einmal einen seelischen Aufschwung.

Das Wohnzimmer schloss auf einer Seite mit großen bodentiefen Fenstern ab, die den Blick auf und über den Hafen freigaben und an die der Wintergarten angrenzte. Das Wohnzimmer ging außerdem nahtlos in eine geräumige Wohnküche über, bestückt mit den allerneuesten Küchengeräten. Über den Flur erreichte man dann zwei Badezimmer, Henriettas Schlafzimmer, die beiden Zimmer der Mädchen sowie ein großes Arbeits- und Gästezimmer, von dem aus sie meine Tarnfirmen und meine Liegenschaften verwaltete. Jeder Raum hatte entweder ockerfarbene Bodenfliesen oder ein helles Buchenparkett und selbstverständlich gab es flächendeckend eine Fußbodenheizung nebst an der Decke angebrachten Klimageräten. Alles sah sehr geschmackvoll eingerichtet und sehr gepflegt aus. Henrietta hatte ja kurzzeitig als Immobilienmaklerin gearbeitet und mit dieser Wohnung hatte sie wohl ihre ideale Immobilie verwirklicht.

»Nicht schlecht, nicht schlecht«, meinte Lisa.

Plötzlich rumorte es an der Wohnungstür und die Zwillinge kamen herein. Ich hatte die beiden Mädchen zuletzt ja vor fünf Jahren bretto (mich schauderte es bei dem Wort) gesehen und wenn ich mich recht erinnerte, mussten sie jetzt ungefähr sechzehn bis siebzehn Jahre alt sein. Beide trugen eine Schuluniform, bestehend aus einer hellgrauen Hose und einem hellgrauen Kapuzen-Sweatshirt mit blau-gelben Streifen und einem ebenfalls blau-gelben Wappen auf der Vorderseite. Die Mädchen waren zu sehr hübschen jungen Damen herangewachsen und auch sie sahen wesentlich gesünder und zufriedener aus als die schmutzigen Kinder in zerrissener Kleidung, die ich kennenlernen musste.

»’tschuldigung, Mama, dass wir zu spät kommen! Aber die blöde Anna konnte sich einfach nicht für einen Lippenstift entscheiden!« 

Prompt bekam sie von ihrer Schwester einen Klaps auf ihren Hinterkopf und ihre Mutter musste erst einmal dazwischengehen.

»Wollt ihr nicht erst einmal unsere Gäste begrüßen?«, fragte Henrietta. »Könnt ihr euch noch an Tom erinnern?« 

»Ja, hallo Tom«, sagte Anna und gab mir die Hand.

Bei Lisa/Larissa kam dann die Frage auf: »Tom, ist das deine Freundin?« 

Gina hatte eine ganz kleine Narbe am Kinn, die ich sofort wiedererkannte und mit der ich die beiden Mädchen einwandfrei auseinanderhalten konnte.

»Nein, meine Kollegin. Und überhaupt: Lebensgefährtin, Gina! Im meinem Alter hieße das außerdem Lebensgefährtin.« 

Anna musste losprusten.

»Das muss ich mir merken«, sagte sie lachend.

Schon jetzt hatte sich der Eindruck verfestigt, dass es der kleinen Familie sehr gut zu gehen schien.

Gina umarmte mich und fragte »Du hast uns gerettet, nicht wahr?« 

»Mm-hmm«, antwortete ich kurz.

Sie legte sofort nach: »Und warum bist du dann nicht bei Mama geblieben?« 

Ihre Schwester verdrehte die Augen, Lisa verfiel in ein breites Grinsen und Henrietta zischte »Gina!« 

»Meine liebe Gina«, begann ich, »mein Job ist es, Menschen zu beschützen. Eure Mutter und euch hatte ich vor ein paar Jahren beschützt und ihr seid dann in Folge bestens alleine zurechtgekommen. Danach waren aber eben andere Menschen an der Reihe, die es ebenfalls nötig hatten, beschützt zu werden.« 

Sie drückte mich noch fester, hauchte mir einen Kuss auf die Wange und es begann, mir unangenehm zu werden. Vor kurzen war ich noch der einsame Wolf, der für die Agency für das Gute kämpfte. Jetzt gerade hatte ich aber schon vier attraktive Frauen um mich herum, die mich umarmten, küssten und mit denen ich, zumindest im Falle von Lisa, sogar schon Sex hatte. Nicht nur Henriettas, sondern auch mein Leben hatte eine erstaunliche Wendung genommen, mit der ich erst langsam zurecht kam.

Gina ließ mich dann endlich wieder los und die Mädchen gingen auf ihre Zimmer, um sich umzuziehen.

Henrietta schlug dann vor, den Kuchen in einem kleinen Spaziergang wieder etwas »abzuarbeiten«.

Stadtplaner, Architekten und Bauunternehmen hatten offensichtlich ganze Arbeit geleistet und das Hafengebiet richtiggehend »herausgeputzt«. Das Haus, in dem sich Henriettas Wohnung befand, war einer der wenigen Neubauten, es gab aber auch alte Lagerhäuser, die zu Wohngebäuden umfunktioniert wurden. Sie hatte sich aber für einen Neubau entschieden, um nicht plötzlich mit irgendwelchen Altlasten konfrontiert zu werden. Auf mich machte das Wohngebiet einen hervorragenden Eindruck, und ich konnte Henrietta nur beglückwünschen, die richtige Entscheidung beim Wohnungskauf getroffen zu haben.

Beim Abendessen musste ich dann erneut meine Geschichte vom Personenschutz erzählen, wie ich sie auch schon dem Gangsterboss aufgetischt hatte.

»Larissa, bist du auch dabei?«, wollte Anna wissen.

Wieder erläuterte Lisa, dass sie spezialisiert auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen war. Besonders Gina bekam daraufhin glänzende Augen und ich musste auf die Bremse treten.

»Lass’ es bleiben!«, ging ich dazwischen. »Der Job ist gefährlich, man muss viel herumreisen und hat unmögliche Arbeitszeiten.« 

Anna, die immer noch nicht ihren Blick von Lisa/Larissa lassen konnte – sie hatte wohl gerade ihre persönliche Heldin gefunden –, fragte: »Wie gefährlich?« 

Ich zog mein Hemd hoch und zeigte ihr die sich mittlerweile ins grün-gelbliche verfärbten Hämatome.

»So gefährlich!« 

Gina verzog ihr Gesicht und gab einen grunzenden Laut von sich.

»Sucht euch einen Bürojob wie eure Mutter«, stand Lisa mir bei.

Die Zwillinge ließen aber nicht locker und schlussendlich verplapperte sich Lisa mit »na klar, Schutzwesten, Schusswaffen, gepanzerte Fahrzeuge, das volle Programm«, so dass ich ihr unter dem Tisch einen Fußtritt verpassen musste, sie sich zu mir drehte und eine Grimasse schnitt.

Die ganze Situation kam mir wie ein großes Deja-Vu vor, als ob ich als Zeitagent nicht ständig Deja-Vus hätte: Auch die Tochter des Gangsterbosses, die ZP eines unserer letzten Einsätze, wollte unbedingt in Lisas Fußstapfen treten, wovon ich ebenfalls abgeraten hatte.

Jetzt war schleunigst ein Themawechsel fällig: Im Arbeitszimmer hatte ich Bilder von den Zwillingen gesehen, einmal hatten sie sehr putzige dunkelbraune kleine Beutel- oder was-auch-immer-Tiere auf dem Arm und einmal standen sie auf einer bunten Sommerwiese in einem Tal vor schneebedeckten Berggipfeln. Es sah sehr stark nach Australien und Italien aus, und meine Vermutung wurde von Henrietta bestätigt. Sie war in den Schulferien über mehrere Jahre hinweg mehrmals mit den Mädchen in die Ferne gereist, um meine Liegenschaften in Übersee in Augenschein zu nehmen und dies mit einem Urlaub zu verbinden. Natürlich konnten sie es sich leisten, nicht gerade die preiswerteste Flugzeug- und Hotelklasse zu nehmen, und so waren vor allem die beiden Mädchen begeistert, einmal etwas anderes als ihre Heimatstadt zu sehen und in Bezug auf Fernreisen bei ihren Mitschülern auch einmal mitreden zu können. So hatten sie das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden und die Inspektions- zu umfangreichen Fernreisen erweitert.

Die kleinen Tiere waren Quokka- und Baumkänguruh-Waisen, die in Australien in einer Aufzuchtstation aufgepäppelt wurden und die »soo süüß« waren, dass Anna sie gar nicht mehr hergeben wollte. Die Alpen in Norditalien und dem angrenzenden Österreich waren wiederum für Gina ein vollkommen neues Erlebnis, da sie am gleichen Tag auf einem Gletscher im Schnee und im Tal in einem Freibad gewesen war. Auch Henrietta hatte die Luftveränderung sehr gutgetan und ich konnte bei ihr und ihren Töchtern gewisse Parallelen zu den kleinen Beuteltieren erkennen; auch sie waren ja im Prinzip wieder »aufgepäppelt« worden.

Die Zwillinge verabschiedeten sich dann, weil sie in einem Eiscafé am Hafen zusammen mit Freundinnen noch »chillen« wollten.

»Irgendwelche Jungs in Aussicht, womöglich irgendetwas Festes?«, fragte ich, als die Mädchen gegangen waren.

Henrietta lachte und meinte: »Nicht, dass ich wüsste. Die gute Nachricht ist aber, dass beide so gepolt sind, sich sofort gegenseitig zu verpetzen; das muss irgendwie in ihren Genen liegen. Insofern hätte ich also schon Wind davon bekommen müssen.« 

Jetzt musste Lisa lachen.

Sie stellte fest: »Das ist völlig normal, dass sie etwas vor dir verheimlichen, vor allem Jungsgeschichten. Mein Dasein als Teenager ist schließlich noch nicht so lange her, betrachte mich daher als Expertin. Spätestens wenn du dich dann spontan ›Oma‹ nennen darfst, weißt du, was los ist…« 

Erneut bekam sie von mir einen Tritt unter dem Tisch. Henrietta lachte.

»Nein, nein«, legte sie dar, »das will ich nicht hoffen! Ich habe nämlich mit beiden das volle Aufklärungsprogramm inklusive Verhütung undsoweiter durch.« 

Wieder musste ich einen Themawechsel anstoßen und wir machten uns daran, den Tisch abzuräumen. Nachdem alles in der Spülmaschine oder im Kühlschrank verstaut worden war, machen wir es uns im Wintergarten gemütlich. Endlich kam ich dazu, Henrietta zu fragen, was sie denn für sich selbst getan hatte. Ich hoffte doch sehr, dass sie sich nicht ausschließlich um ihre Töchter, sondern auch weiterhin um sich selbst kümmerte.

»Zwei Häuser weiter gibt es ein nagelneues Fitness-Center nur für Frauen, da gehe ich mehrmals die Woche hin. Du weißt ja: Von nichts kommt nichts!« 

Ich bemerkte, wie Lisa (unwillkürlich?) ihre Oberarmmuskeln anspannte, und versuchte, nicht laut loszulachen.

Henrietta hatte sich beim Sport mit mehreren Frauen angefreundet, mit denen sie sich auch regelmäßig außerhalb des Sportstudios traf. Ebenso hatte sie Kontakt zu ein paar Müttern von Annas und Ginas Mitschülerinnen.

Noch bis spätabends saßen wir im Wintergarten, der von Henrietta kredenzte Rotwein mundete vorzüglich und ich schaltete irgendwann einmal in den »Smalltalkmodus«, bremste aber wohlweißlich alle Themenwechsel zu »Zeitagenten«, »Zeitreisen«, »Protektoren«, »Korrektoren« undsoweiter ab.

Gegen elf Uhr kehrten dann auch die Mädchen heim und verschwanden gleich in ihre Zimmer. Henrietta hatte für Lisa und mich das große Gästeschlafsofa im Arbeitszimmer zurechtgemacht und so bezogen wir gegen Mitternacht unser Nachtquartier. Leider war aber an Schlaf nicht zu denken, denn Lisa musste mich noch ausfragen, wie ich Henrietta kennengelernt hatte, warum ich nicht mir ihr dauerhaft zusammen war und was es mit dem »Aufpäppeln« auf sich hatte.

»Lisa, ich muss dich warnen: Das ist eine traurige Geschichte, zwar mit einem Happy-End, wie du gesehen hat, aber dennoch eine traurige Geschichte. Du wirst wahrscheinlich anfangen zu weinen.« 

Ich sollte die Geschichte aber trotzdem erzählen und so begann ich damit, dass ich Henrietta dabei ertappte hatte, wie sie hinter einem Restaurant eine Mülltonne nach Essbaren durchwühlt hatte. Nachdem ihr damaliger Freund sie einfach mit den Zwillingen hatte sitzen lassen und sie kurz darauf auch noch ihren Job verlor, war sie vollkommen auf sich alleine gestellt, hauste mit den Kindern in Abbruchhäusern und ernährte sich mehr oder weniger von Weggeworfenem.

Lisa schluchzte und kuschelte sich näher an mich. »Also doch!«

»Ich gab ihr etwas Startkapital«, fuhr ich fort, »quartierte sie in einer kleinen Wohnung ein und machte sie dann bei meinem nächsten Einsatz, der in diese Zeitepoche führte, zu meiner Verwalterin. Sie sprach ein wenig Italienisch und mit ihrer Ausbildung als Buchhalterin war sie die ideale Kandidatin für den Verwalter-Job. Es war sozusagen die klassische Win-Win-Situation: Sie wurde vor dem totalen Absturz bewahrt und ich hatte jemanden, der sich um meine Dinge in der Vergangenheit kümmert. Sie bekam dafür ein mehr als ausreichendes Gehalt und soviel weiteres Kapital zur Verfügung, dass sie sich dann erstens eine größere und schönere Wohnung – aber noch nicht diese hier – und zweitens eine vernünftige Schulausbildung für die Zwillinge leisten konnte. Du siehst, ich bin ein sentimentales Weichei, denn wer kann schon an jemanden einfach vorbeigehen, der sich sein Essen aus der Mülltonne holt…« 

»Weichei? Bist du nicht!«, sagte Lisa und küsste mich. »Schau ’mal auf deine blauen Flecken. Ich habe noch nie jemanden solche Prügel aushalten gesehen. Ein Weichei bist du nicht, sentimental vielleicht, aber kein Weichei!« 

»Woher hast du denn die Vergleichsmöglichkeiten?« 

»Du glaubst gar nicht, wo ich aufgewachsen bin!« 

Da hatte sie Recht, denn ihre Personalakte hatte da nur sehr vage Angaben zu bieten. Ich fand es aber sehr schmeichelhaft, dass sie mich irgendwie als harten Kerl ansah.

»Warum ich nichts mit Henrietta angefangen hatte, wolltest du wissen.« 

»Hat nicht jeder Zeitagent eine Geliebte in jeder Zeitepoche, so wie ein Seemann in jedem Hafen?« 

Ich legte mich auf sie, griff mir ihre Handgelenke und hielt sie fest.

»Hör ’mal, kleines freches Mädchen! Nochmal: Würdest du jemandem helfen, der sein Essen aus der Mülltonne holt und dann gleich die Notlage für eine sexuelle Beziehung ausnutzen?« 

Sie schüttelte den Kopf und ich legte mich wieder neben sie.

»Nein, ich habe auch nicht in jedem Hafen eine andere Braut! Ich bin ja eine Zeitlang nicht ’mal mit einer Frau vernünftig zurechtgekommen.« 

»Und außerdem ist das gegen die Richtlinien der Agency. Der große Zeitagent Tim Cassell, Vorbild für alle und hochdekorierter Held, muss sich natürlich an die Richtlinien halten!« 

Sie wurde mir jetzt ein wenig zu frech und ich versuchte, sie wieder einzufangen.

»Nein, wenn der große Tim Cassell, Held und Vorbild, sich vollumfänglich an die Richtlinien gehalten hätte, dann wären wir jetzt nicht hier, sondern in einem Verlies oder fast tot oder ganz tot oder sonstwas!« 

Hier musste sie mir zustimmen und gab mir einen Kuss.

»Außerdem ist der große Zeitagent Tim Cassell durch und durch ein Protektor und muss einfach Leute beschützen, egal ob es ein Auftrag der Agency ist oder nicht«, stellte sie dann abschließend fest.

»Ja, außerdem ist der große Tim Cassell das.« 

Der Rotwein zeigte aber zunehmend seine Wirkung und bald schliefen wir ein.

Der Abschied nach dem Frühstück brachte dann wieder viele Umarmungen und Küsschen mit sich, so dass mir schon wieder ganz anders wurde. Lisa dagegen hatte sich damit arrangiert – sowie wohl auch ihre Eifersucht abgelegt – und nahm es mit Humor, dass ich von allen »abgeknutscht wurde«, wie sie mir auf der Rückfahrt sagte.

Wieder beim Blockhaus angekommen, waren keine Zeitagenten zu sehen und ich war erleichtert, dass sie wohl scheinbar die Verfolgung endgültig aufgegeben hatten.

Lisa hatte mich dann in den folgenden Tagen dazu überreden können, doch einmal meine Häuser in Italien und Australien zu besuchen. Nicht ganz uneigennützig hatte ich ja auch touristisch attraktive Orte für meine Verstecke ausgesucht, und so verabredeten wir, dass wir zunächst einmal im nächsten Sommer nach Italien fliegen wollten.

Nach einem doch nicht so harten Winter und ein teilweise schon recht schönen Frühlingstagen hatte dann der Frühsommer Einzug gehalten. Ich saß auf der Veranda und Lisa hatte sich am bisher wärmsten Tag des Jahres todesmutig in den See begeben, um ein paar Bahnen zu schwimmen.

Schon nach nur wenigen Minuten kehrte sie aber wieder zum Steg zurück und eine sehr nasse, sehr nackte und sehr aufreizende Lisa stieg aus dem Wasser. Ich warf ihr ein großes buntes Badehandtuch zu und sie wickelte sich darin ein. Wie eine kleine bunte Mumie aussehend setzte sie sich dann neben mich. Sie hatte leicht bläuliche Lippen und ebenfalls leicht bläuliche Fingernägel, aber »das Wasser war gar nicht so kalt gewesen«.

»Mädchen, du musst mir gar nichts beweisen und du weißt ja, dass ich eher ein Warmduscher bin und erst in den See gehen werde, wenn er auch nachweislich Badetemperatur hat!« 

Sie lachte und schaute auf ihre Finger. Etwas Merkwürdiges geschah, denn ihre Hände wurden immer durchsichtiger.

Sie rief in Panik mit immer schwächer werdender Stimme: »Was passiert mit mir?« 

Im nächsten Augenblick geschah alles wie in einem schlechten Horrorfilm, wenn das böse Wesen plötzlich verschwindet und seine Kleidung auf den Boden fällt, denn genauso fiel das Badetuch auf die Gartenbank.

Nach eine Schrecksekunde wurde mir klar, was gerade passiert war.

Lisa war verschwunden, hatte sich aufgelöst.

Code Zwanzig, na klar.

Die Agency war erfolgreich gewesen und hatte es tatsächlich geschafft, irgendetwas in irgendeiner Form so zu verändern, dass Lisa, die kleine süße Lisa, aufhörte zu existieren. Wie zur Bestätigung meinte ich, ein leichtes Zeitbeben zu spüren, und es machte sich im Haus der Interdimensionsalarm lautstark bemerkbar.

Ich rannte ins Haus, stinksauer, aber auch den Tränen nahe (war ich vielleicht doch ein Weichei, liebe Lisa?). Hinter einem Holzbalken riss ich ein Geheimfach auf und entnahm ihm eine Schall- und eine Projektilwaffe. Die Projektilwaffe steckte ich mir hinten in den Hosenbund und die Schallwaffe nahm ich in die Hand.

Ich lief wieder ins Freie und hörte auch schon das unverkennbare Geräusch eines großen Atmosphärentriebwerks im Bremsmodus. Ein mittelgroßes Zeitschiff landete auf dem kleinen Strand neben den Haus und ich richtete sofort meine Waffe darauf. Eine Tür öffnete sich und heraus kam mein Chef, der Leitende Protektor, mit ein paar Leuten seines Stabes im Schlepptau.

Er begann mit »Agent Cassell! Schön, dass wir Sie endlich…«, aber ich hob die Hand und rief »Halt!« 

Als er sich trotzdem weiter auf mich zubewegte, drückte ich ab und schoss vor ihm ein kleines Loch in den Sand. Dieser Schuss veranlasste ihn zwar stehenzubleiben, ließ aber auch seine Mitarbeiter ihre Waffen ziehen und auf mich richten.

»Vier Dinge!«, rief ich.

Der Leitende Protektor schaute mich fragend an.

Ich hob einen Finger.

»Erstens: keinen Schritt weiter!« 

Ich hob einen weiteren Finger.

»Zweitens: Ich möchte einen Code Zwanzig melden. Was habt ihr mit Agent O’Donoghue gemacht? Sie konnte überhaupt nicht dafür, das alles war ausschließlich meine Entscheidung! Und sagt jetzt nicht, das war nur ein kleiner Kollateralschaden, um mich zu ›retten‹!« 

Sie rührten sich nicht – zum Glück, denn ich war hoffnungslos in der Unterzahl, und dann war ja da auch noch das Schiff mit seiner Bordbewaffung… 

»Drittens: Ich kündige! Sofort! Fristlos! Auch und gerade weil ihr mir Lisa O’Donoghue weggenommen habt!« 

Mein jetzt nicht-mehr-Chef hatte schon seinen »wir müssen darüber reden«-Blick aufgesetzt, aber ich bremste ihn, indem ich mit der Waffe herumfuchtelte.

»Viertens: Chef, das kann man mir auch nicht mehr ausreden, mit keinem Geld der Welt. Nada! Niente! Also: Haut ab!« 

Aber allen Ernstes fing mein Chef dann damit an, dass ich zwar hierbleiben konnte, aber ich musste vorher das gesamte in meinem Besitz befindliche Eigentum der Agency wieder zurückzugeben. Das sah diesem Bürokratenhaufen ähnlich, alles musste seine Ordnung haben.

Also warf ich ihnen die Schallwaffe vor die Füße, zog aber sofort die Projektilwaffe aus dem Hosenbund und richtete sie auf meinen Chef.

»Dann fehlt noch ein Zeitschiff…«, begann er.

Jetzt platzte mir aber der Kragen.

»Ein Schiff? Das hatten irgendwelche kriminellen Korrektoren sabotiert und wir konnten froh sein, dass wir den Absturz überlebt hatten. Die Trümmer, die nach der Selbstzerstörung des nicht mehr flugfähigen Schiffs übriggeblieben waren und dann noch groß genug sind, um geortet zu werden, könnt ihr dann auf dem Grund eines kleinen, aber tiefen Sees – Name hab’ ich vergessen – irgendwo in Wisconsin suchen!« 

In einem Militaria-Laden hatte ich noch vor dem Winter einige Quadratmeter Tarnnetze beschafft, um das Schiff hinter dem Haus noch besser vor neugierigen Blicken verbergen zu können. Offenbar hatten die Netze und die Einhausung dafür gesorgt, dass das Schiff tatsächlich nicht erkannt werden konnte und mein Chef dachte, ich hatte es irgendwo versteckt.

Manchmal hatte mein Chef aber wohl doch seine lichten Momente und er hatte begriffen, dass hierüber mit mir nicht länger zu diskutieren war. Er murmelte etwas von »zwecklos«, hob die Schallwaffe auf, verabschiedete sich von mir und stieg mit seinem Gefolge wieder in das Schiff.

So schnell, wie es gekommen war, verschwand das Schiff auch und um den See herum herrschte wieder Ruhe.

Als ich das Badehandtuch auf der Gartenbank liegen sah, nahm ich es und wickelte mich darin ein, die Feuchtigkeit ignorierend. Es roch tatsächlich irgendwie nach Lisa und ich altes sentimentales Weichei fing an zu weinen.

Die Alkoholvorräte waren innerhalb einer Woche aufgebraucht und ich verlotterte zusehends. Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass die Agency offensichtlich Lisa hatte verschwinden lassen, um mir wahrscheinlich eins auszuwischen. Dabei schreckten sie auch nicht davor zurück, ein Zeitbeben und wohl auch ein Paradoxon zu erzeugen.

Ein paar Monate labg versank ich in tiefe Depression. Am Ende des Sommer hatte ich mich dann aber wieder soweit gefangen, dass ich in die Planungen einsteigen konnte, den jetzt der Agency bekannten Standort »Blockhaus/Nordamerika« aufzugeben, alle Spuren des vierundzwanzigsten Jahrhunderts zu beseitigen und mir ein neues Versteck für das Schiff und mich zu suchen.

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