Kapitel 3
Code Zwanzig

»Das hier ist alles nicht passiert und meine Kollegin und ich waren niemals hier.« 

Krankgeschrieben.

Ich war jetzt also erst einmal für zwei Wochen krankgeschrieben und danach zu noch weiteren zwei Wochen Innendienst verdonnert worden. Soweit ich mich zurück erinnern konnte, war ich noch nie ernsthaft verletzt worden oder krank gewesen. Agent Cassell war immer im Dienst!

Die Einsatznachbesprechung lief dann genau so, wie Lisa und ich es am Vorabend erwartet hatten. Bereits die Blicke der Korrektoren sagten »Euch kann man nicht alleine losgehen lassen! Wäre ’mal lieber jemand von uns mitgekommen! Haben wir ja schon immer gesagt!« Der Erfolg oder Misserfolg des Einsatzes stand wie befürchtet gar nicht zur Debatte, sondern die Korrektoren versuchten uns, eine fehlende Eigensicherung anzuhängen. Die Aufzeichnungen der in unserem Landfahrzeug installierten Überwachungssensoren zeigten aber eindeutig, dass der Schuss aus dem Hinterhalt kam und wir den Schützen gar nicht sehen konnten.

Lisa sah es vollkommen korrekt als versuchte Revanche für die Anhörungssitzung an, bei der ich Beisitzer gewesen war und genau dies erwähnt hatte. Es wäre wahrscheinlich klüger gewesen, hätte ich damals doch bloß den Mund gehalten.

Weil einerseits nur ich und nicht die ZP zu Schaden gekommen war und andererseits auch die ZP gerettet und damit der Einsatz erfolgreich abgeschlossen werden konnte, lief dieser Vorstoß aber ins Leere. Immerhin beschloss die Chefetage, dass ein nächster großer Einsatz wieder gemeinsam von Protektoren und Korrektoren durchgeführt werden sollte. Mir war das Ganze immer noch nicht geheuer, aber jetzt war erst einmal Innendienst angesagt – und vielleicht beruhigte sich das Verhältnis von Protektoren und Korrektoren ja bis zu diesem Einsatz wieder.

Lisa war in der Zeit meines Innendienstes zur Einarbeitung in die Einsatzvorbereitung bei den Kollektoren und Konnektoren abgeordnet worden. Ich hatte immerhin bei meinem Chef durchsetzen können, dass sie nicht zu einem der in den nächsten Tagen anstehenden Einsätze der Korrektoren eingeteilt wurde, da ich als verantwortlicher Senior Agent meine Trainee nicht alleine losziehen lassen wollte, durfte und konnte.

Der Innendienst war genau so langweilig, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es gab zwar kein Papier mehr, aber ich kannte aus dem zwanzigsten Jahrhundert den Ausdruck »langweilige Papierarbeit« – und genau das musste ich tun. Meine Aufgabe bestand darin, Einsatzdokumentationen inklusive der Protokolle von Vor- und Nachbesprechung zu beurteilen. Wenn es wenigstens nur eine höchst trockene Materie gewesen wäre, aber manche Vorbesprechungsprotokolle waren so derartig wirr und unverständlich geschrieben worden, dass es ein Wunder war, dass die dazugehörigen Einsätze überhaupt korrekt durchgeführt werden konnten. Wie sehr sehnte ich mich doch wieder nach einem Außeneinsatz.

Die Medizin des vierundzwanzigsten Jahrhunderts zeigte glücklicherweise schnell ihre Wirkung und nachdem der Stationsarzt mich wieder für Einsätze freigegeben hatte, blieb sogar nur noch eine Woche Innendienst übrig. Ich feierte meine Rückkehr in den aktiven Außendienst bei einem Abendessen mit Lisa. Auf die Frage, ob sie jetzt nicht Kollektor werden wollte, antwortete sie, dass es ihr eher »stinklangweilig« vorgekommen war und sie lieber Außeneinsätze absolvieren wollte.

»Anstatt Gangsterbossen, Hurrikanen, Krokodilen, Schusswechseln, Code fünfundddreißig und so hätte ich aber gerne lieber ›stinklangweilig‹«, entgegnete ich.

Lisa lachte.

Ich wusste aber noch nicht, wann der geeignete Zeitpunkt gekommen war, ihr zu erklären, dass ich mit ihr meine Nachfolgerin einarbeitete und ich mich dann eigentlich zur Ruhe setzen wollte. Noch war es aber nicht so weit und ich freute mich sogar, mit diesem intelligenten Mädchen zusammenarbeiten zu können.

Nachdem die Korrektoren einige kleinere Einsätze glücklicherweise erfolgreich abgeschlossen hatten, war ich wieder an der Reihe, bei der Planung eines neuen, großen Einsatzes mitzuwirken. Wieder sollte es die USA Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sein, aber dieses Mal fand der Einsatz in San Diego an der Westküste statt.

Dieser war recht groß aufgezogen, geplant waren sechs Korrektoren, davon einer als Einsatzleiter (ich hielt mich da zurück), sowie Lisa und ich als Protektoren. Seit dem Einsatz, der zu meiner Beförderung führte, gab es nur kleinere Einsätze und nicht so viele Zeitagenten waren gleichzeitig dabei. Auch zum ersten Mal nach der Anhörung war jetzt wieder ein junger Korrektor-Trainee dabei. Ich bemerkte sehr, dass Lisa und er sich immer in die Augen schauten und wollte sie bei Gelegenheit darauf ansprechen.

Eigentlich waren es sogar drei verschiedene – und voneinander unabhängige – Einsätze mit unterschiedlichen ZP. Ich empfand es als sehr mutig von der Agency, so etwas gleichzeitig durchzuziehen. Zwei unterschiedliche ZP bei einem Einsatz waren bisher das höchste der Gefühle gewesen. Die Korrektoren teilten sich in zwei Teams auf, Lisa und ich machten uns auf den Weg in unser Einsatzgebiet. Da keine genauen Ortsangaben von den Konnektoren ermittelt werden konnten, verbrachten wir mehrere Tage damit, die ZP ausfindig zu machen.

Aus den von den Kollektoren bereitgestellten Unterlagen unseres Einsatzes Yak wussten wir, dass die ZP in einen Verkehrsunfall verwickelt sein musste, aber entgegen der sonst sehr ausführlichen Beschreibung des T-Null gab es dieses Mal nur recht grobe Angaben. Wir beschlossen daher, der ZP in einem ausreichenden Abstand selbst zu folgen, was wegen des regnerischen Wetters sich als nicht so einfach herausstellte. Um den Kontakt zur ZP nicht vollkommen zu verlieren, hatten wir uns in einen Kommunikationskanal der örtlichen Behörden eingeklinkt.

In den Einsatzunterlagen war ausdrücklich betont worden, nicht vor dem Unfall Kontakt mit der ZP aufzunehmen oder sie mit unseren Landfahrzeug auszubremsen oder zu blockieren. Im Gegenteil, es sollte der Kontakt mit der ZP auf das Notwendigste beschränkt werden. Mehrmals gab es einen rot markierten Hinweis, die Eingriffe in die Zeitabläufe auf ein Minimum zu beschränken.

»Wenn die Kollektoren das so betonen, wird es wohl wichtig sein«, meinte Lisa.

Noch vor den Rettungsdiensten kamen wir am Unfallort an. Die ZP war mit ihrem Landfahrzeug auf regennasser Straße ins Schleudern geraten und gegen eine Betonmauer geprallt. Aus dem Fahrzeug stieg schon leichter Rauch auf, die ZP hatte es gar nicht bemerkt, da sie offenbar durch den Aufprall ohnmächtig geworden war. Lisa und ich brachten mit vereinten Kräften die klemmende Fahrertür auf und konnten so die ZP aus dem Fahrzeug befreien. Das Fahrzeug stand kurz darauf sogar trotz des Regens teilweise in Flammen. Nach der Übergabe der ZP an ein Sanitäterteam und unserem heimlichen Davonschleichen, das durch das große Durcheinander begünstigt wurde, war der Einsatz Yak zumindest für uns erfolgreich beendet worden.

Ich hatte mich mit Lisa in einem Motel einquartiert, da die Korrektoren ihren Einsatz noch nicht abgeschlossen hatten, ich aber nicht mit ihnen zusammen im Zeitschiff nächtigen wollte. Lisa bestand aber in dieser ihr noch sehr fremden Umgebung auf ein gemeinsames Zimmer; zumindest war dieses aber glücklicherweise mit den üblichen getrennten Betten ausgestattet. Auf einem Zeitschiff lebten Männlein und (die wenigen) Weiblein ja auch dicht an dicht – und wir waren eigentlich erwachsene Menschen. Ich als einem Trainee zugeordneter Agent musste mich sowieso mit irgendwelchen sexuellen Annäherungen ganz zurückhalten, außerdem waren Rothaarige eigentlich gar nicht mein Typ.

Nicht ganz uneigennützig hatte ich dieses Motel gewählt, da sich direkt nebenan ein richtig klassisches »Diner«-Restaurant befand. Zusammen mit Lisa wollte ich dort eine alte Protektor-Tradition weiterführen, nämlich das »Einsatzendeessen«. Das Mädchen war natürlich sofort dafür.

»Ein kleiner Ausgleich zu diesem komischen ›nährstoffoptimierten‹ faden Fraß in der Zentrale schadet nie!«, meinte sie.

Nachdem wir unser Zimmer bezogen hatten, machten wir uns gleich auf den Weg zum Diner.

Das Essen hielt auch das, was das Äußere des Restaurants versprach, und so lehnten wir nach einiger Zeit pappsatt auf unseren Stühlen zurück. Ein Einsatz war von uns Protektoren erfolgreich abgeschlossen worden, dabei hatte sich mein Trainee wieder einmal recht tapfer geschlagen, und das Einsatzendeessen war ebenso erfolgreich gewesen.

In Gedanken versunken und an die neuen Bücher denkend, die ich mir – trotz Lisas generellem Unverständnis – wie bei jedem Einsatz gekauft hatte, legte ich mit meinen letzten Pommes Frites geometrische Muster. Plötzlich traf mich etwas Weiches am Kopf, erschrocken ließ ich meine Gabel fallen und blickte zu Lisa auf. Sie war gerade damit beschäftigt, eine weitere Papierserviette aus dem auf dem Tisch stehenden Spender zu ziehen und zu einem Bällchen zu knüllen. Lisa zeigte auf einen Bildschirm, der an einer Wand hing.

»Nachrichten!«, stieß sie hervor.

Ich wandte mich dem Bildschirm zu. Am unteren Bildrand war in knallroter Schrift BREAKING NEWS eingeblendet, da es wohl irgendeine Schießerei gab – und das sogar hier im Ort ganz in der Nähe. Tatsächlich wurde bald darauf eine Luftaufnahme gezeigt, auf der das Motel und der Diner eindeutig zu erkennen waren. Jetzt konnte ich die vielen unterschiedlichen Sirenen auch deutlich wahrnehmen. Kurz darauf konnte ich auch aus dem Augenwinkel zwei Polizeifahrzeuge erkennen, die hier vor dem Diner mit hoher Geschwindigkeit vorbeifuhren. Dann wechselte das Bild auf einen Reporter vor einer Polizeiabsperrung und die Kamera zoomte auf ein Straßenschild und eine Betonmauer, die mehrere Löcher aufwiesen – sehr bekannt aussehende Löcher.

»Ist das nicht…?«, begann Lisa.

Ich hob eine Hand und bestätigte: »Ja, das ist!« 

Ich hatte schon viele schon viele Einschusslöcher von Schallwaffen gesehen, und das waren eindeutig welche. Hatte dort jemand von uns – und es konnte nur ein Zeitagent sein – entgegen jeglicher Vorschriften eine Schallwaffe bei einem Einsatz sowohl mitgeführt als auch abgefeuert? Lisa und ich saßen hier im Diner, also konnte es nur ein Korrektor sein. Gerade hatten wir noch einen erfolgreichen Einsatz gefeiert, und nun hatten wir hier offensichtlich einen amoklaufenden Korrektor, der auch noch von der örtlichen Polizei in die Mangel genommen werden drohte.

Hastig holte ich ein paar Geldscheine aus meiner Jackentasche und legte sie auf den Tisch. Im Hinausgehen versuchte ich über meinen CR den Einsatzleiter der Korrektoren zu erreichen.

»Was zum Henker ist bei euch los?!?«, brüllte ich auf dem Weg zum Motel in den CR, als sich endlich jemand meldete.

Ich ließ mich gar nicht auf Diskussionen ein, sondern bestimmte: »Wir übernehmen ab hier! Offensichtlich muss hier ein Protektor ausnahmsweise ’mal einen Korrektor vor sich selbst beschützen!« 

Mit schnellen Schritten gingen wir zum Motelzimmer, stopften alles in unsere Reisetaschen und luden diese in unser Fahrzeug. Nachdem ich unseren Zimmerschlüssel an der Rezeption abgegeben hatte (und sich der Motelinhaber über die zuviel gezahlten Tage freute, die ich ihm erlassen hatte), hatte Lisa schon den genauen Standort des Korrektors ermitteln können. Die anderen Zeitagenten waren immer noch zu weit von uns entfernt, und so waren Lisa und ich die ersten von uns vor Ort.

Die Polizeiabsperrung konnten wir dank unser »echten« Dienstausweise leicht passieren und niemand stellte zum Glück irgendwelche unangenehmen Fragen, wer von welcher Staatsorganisation wir nun genau waren.

Der Korrektor war in einem leerstehenden Bürogebäude in die Enge getrieben worden und zwei Polizisten warteten dort schon auf uns. Ich hielt mich aber noch etwas abseits, um noch einmal Kontakt mit den anderen Korrektoren aufzunehmen.

Sie waren aber immer noch zu weit entfernt und so ging ich mit vorsichtigen Schritten langsam auf die Polizisten zu.

Ich hatten den Polizisten zwar einen »offiziellen« Dienstausweis gezeigt, der auf meinen für diesen Einsatz verwendeten Tarnnamen lautete, aber ich befürchtete, mit dem Tarnnamen bei diesem verwirrten Korrektor nicht weiterzukommen. Mein richtiger Name dürfte aber in der Agency durchaus überall bekannt sein, so dass der Korrektor vielleicht auf »Agent Cassell« reagieren würde. Hier halfen jetzt keine Tarnidentitäten weiter, sondern spezielle Situationen erforderten auch speziellen Klartext. Ich musste es aber so hindrehen, es so aussehen zu lassen, als dass ich den Korrektor nicht direkt ansprach oder etwas Ähnliches. Hier war jetzt Improvisationstalent gefragt.

Also gut. mehr konnte sowieso nicht schiefgehen und die anderen Korrektoren meldeten sich immer noch nicht.

In diesem Moment feuerte der Korrektor mit seiner Schallwaffe in unsere Richtung und mit viel Getöse und noch mehr Staub bildete sich eines der charakteristischen runden Einschusslöcher in einer Betonsäule direkt neben mir. Jetzt wurde mir es aber langsam zu bunt.

Ich hob die Hand vor den Mund und zischte direkt in meinen CR: »Könntet ihr, verdammt noch mal, euren völlig durchgeknallten Kollegen endlich stoppen?« 

Der Korrektor blickte zu mir und ich richtete mich leicht auf.

»Ich bin Special Agent Cassell! Waffe runter!«, rief ich ihm zu.

Ich war in der Agency kein Unbekannter und er kannte wohl zumindest meinen Namen. Tarnnamen halfen hier jetzt sowieso nicht weiter.

Dann geschah es, und ich nahm alles wie in Zeitlupe wahr.

Er feuerte erneut, traf dabei einen der Polizisten am Arm und dieser drehte sich stöhnend zur Seite, bevor er zu Boden sank. Nur ein paar Sekundenbruchteile später fiel die Kleidung und die Schallwaffe zu Boden, da er verschwunden war, sich einfach aufgelöst hatte. Lisa strauchelte, stieß einen schrillen Schrei aus und starrte ihre Füße an. Ihre Schuhe waren ebenfalls verschwunden und sie stand nur noch in Strümpfen auf dem schmutzigen Betonboden.

Ich wolltte jetzt diesem nichtsnutzigen Korrektor eigentlich noch ein wenig negatives soziales Feedback zur Benutzung einer Schallwaffe in der Vergangenheit geben, wie mein Chef mir das empfohlen hatte. Aber wenn ich dabei zu handfest vorging, dann musste ich mit von ihm wieder anhören, dass Protektoren niemals nie nicht gewalttätig waren. Zum Glück hatte sich der Korrektor aber selbst aufgelöst.

Das Schlimmste folgte aber kurz darauf und damit war mir klar, dass wir es hier mit etwas ganz Ernstem zu tun hatten, nämlich der Boden erzitterte leicht unter meinen Füßen. Auch Lisa hatte es gespürt und konnte es sofort einordnen.

»Z–Zeitbeben?«, fragte sie leise stotternd.

Ich nickte und führte wieder die Hand vor den Mund.

»Code Zwanzig! Code Zwanzig! Beben und Selbstauflösung!«, rief ich in den CR. »Einsatzabbruch! Einsatzabbruch!« 

Verdammt nochmal, was hatten die Korrektoren da angerichtet? Ich konnte jetzt nur hoffen, dass wir alle lebend zur Zentrale zurückkehren konnten – falls die Zentrale überhaupt noch existierte.

Ich bemerkte, dass Lisa immer blasser wurde. Mich traf es nicht so hart, denn leider – oder glücklicherweise – fehlte mir irgendein Gen oder so etwas, um tatsächlich Furcht zu empfinden. Wahrscheinlich war ich deswegen auch der dienstälteste Protektor, der noch regelmäßig Außeneinsätze absolvierte.

Ein Code Zwanzig bedeutete, dass etwas bei einem Einsatz so gewaltig danebengegangen war, dass es unmittelbar starke Auswirkungen auf die Zukunft hatte. Gerade eben hatten sich der Korrektor und auch Lisas Schuhe einfach aufgelöst, sie hatten also niemals existiert, da der angeschossene Polizist mit diesen irgendeine Verbindung in die Zukunft hatte, die nun aufgehoben worden war. All dies war schon eine der stärksten Ausprägungen eines Raum-Zeit-Paradoxons, was sich auch durch ein »Zeitbeben« bemerkbar machte. Zwar gab es immer wieder kleinere Unstimmigkeiten, die beim Ändern der Vergangenheit dann in der Zukunft auftraten – die Konnektoren waren ja auch nicht unfehlbar –, aber so etwas hatte ich in meiner gesamten Zeit bei der Agency noch nicht erlebt. Nun mussten wir schnellstmöglich in die Neutrale zurückkehren, damit wir vor weiteren Änderungen geschützt werden konnten.

Alles in allem hatte der durchgeknalle Korrektor das gesamte Team von zehn Zeitagenten in große Gefahr gebracht, wenn nicht auch noch die Agency oder Schlimmeres. Die Meldung eines Code Zwanzig würde auf jeden Fall die Einberufung eines Anhörungsausschusses nach sich ziehen, auch die für diesen Einsatz zuständigen Retroreflektoren waren bestimmt nicht erfreut über den Verlauf, den der Einsatz genommen hatte, Lisas und meine Tätigkeiten einmal ausgenommen. Der oder die Elektoren, die diesen Korrektor für diesen Einsatz ausgewählt hatten, und auch der den Einsatz leitende Korrektor mussten dann ebenfalls Rede und Antwort stehen, warum sie eine mögliche psychische Instabilität nicht erkannt hatten.

Jetzt musste ich die Initiative ergreifen, und so begab ich mich als Erstes zu dem Polizisten, der durch die Schallwaffe getroffen worden war. Zu meiner großen Erleichterung hatte seine Schutzkleidung den Großteil der Schussenergie abgefangen und er hatte »nur« eine große und recht stark blutende Fleischwunde am Arm. Ich zeigte dem anderen Polizisten meinen »Dienstausweis« und sprach ihm ins Gewissen.

»Das hier ist alles nicht passiert und meine Kollegin und ich waren niemals hier, verstanden?« 

Der Polizist nickte schwach.

»Der Schütze konnte von uns entwaffnet, festgenommen und abgeführt werden, verstanden?« 

Wieder gab es ein kurzes Nicken.

»Wir ziehen uns jetzt durch den Hinterausgang zurück und dann können Sie Hilfe für Ihren Kollegen anfordern, verstanden?« 

Er nickte erneut.

Ich wies Lisa an, die Kleidung und die Schallwaffe des Korrektors einzusammeln und mitzunehmen. Sie hatte sich glücklicherweise wieder soweit gefangen, dass sie meinen Anweisungen widerstandslos folgte. Der Polizist hatte wohl schon mit irgendwelchen geheimen Regierungsorganisationen zu tun gehabt und stellte – zu meiner großen Erleichterung – ebenfalls keine unangenehmen Fragen.

Um nicht auf Strümpfen bis zu unserem neben dem Gebäudekomplex geparkten Fahrzeug gehen zu müssen, riet ich Lisa, sich die Schuhe des Korrektors anzuziehen. Die Schuhe hatten sich im Gegensatz zu Lisas Schuhen nicht aufgelöst, also betraf es wohl nur kleinere Größen oder nur Damenschuhe oder nur Schuhe eines ganz bestimmten Herstellers oder was auch immer. Ratlosigkeit machte sich in mir breit. Mit diesen etwas zu großen Schuhen humpelte Lisa zwar leicht, musste aber nicht ständig Slalom um die Scherben laufen, die auf dem Boden verstreut waren. So kamen wir dann doch recht schnell voran, und ohne noch einem Polizisten zu begegnen, konnten wir uns unbemerkt auf dem Weg zum Zeitschiff machen.

Lisas war noch blasser geworden, dass ihre Gesichtsfarbe schon fast ins Weiße ging. Noch immer hatte sie kein Wort gesagt und ich befürchtete schon, dass sie ihren gerade erst angetretenen Dienst bei der Agency wieder kündigen wollte, sobald wir in der Zentrale angekommen waren.

Diverse Verkehrsregeln brechend, aber nicht verfolgt oder gestoppt von irgendwelchen Staatsorganen kamen wir recht zügig beim Zeitschiff an. Mit dem CR veranlasste ich das Schiff dazu, eine Notöffnung des Zugangs durchzuführen und einen Alarmstart vorzubereiten. Kurz darauf öffneten sich die Türen zum Fahrzeughangar und zur Passagierkabine ohne Anforderung weiterer Zugangscodes. Genau für solche Fälle war diese Funktion gedacht, wobei ich aber gedacht hatte, diese niemals einsetzen zu müssen.

Eine Regel der Agency war, keine Fahrzeuge zurückzulassen, da diese zwar jeweils epochetypische Modelle waren, dennoch aber einigen technischen Modifikationen unterzogen wurden. Ich rangierte daher unser Fahrzeug auf seinen Stellplatz im Schiff und zurrte es am Boden fest, damit es in der Schwerelosigkeit oder bei plötzlichen Manövern des Schiffs nicht umherschweben und sich oder etwas anderes beschädigen konnte.

Zwanzig Minuten später trudelten noch die letzten beiden Zeitagenten beim Schiff ein, und so konnte ich dem Piloten das Zeichen zum Start geben. Als der Pilot das Schiff aus seinem Versteck heraus manövriert hatte und alle ihre Plätze eingenommen hatten, führte er einem Alarmstart mit maximaler Geschwindigkeit durch. Wir wurden trotz der Gravitationsdämpfer leicht in unsere Sitze gepresst und Lisa wurde noch ein paar Nuancen blasser im Gesicht. Die Zentrale hatte uns eine Vorrangroute auf dem schnellsten Weg in die Neutrale zugewiesen und so konnte ich nur hoffen, dass auf dem Weg dorthin sich nicht noch weitere Gegenstände auflösten.

Seit der Gründung der Agency hatte es bisher nur einen Code Zwanzig gegeben, den Lisa im Büro des Elektors auch gleich entdeckt hatte. Der Einsatz Waran war zumindest auf Seiten der Korrektoren wieder einmal so gründlich danebengegangen, dass die Retroreflektoren Wochen, wenn nicht gar Monate brauchen würden, um alles wieder geradegezogen zu haben und die nächsten Einsätze planen zu können. Die ganze Aktion war nicht nur ein Griff ins Klo, sondern sogar ein Griff ins Klo mit Umrühren, wie mein ehemaliger Chef immer zu sagen pflegte.

Eigentlich gab es genügend Tests bei der Neueinstellung von Zeitagenten, so dass psychisch nicht ganz astreine Kandidaten gleich zu Anfang aussortiert werden konnten. Vielleicht waren auch die Auswirkungen der Zeitreisen mit dem Durchrühren aller Quanten von menschlichen Gehirnen einfach noch zu wenig erforscht – und vielleicht drehe ich auch eines Tages bei einem Einsatz ebenfalls durch, ich war schließlich der Rekordhalter mit den meisten Außeneinsätzen in der Vergangenheit. Ich kratzte ein wenig an meiner Beinwunde, um mich abzulenken.

Das Verhalten des Korrektors war dann auf jeden Fall Gegenstand einer Anhörung. Da die nächsten Wochen sowieso keine Einsätze stattfinden konnten, bedeutete dies endlose Sitzungen, denen ich mich wahrscheinlich nicht entziehen konnte. Eigentlich hatte mich so auf meine Bücher gefreut.

Der Flug verlief dann vollkommen unspektakulär und ich spürte förmlich das kollektive Aufatmen aller Passagiere, als das Schiff fast unmerklich erzitterte und endlich in die Neutrale hineinflog. Immer noch hatte niemand nicht mehr als nur das Nötigste gesprochen, auch als wir nach der Landung das Schiff verließen und uns auf den Weg zur Quarantänestation machten. In der Zentrale herrschte ebenfalls eine gedrückte Stimmung, ganz anders als bei meiner Rückkehr nach dem Einsatz, in dessen Folge ich befördert worden war. Das Zeitbeben war nämlich so stark gewesen, dass es in der Neutralen und in der Zentrale spürbar gewesen war und sogar dort Schuhe verschwunden waren. Auch das erneute Ausrufen eines Code Zwanzig hatte sich in Windeseile herumgesprochen, und die Agency befand sich der allgemeinen Stimmungslage nach in der größten Krise seit ihrer Gründung. Die Stimmung war noch tiefer gesunken als nach dem Einsatz, bei dem der Trainee gestorben war.

Ich hatte schon den Verdacht, dass Lisa jetzt die Agency im Allgemeinen und mich im Speziellen total verachtete, vor allem auch, weil ich sie in diese Situation hineingezogen hatte. (Nicht ganz koscher war es aber schon, dass nur ein Senior Agent zusammen mit einem Trainee alleine in einer kritischen Situation vor Ort eingegriffen und nicht auf Verstärkung gewartet hatte – hier konnte mir in der Anhörung noch eine Verfehlung vorgeworfen werden. Ich hoffte nur, dass sich die Korrektoren nicht hierauf einschossen, um vom Versagen in ihren eigene Reihen ablenken zu können.) Aber eigentlich war es ja Lisas eigene Entscheidung gewesen, ein Zeitagent zu werden, und das war eben nicht ganz risikolos.

Erst als wir im Vorraum zu ihrem Quartierbereich ankamen und wir dann alleine waren, bekam sie feuchte Augen und atmete tief durch.

»Darf ich jetzt weinen?«, fragte sie leise und schaute mich mit immer feuchter werdenden Augen an.

Ich nahm sie in den Arm und sie weinte sich an meiner Schulter aus. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Sie hatte sich tatsächlich so lange zurückgehalten, bis wir wieder zurück in der Zentrale und dann alleine waren. Den direkten Körperkontakt empfand ich gar nicht einmal als so unangenehm.

»Er hat sich einfach so aufgelöst«, schluchzte sie dann. »Einfach weg und wie in einem schlechten Horrorfilm fielen seine Klamotten zu Boden. Und dann waren auch meine Schuhe weg. Einfach weg…« 

»Mädchen«, beruhigte ich sie, »das war ja auch ein außergewöhnlicher Vorfall, der so in der Agency bisher nur ein Mal vorgekommen ist und der hoffentlich auch nie wieder vorkommen wird!« 

Sie löste sich von mir, wischte sich ihre Tränen ausgerechnet in meinem Ärmel ab, gab mir einen gehauchten Kuss auf die Wange, öffnete die Tür und verschwand in ihrem Quartier. Der Kuss ließ mich etwas ratlos zurück. Noch waren wir keine gleichgestellten Zeitagenten, sondern ich war immer noch ihr Vorgesetzter.

Am übernächsten Tag fand dann der erste Teil der Anhörung statt, erst waren die Korrektoren an der Reihe, Lisa und ich hatten Termine am Nachmittag zugeteilt bekommen. Zwanzig Minuten vor ihrem Termin erwartete ich sie im Vorraum zu ihrem Quartierbereich.

Sie kam aus der Tür, schaute mich überrascht an und fragte: »Du kommst mit?« 

»Selbstverständlich! Noch bin ich dein als Trainee zugeordneter Senior Agent. Ich kann dich doch auch nicht alleine da reingehen lassen; außerdem ist es Vorschrift.« 

Sie hatte ihr Lächeln wiedergefunden.

»Danke!«, sagte sie und streichelte meinen Arm.

»Und ein kluger Mensch hat ’mal gesagt: ›Was ist noch besser, als aus den eigenen Fehlern zu lernen? Aus den Fehlern anderer lernen!‹« 

Als wir gemeinsam den Besprechungsraum betraten, in dem die Anhörung stattfand, wurde ich gleich vom Leitenden Korrektor rüde angegangen, was ich denn dort zu suchen hatte und dass dies doch die Befragung von Trainee Agent O’Donoghue war. Vollkommen ruhig konterte ich mit dem Abschnitt aus dem Agency-Richtlinienwerk, der besagte, dass bei Befragungen von Trainees grundsätzlich der zugeordnete Senior Agent anwesend zu sein hatte. Der Anhörungsleiter konnte nur sehr mühsam ein breites Lächeln unterdrücken. Der erste Punkt ging also schon einmal an Lisa und mich – und das war doch ein guter Start in die Befragung. Ich hatte den Leitenden Korrektor wohl um seinen Plan gebracht, die kleine rothaarige Protektorin so richtig in die Mangel zu nehmen und fertigzumachen.

Ein weiterer Teil seiner Strategie war wohl gewesen, uns beiden, da wir die ersten Zeitagenten am Ort des Geschehens gewesen waren, den gesamten Code Zwanzig, das Zeitbeben und das Verschwinden des Korrektors und diverser Gegenstände in die Schuhe schieben zu können. Auch der den Einsatz bewertende Inspektor kam zu dem Schluss, dass der gesamte Einsatz als gescheitert angesehen werden musste. Lisas und mein Einsatz Yak war aber erfolgreich gewesen, was er merkwürdigerweise vollkommen unter den Tisch fallen ließ. Hier ging irgendetwas vor, was ich noch nicht richtig einordnen konnte, weil es weit über die übliche Rivalität zwischen Protektoren und Korrektoren hinauszugehen schien.

Die Argumente der Korrektoren kamen mir aber so konstruiert und lächerlich vor, dass ich fast laut loslachen musste. Zum Glück erinnerte ich mich aber an Lisas Blufftattik und stellte mir tatsächlich einen kleinen Hund mit einer verbundenen Pfote vor. Schon tat mir das Tier leid, das mich mit hängenden Ohren und großen Augen anschaute.

Teilweise kam mir auch diese Anhörung wie aus dem Gerichtsthriller abgeschrieben vor und ich war über meine Entscheidung froh, Lisa das Buch zum Lesen gegeben zu haben. Sie schien dies auch tatsächlich getan zu haben, den einige ihrer Reaktionen auf bestimmte Fragen kamen mir sehr bekannt vor.

Aber auch so war Lisa nicht aus dem Konzept zu bringen. Fangfragen wich sie geschickt aus, auf wiederholte, aber nur in anderem Wortlaut gestellte, Fragen antwortete sie »das hatte ich Ihnen vorhin schon beantwortet« und generell machte sie auf mich auch nicht den Eindruck, als ob sie gleich in Tränen ausbrach. Alles lief ihrerseits nur auf der sachlichen Ebene ab und ich musste kein einziges Mal korrigierend eingreifen. Lediglich an zwei Stellen lieferte ich noch kurze Ergänzungen nach. So hatten wir sogar zum Schluss alle Chefs auf unserer Seite – so wie es schien, auch die der Korrektoren.

Ich hatte eigentlich erwartet, dass die Korrektoren ihre Strategie änderten, als sie kein Durchkommen bei uns und bei den Chefs erreichten. Sie hatten wohl schon ihr ganzes Pulver verschossen und lieferten nur noch »Nullargumente«, wie Lisa es später bezeichnete. Die einzige Erklärung war wohl aus Dummheit resultierende Absicht. Wieder musste ich an den kleinen Hund denken.

Nach dem Abschluss der Anhörung entschied die Chefetage aber nach langer Beratung, dass der Fehler ausschließlich auf Seiten der Korrektoren zu sehen war. Wir beiden Protektoren wurden von jeglichen Verdachtsmomenten freigesprochen, der Einsatzleiter aber bekam eine noch festzulegende Disziplinarmaßnahme aufgebrummt und wurde sogar degradiert. Nicht sehr gut lief es auch für die anderen am Einsatz beteiligten Korrektoren, die ebenfalls diverse Strafen abbekamen. Auch der für die Personalauswahl dieses Einsatzes zuständige Elektor bekam sein Fett weg, denn der sich selbst aufgelöste Korrektor hatte bei seiner letzten psychologischen Re-Evaluierung ein teilweise negatives Gutachten bekommen – hatte ich es doch geahnt – und hätte niemals gleich sofort danach zu einem Einsatz ausgewählt werden dürfen.

Wegen meiner Schussverletzung blickte ich daher meiner nächsten Re-Evaluierung, die in etwa einem halben Jahr durchgeführt werden sollte, mit etwas Sorge entgegen. Allerdings lebe ich nicht ständig in der Zentrale mit verminderter Gravitation, sondern stehe mit beiden Füßen auf der Erde. Daher ist nach Lisas Ansicht das Gehirn stabiler gelagert und hat mehr Realitätskontakt. Ich nahm aber nicht an, dass der Agency-Psychologe sich mit dieser Argumentation zufriedengab.

Ein paar Tage später – es herrschte immer noch Außeneinsatzverbot – wurde ich zum Leitenden Protektor zitiert.

Auf dem Weg dorthin traf ich Lisa, die ebenfalls zum Leitenden Protektor beordert worden war.

»Scheint wohl etwas Wichtiges zu sein«, stellte sie fest. »Danke für das Buch, ich gebe es dir nachher zurück.« 

Die Vorzimmerdame ließ uns dann zum Chef hinein. Der Chef machte ein furchtbar feierliches Gesicht und überreichte ihr eine Urkunde.

»Herzlichen Glückwunsch und willkommen an Bord, Junior Agent O’Donoghue!«, sagte er und gab ihr die Hand.

Er ergänzte: »Dank Ihrer guten Leistungen haben wir Ihre Traineephase vorzeitig für beendet erklärt und Sie damit ab sofort in den aktiven Dienst im Rang eines Junior Agents übernommen.« 

Sie wurde rot (also endlich einmal nicht mehr blass) und stammelte etwas von »Dankeschön«.

»Leider kann ich Sie nicht gleich auf einen Einsatz schicken«, fuhr der Chef fort, »aber wenn wir hier den ganzen Schlamassel aufgeräumt haben, sind Sie gleich als Erste mit dabei. Versprochen!« 

Auch ich gab ihr die Hand.

»Gute Arbeit, Lisa!« 

Schon wieder mischte sich der Chef ein.

»Natürlich bleiben Sie weiterhin Agent Cassell als festen Partner zugeordnet.« 

»Natürlich«, meinte ich.

In der Kabinenbahn zurück zu unseren Quartieren erläuterte ich ihr, dass es nun kein Zurück mehr gab, denn die Agency hatte viel in ihre Ausbildung investiert.

»Einmal Zeitagent, immer Zeitagent! Einmal in der Zentrale wohnend, immer in der Zentrale wohnend!« 

»Das ist mir bewusst«, sagte sie.

Insgeheim war ich froh, eine verlässliche Partnerin bekommen zu haben.

Wieder einmal wurde von der Chefetage eine längere Einsatzpause angeordnet, bis die durch den Code Zwanzig geänderten Zeitläufe soweit analysiert worden waren, so dass wieder an die Planung von neuen Einsätzen überhaupt zu denken war. Trotz Lisas Übernahme in den aktiven Dienst musste sie nun ihrer Meinung nach »in der Zentrale sinnlos herumsitzen«, was sie mehrere Tage lang mit einer Art Weltuntergangsgesicht herumlaufen ließ.

Die Zeit nutzte ich, um ein wenig mein über die Jahre in der Agency aufgebautes Informantennetzwerk anzuzapfen, damit ich herausbekam, was die Korrektoren nun eigentlich vorhatten. Lisa ging mir größtenteils aus dem Weg, was mir ganz recht war. So konnte sie keine dummen Fragen stellen und ihrem Freund nicht verraten, dass ich bei den Korrektoren herumschnüffelte. Ich konnte so ungestört meinen Recherchen nachgehen und kam zu dem Ergebnis, dass die Korrektoren wohl die Agency übernehmen und »ihr Ding durchziehen wollten«, wie es ein befreundeter Konnektor ausgedrückt hatte. Sie hielten sich ja schon immer für etwas Besseres und wollten es zwar schon immer, aber noch nie gab es so konkrete Anzeichen wie zur Zeit. Ein anderer Zeitagent hatte mir gegenüber sogar das Wort »Putsch« in den Mund genommen.

Für mich war es nicht gerade das, was ich unter einer Verschwörungstheorie verstand, aber es war das Ergebnis einer groben Lageeinschätzung unter Interpolierung vieler Unbekannter. Die Gefahr schien aber real.

Der Code Zwanzig und dessen Folgen hatten die Agency in ihren Fundamenten erschüttert und es gab eine merkwürdige Stimmung in der Zentrale. Korrektoren und Protektoren gingen sich noch mehr aus dem Weg, als sie es ohnehin schon taten. Die gelöste Stimmung, die noch vor einiger Zeit nach den vielen erfolgreich absolvierten Einsätzen herrschte, war dahin. Lisa bekam sogar ihre »Romeo-und-Julia-Aktion« mit dem Korrektor-Trainee vom Chef höchstpersönlich untersagt und lief daraufhin tagelang mit einer Art »Weltuntergangsgesicht« herum.

Nach ein paar Tagen bekam ich endlich wieder einmal einen kleinen Einsatz mit Lisa als Partner zugeteilt. Wieder aber waren nur sie und ich am Einsatz beteiligt, wobei ich es aber aufgegeben hatte, meinen Chef daran zu erinnern, dass dieses Vorgehen nur die Kluft zwischen Korrektoren und Protektoren weiter vertiefte. Eine sichtlich missmutige Lisa erwartete mich im Besprechungsraum, offenbar hatte sie das Kontaktverbot zu ihrem Korrektor-Trainee sehr persönlich genommen. Auf eine dauerhaft bockige Partnerin konnte ich aber eigentlich verzichten, und ich gab ihr zu verstehen, dass ein derartiges Verhalten eines vollwertigen Junior Agents nicht würdig war.

Der Einsatz namens Adler – das Alphabet begann für die Einsatznamen wieder von vorne – selbst war irgendein Kleinkram im Jahr 2015, den es schnell zu bereinigen galt und der in meinen Zuständigkeitsbereich fiel. Ich war froh, wenigstens für ein paar Tage aus der Zentrale herauszukommen, auch um der eisigen Stimmung entfliehen zu können.

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