Kapitel 2
Gangsterboss

»Nur weil du kein Korrektor bist, heißt das noch lange nicht, dass du nicht auch in ethische Konflikte geraten kannst.« 

Nachdem die Untersuchung des missglückten Einsatzes der Korrektoren abgeschlossen werden konnte, hatten wir endlich auch die Freigabe für unseren Einsatz im Jahr 2010 bekommen. Ich hatte meinen Chef zwar davor gewarnt, die Korrektoren nicht gleich wieder zu brüskieren, indem ein Einsatz der Protektoren, noch dazu mit mir, dem zu ehrlichen Beisitzer, Vorrang erhalten hatte, aber er stellte sich stur und ich beschloss, es bei dieser einen Warnung zu belassen. Er sollte sich aber hinterher nicht beschweren. Ich wandte mich daher der Einsatzvorbereitung zu.

Die Chefetage hatte beschlossen, dass eine Einsatznachbesprechung erst dann stattfinden sollte, wenn Lisa ihren zweiten Einsatz absolviert hatte, und so gingen wir gleich zur Einsatzvorbesprechung für den nächsten Einsatz über. Am Vorabend war ich mit Lisa den Einsatzplan schon einmal durchgegangen. Dieses Mal gab es gleich zwei ZP, die zu retten waren, einen Mann und eine Frau. Er hatte seine Arbeitsstelle verloren und sie war fast gleichzeitig schwanger geworden. Beide waren in einer sehr starken finanziellen Schieflage und sollten nach den Angaben des Konnektors kurz nach T-Null auch noch obdachlos werden. T-Null selbst wurde vom Konnektor als den Zeitpunkt festgelegt, am dem sich die beiden ZP gemeinsam von einer Brücke in einen Fluss stürzen sollten – und dies galt es zu verhindern. Für diesen Einsatz bekamen wir außerdem kein tauchfähiges, sondern ein normales kleines Zeitschiff, da wir ausschließlich an Land operieren sollten.

»Einsatzname: Qualle, T-Null: im Herbst 2010, Ort: eine Brücke in Minden in Deutschland«, fasste ich zusammen.

»Ob ich beim ersten Mal auch gleich zwei ZP schaffe?«, fragte Lisa mit einem skeptischen Unterton in ihrer Stimme.

»Ich glaube, du schaffst es; ich bin da recht zuversichtlich.« 

Vor der eigentlichen Vorbesprechung am nächsten Morgen nahm ich meinen Chef zur Seite und versuchte ihm klarzumachen, dass ein erneuter Einsatz ausschließlich mit Lisa und mir die Spannungen zwischen Protektoren und Korrektoren weiter erhöhen könnten. Er aber stellte ich stur und wir – alleine – sollten den Einsatz planmäßig durchführen. Mit »Agent Cassell: Diskussion Ende!« beendete er das Gespräch.

Es war ja nun nicht so, als ob ich ihn nicht gewarnt hätte, falls doch etwas passierte. Ich wusste nur nicht, warum ich immer wieder versuchte, bei meinem Chef etwas ausrichten zu wollen, prallte doch so etwas immer teflonartig an ihm ab.

In der Besprechung wurden uns dann noch weitere Details mitgeteilt, die mich doch etwas verwunderten, da unsere Tarnidentitäten für diesen Einsatz primär auf Lisa ausgerichtet waren – ausgerechnet auf die Nachwuchsagentin. Wir sollten zwei Mitarbeiter einer auf Erbangelegenheiten spezialisierten irischen Anwaltskanzlei namens Frank und Nina darstellen.

»Nina?«, fragte Lisa.

»Nina, gewöhne dich daran, mit einem Tarnnamen angesprochen zu werden. Habt ihr das nicht in der Ausbildung mitgeteilt bekommen?« 

Sie hatten tatsächlich vor, Lisas Herkunft und Aussehen dafür zu nutzen, um die ganze Geschichte glaubwürdiger gestalten zu können. Ob und wie dies dann schlussendlich funktionierte, sollte dieser Einsatz zeigen. Der Papierform nach hatte Lisa in der Schule erfolgreich in einer Theatergruppe gespielt und auch teilweise öffentlich aufgetreten. Eine irische Detektivin oder Ähnliches spielen zu müssen, schien also nach Ansicht der Chefetage im Bereich des Möglichen zu liegen. Jetzt musste sich aber erst noch herausstellen, wie gut ihre Deutschkenntnisse wirklich waren, aber zugute kam ihr – und mir auch – dabei unsere starken englisch-irischen Akzente. Ich konnte nur hoffen, dass dies die Glaubwürdigkeit unser Tarnidentitäten unterstützen würde. Einen irischen Detektiv darstellen zu müssen, empfand zumindest ich als schöne Herausforderung.

Um die ZP nicht gleich wieder mittellos dastehen zu lassen, wollte die Agency das ZP-Paar zumindest soweit unterstützen, bis es wieder auf eigenen finanziellen Beinen stehen konnte. Lisa gab zu meiner Überraschung zu bedenken, dass das Ganze möglichst »geldwäschekonform« abgewickelt werden musste, damit Staat und Bank die Gelder nicht gleich wieder einzogen.

»Da sind Sie selbst darauf gekommen, Agent O’Donoghue?«, fragte mein Chef.

Lisa wurde rot und stammelte: »Ääh, ja!« 

Bevor sie jetzt irgendwelchen Ärger bekommen sollte, grätschte ich ein und bestätigte, dass wir versuchen sollten, das Finanzielle so reibungslos wie möglich über die Bühne zu bringen.

Wieder einmal konnte ich die Gedankengänge meines Chefs nicht nachvollziehen. Nun zeigte ein Trainee einmal etwas Eigeninitiative, und es war ihm auch wieder nicht recht. Vielleicht war aber auch der Vorfall mit dem Korrektoren-Trainee der Anlass dafür, hier etwas vorsichtiger vorgehen zu wollen oder müssen.

Ein paar Tage später hieß es wieder »Einkleiden« und Lisa freute sich schon auf einen erneuten Besuch bei den Schneiderinnen. Da wir glaubhaft zwei irische Rechtsanwaltsangestellte, Detektive oder was auch immer darstellen sollten, hatten die Schneiderinnen uns einen »business-casual-Look« – oder wie immer das auch genau bezeichnet wurde – verpasst.

Ich sollte einen dunkelgrauen Anzug mit weißem Hemd nebst einer dezent gemusterten Krawatte und Lisa ein dunkelgrünes Kostüm mit knapp über das Knie reichendem Rock tragen. Lisa mit ihrem im Kontrast zum grünen Stoff stehenden roten Haaren entsprach voll und ganz einer Klischee-Irin.

Die Schneiderinnen hatten wieder ganze Arbeit geleistet – und auch hier konnte ich mir ein »Mylady!« nicht verkneifen.

Obwohl sie sich bemühte, es nicht nach außen dringen zu lassen, sah ich Lisa doch an, dass sie recht aufgeregt war.

»Der erste persönliche Kontakt mit einer ZP ist immer sehr aufregend«, beruhigte ich sie, als ich mich bei ihr vor ihrem Quartier verabschiedete, »aber ich bin ja zur Unterstüzung dabei!« 

Am übernächsten Tag starteten wir. Das Zeitschiff sah natürlich etwas anders aus als dasjenige, mit dem wir in das Jahr 1906 gereist waren, da es nicht tauchfähig war.

Für die Zeitreise in das Jahr 2010 kam eine große Schwierigkeit hinzu, nämlich sich unbemerkt der Erde nähern zu können, unbemerkt zu landen und das Schiff dann zu verstecken. Anders als im Jahr 1906 gab es jetzt Satelliten, Radar und andere Überwachungseinrichtungen, die leider auch eins unserer Zeitschiffe aufspüren konnten. Außerdem war das Zielgebiet viel dichter besiedelt, so dass auch das Verstecken des Schiffs nicht einfach war. Die Agency hatte zwar damit experimentiert, ein Schiff fünf Minuten in der Vergangenheit oder Zukunft zu »parken«, aber irgendwie mussten die Zeitagenten ja auch wieder zum Schiff gelangen. Eine kleine und am Mann tragbare »Zeitmaschine« war außerdem leider über einen Prototypstatus nicht hinausgekommen, so dass diese Variante erst einmal ausfiel. So mussten wir versuchen, uns unbemerkt anzuschleichen – wenn man bei Geschwindigkeiten von zehntausend Kilometern pro Sekunde überhaupt von »anschleichen« reden konnte – und das Schiff dann verstecken. Abgelegene und stillgelegte Industrieanlagen waren hierbei die erste Wahl, und so versteckten wir, ohne von irgendwelchen Luftfahrzeugen verfolgt oder angegriffen worden zu sein, das Schiff in einem stillgelegten Schotterwerk, dessen Eigentümer mittlerweile eine der zahlreichen Tarnfirmen der Agency war. Eine staubige Halle war groß genug, um das Schiff aufzunehmen, und Lisa beschwerte sich prompt über den feinen Staub, der in kürzester Zeit das gesamte Schiff mit einer hellgrauen Schicht überzogen hatte.

»Du kannst leider nicht immer so eine schöne kleine Insel wie beim letzten Mal haben«, stellte ich klar.

Das Werk war leider recht weit vom Zielort entfernt, so dass wir etwa eineinhalb Stunden Anreise zu verzeichnen hatten. Die Agency hatte aber für unser epochegerechtes Landfahrzeug ein Zulassungskennzeichen aus dem Umland des Zielorts herausgesucht, so dass wir nicht unnötig auffallen sollten.

Wie üblich, waren wir zwei Tage vor T-Null angereist und hatten so genug Zeit, die Örtlichkeiten zu erkunden.

Minden stellte sich in dieser Zeitepoche als übliche deutsche Kleinstadt mit großer Kirche, Fußgängerzone undsoweiter heraus.

»War hier nicht ’mal eine Küste?«, fragte Lisa.

Sie schien sich tatsächlich gut auf diesen Einsatz vorbereitet zu haben.

»Das ist richtig, wir konnten aber durch ein paar Einsätze den Meeresspiegel wieder senken, wenn auch noch nicht wieder auf das Niveau dieses Jahrhunderts. Hier befinden wir uns etwa einhundert Meter über dem Meer. In unserem Jahrhundert fehlen zur Zeit noch etwa fünfzig Meter dazu, dass die Küste wieder von hier aus etwa zweihundert Kilometer entfernt ist.« 

Am Mittellandkanal gab es einen Fußweg, den wir entlang gingen, bis wir an der Abzweigung zu den Schleusen und an einem Stichkanal zu einem Pumpwerk vorbei den Aquädukt über die Weser erreichten.

»Eine Brücke für Schiffe?« 

»Lisa, ich dachte, du hättest dich auf den Einsatz vorbereitet.« 

»Habe ich auch. Ich hatte zwar in der Einsatzbeschreibung Aquädukt gelesen, dachte aber, dass sich es auf eine Wasserleitung bezieht. Und es sind sogar zwei parallele Brücken!« 

Wir kauften uns bei einer Bäckerei belegte Brötchen nebst zwei kleinen Mineralwasserflaschen und kehrten wieder zum Kanal zurück. Lisa hatte sich für ein großes mit Tomaten und Mozzarella belegtes Ciabattabrötchen entschieden und zeigte sich begeistert vom deutschen Essen. Ich musste ihr dann leider mitteilen, dass ihr Backwerk einen italienischen Ursprung hatte, was ich mit meinem Schnitzelbrötchen aber wieder ausgleichen konnte.

Während wir brötchenessend ein mit buntem Schrott beladenes Binnenschiff beim Schleusen beobachteten, machten wir so mehr oder weniger den Eindruck von Geschäftsreisenden (wir hatten ja schon für diese Erkundungstour Anzug und Kostüm angezogen), die eine Pause machten, und nicht von Zeitagenten. Neben uns stand eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die ebenfalls den Schiffsverkehr aufmerksam anschauten. Alles in allem war dies die ideale Stelle, um die ZP unbemerkt im Auge behalten und notfalls eingreifen zu können. Somit war auch der heikle Punkt des möglichst unauffälligen Beobachtens geklärt und ich konnte – unter Lisas leisem Protest – noch ein Buchgeschäft im Stadtzentrum aufsuchen.

T-Null lag um die Mittagszeit des folgenden Tages, so dass wir frühzeitig aufbrachen

Wieder bezogen wir mit etwas Backwerk und Getränken bewaffnet unsere Position an der Kanalbrücke.

»ZP in drei Uhr«, sagte Lisa plötzlich.

Langsam drehte ich meinen Kopf nach rechts. Tatsächlich kamen ein Mann und eine Frau, sie deutlich als schwanger erkennbar, auf uns zu. Wie verabredet, ging Lisa auf das Paar zu und sprach es direkt an; ich folgte ihr etwas später und konnte sie noch sagen hören: »Gut, dass wir Sie jetzt schon treffen!« 

Durch das sich so entwickelnde Gespräch verstrich T-Null, wie ich mit Blick auf die Armbanduhr des Mannes feststellen konnte, wir hatten also etwas Zeit gewonnen. Zur Bestätigung sah ich unter uns auf der Weser ein mit Kies oder Sand beladenes Schiff entlang fahren. Lisa schaute mir kurz in die Augen und nickte leicht. Sie schien entweder ein instinktives Zeitgefühl zu besitzen, was diesen T-Null betraf – oder sie hatte einfach das Schiff gehört.

Nach den Angaben des Kollektors war es nämlich voraussichtlich genau dieses Schiff, vor dass die ZP gesprungen und dann durch den Sog, die Schiffsschraube sowie das nicht sehr warme Wasser ums Leben gekommen waren.

Ich schlug vor, dass wir uns in ein Café in der Stadtmitte setzen und alles besprechen sollten. Auf diese Art und Weise versuchten wir, die ZP von der Brücke wegzulocken, denn mit jedem Meter Abstand von der Brücke und mit weiterer Ablenkung konnten wir die Suizidgefahr deutlich verringern. Nach kurzer Bedenkzeit willigte das Paar ein, uns zu folgen.

Auf dem Weg in die Stadtmitte holte ich aus meiner Aktentasche ein Blatt Papier, das beweisen sollte, dass die Frau gerade eine recht umfangreiche Erbschaft einer entfernten Verwandten aus Irland erhalten hatte.

Lisa erläuterte: »Nicht dass Sie denken, wir sind solcherart Kriminelle, die viel Geld ›versehentlich‹ auf ein Konto übertragen und es dann sofort weitergeleitet haben wollen. Nein, solche Leute sind wir nicht; das ist offiziell ihr Geld und bleibt es auch. Keine Weiterüberweisung mit Western Union, kein Vorschussbetrug, alles legal.« 

Sie hatte sich wirklich gut vorbereitet, denn diese kriminellen Maschen war in dieser Zeitepoche leider üblich und ließen die Opfer sehr schnell in den Fokus der Ermittlungsbehörden gelangen, während die Täter meist aus dem Ausland operierten und daher nicht wirklich verfolgt werden konnten. Und wir klangen nun auch wirklich nicht wie Einheimische, waren aber deswegen umso besser vorbereitet.

Ich ergänzte: »Alles kann durch offizielle Dokumente bewiesen werden.« 

»Ist das Geld bereits auf meinem Konto?«, wollte die Frau wissen.

Lisa schaute auf ihre Uhr und meinte: »Ja, das müsste jetzt passiert sein«.

Zufällig kamen wir an einem sogenannten Geldautomaten vorbei, die Frau hielt inne, ging zum Automaten und fragte ihren Kontostand ab. Sofort wurde sie bleich im Gesicht und ihre Beine gaben nach, so dass ihr Ehemann sie auffangen musste.

Sie stammelte: »I–ich verstehe das nicht…« 

»Das zeigen wir Ihnen gleich alles!«, wurde sie von Lisa beruhigt.

Im Café gingen wir dann gemeinsam die Dokumente durch, und ich musste anerkenne, dass die Agency hier ganze Arbeit geleistet hatte. Ich hatte noch ein wenig von meinem persönlichen Vermögen dazugeschossen, da ich die Agency in diesem Fall als zu geizig empfand. Lisa war nach ausführlichem Studium der Lebenshaltungs- und Wohnraumkosten der ZP ebenfalls zu der Ansicht gelangt, dass der von der Agency ursprünglich vorgesehene Betrag etwas zu niedrig angesetzt worden war.

Flugs war auch noch ein Termin bei der Bank vereinbart worden, der schon in etwa einer Stunde stattfinden sollte.

Der für die ZP zuständige Banksachbearbeiter empfing uns und wir begaben uns in einen kleinen Besprechungsraum im Obergeschoss. Ich zeigte ihm meinen irischen Reisepass (ein wunderschönes Exemplar aus der Ausrüstungsstelle der Agency), gab ihm meine Visitenkarte und breitete die mitgebrachten Dokumente vor ihm aus dem Tisch aus.

»Ich glaube, die Dokumente sprechen für sich«, meinte ich.

Lisa hatte sich, wie bei der Vorbesprechung von ihr angekündigt, in die umfangreichen sogenannten »internen Geldwäscherichtlinien« der Bank eingearbeitet, die sie vollkommen unbemerkt mit der Technik des vierundzwanzigsten Jahrhunderts aus der elektronischen Dateiablage der Bank herausgezogen hatte. Genau diese Richtlinien beachtend machten wir dann auch eine präzise Punktlandung, was die Glaubwürdigkeit des unerwarteten Geldsegens und der dazugehörigen Hintergrundgeschichte betraf. Hier spielte wohl auch unser Auftreten und unsere Kleidung eine gewisse Rolle, und ich nahm mir vor, hierzu der Chefschneiderin nach diesem Einsatz noch meinen persönlichen Dank auszusprechen.

Um diverse Schulden der ZP zu begleichen, wurden vom Sachbearbeiter gleich noch entsprechende Geldtransfers eingeleitet. Ich sah es in ihren Augen, dass das Paar sehr erleichtert war, einer finanziell gesicherten Zukunft entgegenzusehen. Was ich natürlich nicht erwähnte, war die Tatsache, dass die Nachkommen der ZP sollten eine wichtige Rolle in der Erforschung der Gravitation spielen sollten, unabdingbar für die Raumfahrt (und Zeitreisen) folgender Jahrhunderte.

Ich schweifte in Gedanken ab. Woher konnten die Konnektoren das eigentlich wissen, wenn im ursprünglichen Szenario beide – und damit auch die ungeborenen Kinder – ums Leben gekommen waren? In dem vierundzwanzigsten Jahrhundert, aus dem wir gekommen waren, gab es keine Nachkommen des Paars. Oder hatten die Konnektoren alternative Zeitverläufe überprüft und das Szenario, welches wir hier gerade vor Ort abzubilden versuchten, war dasjenige mit den besten Ergebnissen. Ich wusste zwar, dass die Zentrale und die Erde in einem teilweise unterschiedlichen Zeitkontinuum existierten, aber wie wurde dies wieder zusammengeführt? Wenn außerdem ein sogenannter »Zirkelbezug« vorlag, das heißt, die Nachkommen der ZP sollten eine wichtige Rolle bei der Grundlagenforschung für Zeitreisen darstellen, aber erst durch diese Zeitreisen war es möglich, die ZP zu retten, wie sollte dies gehen, ohne ein Paradoxon hervorzurufen? Nun, wir waren hier vor Ort und es gab kein Paradoxon – nicht einmal ein leichtes Zeitbeben war zu spüren–, also hatte wohl alles seine Richtigkeit. Diese Aspekte der Tätigkeiten von Zeitagenten lagen alle außerhalb meiner Vorstellungskraft – und deswegen bin ich ja auch Protektor und nicht Konnektor geworden.

Der Mann bestand dann darauf, am Abend gemeinsam Essen zu gehen, und ich sagte unter der Bedingung zu, dass es örtliche »gutbürgerliche« deutsche Küche sein musste.

Die servierten Speisen waren meiner Ansicht nach wirklich authentisch für diese Zeitepoche, und die ZP hatten wirklich eine gute Wahl getroffen. Nach dem Essen gab es natürlich einen tränenreichen Abschied von den ZP.

»Das ist einer der Nachteile des persönlichen Kontakts zu ZP«, sagte ich auf dem Rückweg zum Schotterwerk zu Lisa.

Ich war gespannt, ob der Einsatz als Erfolg zu verbuchen war, und was Inspektor und Retroreflektor schlussendlich dazu zu sagen hatten. Wir kamen ohne verfolgt zu werden am Zeitschiff an. Start, Rückflug und Zeitsprung verliefen vollkommen problemlos und ich war froh, wieder in meinem Quartier zu sein.

Im Einsatzbericht, den wir in den folgenden zwei Tagen fertigstellen konnten, verschwiegen wir natürlich meinen finanziellen Zuschuss. Ich war froh, dass Lisa nicht nachgefragt hatte, woher ich in dieser Zeitepoche den Zugriff auf größere Geldbeträge hatte, die nicht den Ursprung in einer der Tarnfirmen der Agency hatte.

Daher versuchte ich sie mit der Frage abzulenken: »Was ist mit meinem Buch?« 

»Das ist recht spannend, aber ich bin noch nicht ganz durch. Außerdem kommt doch jetzt als Nächstes eine Abschlussbesprechung und keine Anhörung!« 

Da konnte sie zwar Recht haben, aber die im Buch beschriebenen Verhörtaktiken und das Drumherum des Verhaltens in Gerichtsprozessen der Zeitepoche zu kennen, schadeten auch bei einer Abschlussbesprechung nicht.

Drei Tage, nachdem wir den Bericht fristgerecht abgegeben hatten, wurde von der Chefetage die Abschlussbesprechung angesetzt. Diese war zweigeteilt: zuerst sollte – ohne Lisas Anwesenheit – ihre Leistung als Trainee basierend auf den ersten zwei Einsätzen beurteilt werden. Der zweite Teil war anschließend wieder die Nachschau der Veränderungen, die wir durch die Einsätze hervorgerufen hatten.

Wie üblich, waren auch wieder Vertreter der Korrektoren anwesend und im Besprechungsraum herrschte nach den Ereignissen bei den letzten Einsätzen der Korrektoren eine angespannte Atmosphäre. Ich konnte förmlich die Eiseskälte spüren, die sich im Raum ausbreitete. Es war wirklich verwunderlich, dass sich in dem vor mir stehenden Wasserglas keine Eiskristalle bildeten. Ich hatte meinen Chef zwar vor der Sitzung ausdrücklich davor gewarnt, aber es trat genau das ein, was ich befürchtet hatte: beide Einsätze wurden als sehr erfolgreich, also mit der höchsten Wertungsstufe versehen. Lisa bekam ebenfalls eine sehr gute Bewertung, was im krassen Gegensatz zum in die Hose gegangenen Einsatz der Korrektoren stand, bei dem ja sogar ausgerechnet ein Trainee ums Leben gekommen war. Diese Bewertungen klangen zunächst einmal recht schön, hatten aber meiner Ansicht nach zur Folge, dass dies die Kluft zwischen Protektoren und Korrektoren weiter vertiefen konnte.

Mein Chef ging nach der Sitzung wieder nicht auf meine Bedenken ein und setzte sogar noch einen drauf, indem er gleich vor versammelter Mannschaft einen nächsten Einsatz Rentier ankündigte, an dem wieder nur Lisa und ich teilnehmen sollten. Ich nahm mir daraufhin vor, keine Warnungen ihm gegenüber mehr auszusprechen Zwei sollten eigentlich genügen, sollte er doch selbst mit den möglichen Folgen klarkommen; er war ja schließlich erwachsen.

Beim Hinausgehen versuchte ich, die finsteren Blicke der Korrektoren zu ignorieren, und war mir sicher, dass sich hier etwas zusammenbraute.

»Die sehen aber gar nicht glücklich aus«, flüsterte mir Lisa zur Bestätigung ins Ohr.

Zumindest bei gemeinsamen Einsätzen mussten Lisa und ich nun sehr wachsam sein. Bis ein nächster Einsatz aber stattfinden konnte, mussten wir aber erst einmal unsere medizinischen Untersuchungen über uns ergehen lassen.

Der medizinische Leiter der Agency war hoch erfreut, sein »Lieblings-Studienobjekt«, nämlich mich als dienstältesten Protektor, der noch regelmäßig Außeneinsätze absolvierte, vor sich zu haben. Bei Lisa war nach ihren jetzt vier großen Zeitsprüngen medizinisch alles in Ordnung, während sich bei mir ein ganz leichter Knochenschwund diagnostizieren ließ, der aber noch nicht dazu führte, dass ich jetzt Außeneinsatzverbot bekommen musste. Der Arzt riet mir, nicht mehr ganz so viele Zeitsprünge zu machen und mich langsam zur Ruhe zu setzen, bevor ich wie andere Zeitagenten zu starke Folgeschäden davon tragen würde. Noch war es aber nicht so weit, da ich erst meine Trainee fertig ausbilden wollte und musste. Der Job war nun einmal nicht ganz ungefährlich.

Die Zeit bis zum nächsten Einsatz überbrückten wir mit einem weiteren Baustein von Lisas Ausbildung, nämlich mit Waffen- und Fahrtraining.

Nach drei Tagen intensivem Bücherlesens und Faulenzen war es dann soweit und ich traf mich mit Lisa vor meinem Quartier, um mit der Kabinenbahn zum Quertrakt mit den Schiffshangars zu fahren. Dort bestiegen wir eine Fähre, die uns zum Trainingsgelände der Agency auf der Erde bringen sollte. Das Gelände besaß eine eigene Zeitblase und befand sich im gleichen Zeitkontinuum wie die Zentrale, somit war es unabhängig von den Veränderungen auf der Erde, die durch unsere Einsätze hervorgerufen wurden. In einem Wüstengebiet fernab jeglicher Siedlungen gelegen und streng bewacht, konnte nahezu ausgeschlossen werden, dass Kontakt zur einheimischen Bevölkerung aufgenommen wurde.

Die Fähre, die regelmäßig zwischen Zentrale und Trainingsgelände pendelte, war relativ leer. Nur noch eine Handvoll andere Zeitagenten, die ich beim näheren Hinsehen als Korrektoren identifizierte, saßen mit uns im Passagierraum. Auffallend war, dass mehrere Sitzreihen Abstand zwischen uns vorhanden waren. Die sich vertiefende Feindschaft zwischen Korrektoren und Protektoren machte sich also auch optisch bemerkbar. Das war kein gutes Zeichen.

Das Trainingsgelände war ein großer ehemaliger Militärstützpunkt mit Hangars, einem weitläufigen Schießplatz und vielen Baracken, der von der Agency vor einigen Jahrzehnten übernommen worden war. Auf dem Gelände bezogen wir erst einmal unsere Quartiere, um dann gleich anschließend den Schießstand aufzusuchen. Da Lisa – wie ich – primär Ende des zwanzigsten, Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts eingesetzt werden sollte, war neben dem Training an aktuellen vor allem auch ein Training an epochetypischen Waffen vorgesehen. Ich nutzte die Gelegenheit, um meine Waffenkenntnisse etwas aufzufrischen.

Für diese Zeitepoche waren es sprengstoffbetriebene Projektilwaffen. Sogenannte »Railguns« dagegen, die ausschließlich mit einem elektromagnetischen Feld die Projektile beschleunigen, befanden sich erst am Anfang ihrer Entwicklung. Schallwaffen, die gänzlich ohne Projektile und Sprengmittel auskamen, waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal erfunden worden. Letztere waren eigentlich meine bevorzugte Waffenart. Diese stoßen »Projektile« aus komprimiertem Schall aus. So etwas gab es im einundzwanzigsten Jahrhundert natürlich noch nicht. Projektilwaffen aus diesem Jahrhundert hatten einen deutlich stärkeren Rückstoß als Schallwaffen neuester Bauart und ich brauchte vor dem bevorstehenden Einsatz ein paar Schüsse, um mich wieder daran zu gewöhnen.

Ich hatte mit dem Schießstandleiter zusammen in der Agency angefangen, und so wurden wir von ihm herzlich begrüßt. Er bat uns in sein Büro und nahm dort zwei glänzende Handfeuerwaffen aus einem Panzerschrank.

Mit den Worten »hey, Tim, das wäre doch etwas für dich!« reichte er mir eine edelstahl-silbrig glänzende und recht große Waffe. Ich lehnte sie mit dem Hinweis ab, dass sie mir zu auffällig war und ich dunkelfarbige Waffen bevorzugte.

»Ich nehme sie!«, meinte Lisa, nahm die Waffe in die Hand und betrachtete sie von allen Seiten.

Ich schaute zu ihr hinüber und ich konnte mir die kleine Lisa mit so einer großen und auffälligen Waffe eigentlich gar nicht so recht vorstellen. Nun, sie hatte sich entschieden und weitere Waffen konnte und wollte ich für sie nicht ausprobieren und mitnehmen,

Die andere, dunklere, Waffe war nicht ganz so groß und gefiel mir auch deutlich besser.

»Nachdem ihr das also geklärt habt, sind das jetzt eure Waffen für den nächsten Einsatz im einundzwanzigsten Jahrhundert«, stellte der Schießstandleiter fest. »Ich werde sie jetzt auch offiziell auf euch eintragen lassen.« 

Ich hatte mich bei einem Einsatz vor ein paar Monaten darüber beschwert, dass ich nur mit einer lausigen Billigwaffe ausgestattet worden war, und dies war jetzt offensichtlich das Ergebnis. Dank meines alten Weggefährten auf dem Schießstand hatte ich nun einen mehr als adäquaten Ersatz bekommen. Wir nahmen unsere Waffen nebst Munition und begaben uns zu zwei nebeneinander liegenden Schießbahnen. Lisa wurde von Leiter persönlich betreut. Ich dagegen war auf mich alleine gestellt (»Tim, du kannst ja schon alles!«), was aber nicht weiter tragisch war, da ich meine Schießkenntnisse sowieso nur kurz auffrischen und mich an die neue Waffe gewöhnen wollte.

Auf der Nachbarbahn zog Lisa ihr Programm durch, und als ich einigermaßen warm geworden war, hörte ich mit den Schießübungen auf und gesellt mich zu ihr.

Der Schießtrainer zeigte mir ihre bisherigen Ergebnisse. Sie hatte eine nicht so hohe Trefferquote, wie ich es eigentlich von ihr erwartet hätte. Mein »Premium-Trainee« hatte also eine kleine Schwäche offenbart.

Trotz dieser nicht überragenden Ergebnisse war ich irgendwie beruhigt. Sie war also doch nicht ganz so perfekt – niemand konnte außerdem zu perfekt sein. Nun schien auch das Fahrtraining interessant zu werden!

Abends in der Kantine trafen wir den Chefpiloten, der uns auch gleich anbot, außerplanmäßig ein paar Atmosphärenflüge zu absolvieren. Dieses Angebot konnte ich natürlich nicht ablehnen, und so verlängerte ich unseren Aufenthalt auf dem Trainingsgelände noch um einen weiteren Tag. Ich schaute mich um. Mir kamen die uns in der Zentrale vorgestellen Trainees schon jung vor, aber der hier anwesende Nachwuchs sah aus wie direkt aus dem Kindergarten entlaufen. War ich schon so alt geworden?

Am folgenden Tag stand erst einmal das Fahrtraining mit Landfahrzeugen des einundzwanzigsten Jahrhunderts an. Ein Teil des Geländes war zu einem Parcours für Landfahrzeuge umgebaut worden und die Trainer hatten für Lisa ein umfangreiches Programm ausgearbeitet. Nach den Ergebnissen des Schießstands war ich nun gespannt, wie Lisa hier abschneiden würde.

Für sie stand eines der von der Agency für Einsätze im einundzwanzigsten Jahrhundert präparierten Landfahrzeuge bereit, welches den Verbrennungsmotor durch einen Elektroantrieb nebst einer kleinen Energieversorgungszelle aus dem vierundzwanzigsten Jahrhundert ersetzt bekommen hatte. Auf dem Programm standen die Punkte Slalomfahrten, Gefahrenbremsungen vor Hindernissen, sich rückwärts aus einer Gefahrenzone entfernen und noch einiges anderes.

Es war vollkommen wolkenlos an diesem Tag und Lisa hatte sich deswegen eine silbrig glänzende Sonnenbrille mitgenommen. Sie zog sich einen Helm über den Kopf, klappte das Visier hoch, setzte die Sonnenbrille auf und bemühte sich, cool und lässig auszusehen. Nebenan standen mehrere Zeitagenten, die auch ein Fahrtraining absolvierten und die ich als Korrektoren und ihre neuen Trainees identifizierte. Besonders letztere musterten Lisa ausgiebig – und ich hoffte, dass sich hier nichts anbahnte.

Wie erwartet, schnitt sie hier deutlich besser ab als beim Schießen.

Jetzt noch an paar Runden mit einem Zeitschiff, und wir waren mehr als fit für den nächsten Einsatz.

Wieder einmal kümmerte der Chefpilot sich persönlich um uns und wir mussten ihm im Gegenzug versprechen, bald wieder einmal ein Pokerspiel stattfinden zu lassen.

Ein älteres Modell eines Zeitschiffs war seiner »Zeitmaschine« beraubt worden und diente so nur noch als Trainingsschiff. Im Beisein des Chefpiloten übten wir ein paar Starts und Landungen und außerdem vor und in einem Hangar Manöver auf engstem Raum unter voller Erdgraviation. Nach der Anzahl umgeworfener bunter Stangen zu urteilen, lagen Lisa und ich gleichauf, was die Manöverpräzision betraf. Auch wenn wir hier auf den begrenzten Raum der Zeitblase des Trainingsgeländes beschränkt waren, war er nach Ansicht des Chefpiloten dennoch vollkommen ausreichend, um auch diese Art von Manövern üben zu können.

»Geradeaus kann ja jeder!«, meinte er abschließend.

Einen großen Zeitsprung über mehrere Jahrhunderte hinweg konnte man sowieso nur »in echt« üben – und dazu war Lisa, die erst gerade das Simulatortraining unter Schwerelosigkeit abgeschlossen hatte, noch nicht bereit.

Am Abend erreichte mich dann die Nachricht, wann und wo der nächste Einsatz stattfinden sollte, und wir brachen wieder zur Zentrale auf, um noch vor der Vorbesprechung genügend Zeit zur Vorbereitung zu haben.

Wiederum hatte mein Chef anklingen lassen, dass das Einsatzteam nur Lisa und mich und keine weiteren Protektoren – und erst recht keine Korrektoren – umfassen sollte. Ich hatte mir doch vorgenommen, ihm nicht mehr zu warnen und wollte es bei einem finsteren Gesichtsausdruck belassen. Hoffentlich hielt ich es auch durch und wurde nicht womöglich irgendwann einmal ausfällig.

Wieder zurück in der Zentrale widmeten wir uns daher gleich den Einsatzvorbereitungen. Dieses mal traf ich mich aber mit Lisa wieder auf dem »neutralen Boden« eines Besprechungsraumes und nicht in meinem Quartier. Das Treffen nach der Anhörung war eine Ausnahme gewesen und ich wollte die Gerüchteküche nicht noch unnötig weiter anheizen.

»Das ist die ZP? Wir müssen die Tochter eines Gangsterbosses beschützen?«, meinte Lisa nach einer ersten Durchsicht der bereits vorliegenden Unterlagen.

»Agent O’Donoghue, nur weil du kein Korrektor bist, heißt das noch lange nicht, dass du nicht auch in ethische Konflikte geraten kannst!« 

Das Einsatzziel von Rentier war, die ZP vor einer Entführung durch eine feindliche Gang, oder so ähnlich, zu beschützen. Das Ganze sah von weitem wie eine einfache »Machen-und-dann-schnell-weg«Aktion aus. Da der Einsatz aber im US-Bundesstaat Florida im Jahr 2016 stattfinden sollte und ich die Verhältnisse in dieser Zeitepoche sehr gut kannte, war es gut, dass ich meine Schießfähigkeiten noch einmal aufgefrischt hatte, ohne von diesem Einsatz gewusst zu haben. Unterstützung durch Korrektoren hatte mein Chef ja nicht angefordert, aber ich wollte ihm da auch nicht hineinreden. Als Leiter eines Einsatzes, und sei er auch noch so klein, hatte ich zwar ein gewisses Mitspracherecht, aber in der jetzigen Situation des angespannten Verhältnisses zwischen Protektoren und Korrektoren hielt ich zunächst einmal lieber die Füße still.

Als Tarnidentitäten hatte die Agency uns zu zwei Personenschützern gemacht (»Oh, dieses Mal keine irischen Detektive?«), wobei ich Lisa als etwas zu jung dafür ansah.

Prompt fragte sie auch: »Ist das nicht gefährlich?« 

Ich schaute auf die Abschnitte Risikoanalyse und Schutzbedarfsfeststellung des Vorbesprechungsdokuments und sah dort, dass die Konnektoren den Einsatz aus ihrer Sicht als »nicht gefährlich« eingestuft hatten und wir daher keines besonderen Schutzes bedurften. Lediglich unter Warnungen stand etwas von »üblicher jahreszeitbedingter Wetterlage«, aber daran konnten Korrektoren auch nichts ändern.

Die eigentliche Einsatzvorbesprechung war dann nur noch eine kurze Formalität, was mir sehr entgegenkam, da auch wieder der Leitende Korrektor dabei war. Ich empfand ihn als eine derartig unsympathische Person, deren Stimme von ganz alleine alte Farbschichten von Türen lösen würde. Glücklicherweise musste ich ihn dieses Mal nicht allzu lange ertragen, vor allem da er durch das eigenmächtige Vorgehen meines Chefs uns ohne Korrektoren loszuschicken, mehr als verärgert war – und dies auch alle Anwesenden deutlich spüren ließ.

Auf dem Weg zurück zu unseren Quartieren schüttelte Lisa sich.

»Brrr, war das unangenehm! Ist das immer so?« 

Leider musste ich ihr mitteilen, dass es in letzter Zeit mit dem Verhältnis zwischen Korrektoren und Protektoren nicht zum Besten stand und dass wir auch nicht wirklich auf ein Machtwort aus der obersten Chefetage bauen konnten. Unser direkter Vorgesetzter trug darüber hinaus auch nicht wirklich zur Verbesserung der Situation bei.

»Konzentrieren wir uns lieber auf den Einsatz«, bestimmte ich.

Einsätze – und der Fortbestand der Menschheit – waren meiner Ansicht nach wichtiger als Agency-interne Animositäten und Machtkämpfe. Vielleicht hielten sich die Chefs auch einfach schon zu lange in der Zentrale auf.

»Wir leben nicht ständig in der Zentrale mit verminderter Gravitation«, legte ich dar, »sondern stehen mit beiden Füßen auf der Erde. Deshalb ist das Gehirn stabiler gelagert und hat Realitätskontakt!« 

Lisa lachte und meinte: »Die einfachste Erklärung könnte auch aus Dummheit resultierende Absicht sein.« 

So eine einfache Erklärung hatte ich tatsächlich noch nicht in Erwägung gezogen, und ich war froh, dieses intelligente Mädchen als Trainee zugeordnet bekommen zu haben.

War diese Dummheit der Grund, warum ich eigentlich nie Chef werden wollte? Um mich nicht auf so ein niedriges Niveau herab begeben zu müssen?

Ich versuchte, diese Gedanken zu verdrängen und mich jetzt auf die Einsatzvorbereitungen zu konzentrieren. Eine Reise in das Jahr 2016 hieß natürlich auch »Bücher«, und ich wollte mir als erste Amtshandlung einen geeigneten Buchladen im Einsatzgebiet heraussuchen. Die Rolle »Personenschützer« musste ich nicht eigens für diesen Einsatz einüben, denn dies war ja die Kernaufgabe eines Protektors.

Drei Tage vor T-Null brachen wir von der Zentrale auf.

Wieder richteten wir uns im Zeitschiff erst einmal ein, bevor wir losflogen. Direkt neben der Cockpittür befand sich hinter einer Wandverkleidung ein großer Tresor, den ich öffnete und auf seinen Inhalt hin überprüfte. Neben den beiden Handfeuerwaffen nebst Munition fand ich dort noch einen Umschlag mit ausreichend epochegerechtem Bargeld, zu unseren Tarnindentitäten passende Ausweisdokumente sowie zwei kleine Schallwaffen vor. Direkt in den Einsatz sollten wir nur die epochetypischen Waffen mitnehmen, denn falls wir einmal gefilzt oder festgenommen werden sollten, so würden keine modernen Waffen gefunden werden. Die modernen Waffen blieben daher im Zeitschiff. Ich legte Lisas und meine Ausweiskarte der Agency und noch ein kleines Kästchen mit persönlichen Dingen von mir hinzu.

Nachdem ich Tresor und Wandverkleidung wieder geschlossen hatte, begannen wir mit dem Abarbeiten der Startcheckliste.

Der Zeitplan dieses Einsatzes war recht eng, denn wir hatten nach T-Null nicht viel Zeit, die Gegend wieder zu verlassen, bevor ein großer Wirbelsturm auf die Küste treffen und außerdem ein starker Sonnenwind einsetzen sollte, der keine Zeitsprünge erlaubte. Der Wirbelsturm Debby war in den historischen Aufzeichnungen als einer der Stürme mit den größten Regenmengen und mit den meisten Tornados in Florida dieser Zeitepoche verzeichnet. Ich wusste nicht, was die Agency veranlasst hatte, ausgerechnet diesen Einsatz zu diesem Zeitpunkt mit diesen äußeren Bedingungen uns zuzuordnen; Lisa dachte dann auch gleich an eine Art Racheaktion der Korrektoren. Nicht, dass ein Zeitschiff nicht fähig gewesen wäre, mit diesen atmosphärischen Bedingungen umzugehen, aber wir sollten ja auch mit einem Landfahrzeug unterwegs sein – und da hatte ich nun wirkliche keinen Bedarf an Überschwemmungen oder gar umgestürzten Bäumen oder Strommasten.

Von der Startfreigabe wurde ich aus meinen Gedanken gerissen und ich steuerte das Schiff durch die Schleuse hinaus in den Weltraum

Eine der großen Herausforderungen auch bei diesem Einsatz war, unbemerkt zu landen. Wiederum hatte die Agency daher eine Stelle weit abseits von bewohnten Gebieten ausgesucht, um das Zeitschiff zu verstecken, was aber auch wieder lange Anfahrten ins Zielgebiet erforderlich machte. Wie bei jeder Landung war es auch dieses Mal ein mulmiges Gefühl, abrupt von mehreren tausend Kilometern pro Sekunde auf Stillstand abzubremsen und nicht auf dem Boden zu zerschellen, sondern nur ein paar Meter darüber schweben zu bleiben. Langsamer konnte das Anflugmanöver aber nicht durchgeführt werden, um das Risiko, entdeckt zu werden, minimieren zu können. Die ansonsten eigentlich vollkommen humorlos agierende Agency schien tatsächlich etwas Humor bewiesen zu haben, denn wir sollten auf einer ehemaligen Krokodilfarm in einem großen Sumpfgebiet untergebracht werden.

»Krokodile?«, fragte Lisa.

»Ja, groß, dunkelgrünbraun, scharfe Zähne.« 

»Darüber stand aber nicht wirklich etwas in der Risikoanalyse!« 

»Lisa, du musst noch lernen, zwischen den Zeilen zu lesen.« 

»Damit ich das richtig verstehe: Wir haben also die Wahl zwischen Krokodilen, Gangsterbanden und Wirbelstürmen?« 

»Einsätze müssen nicht immer unproblematische Rahmenbedingungen haben!« 

»Wenn’s der Sache dient…« 

Den Rest des ersten Tages erkundeten wir erst einmal unser Versteck. Die Gebäude waren alle sehr heruntergekommen und teilweise sogar schon eingestürzt, so dass wir beschlossen, auf jeden Fall im Zeitschiff wohnen zu bleiben. Und dann war da ja noch die örtliche Fauna im Auge zu behalten.

Für die erste Erkundungsrunde hatte ich mir gleich die Schallwaffe eingesteckt. Lisa schaute mich fragend an.

»Krokodile, schon vergessen?«, sagte ich knapp.

Sie meinte »ich verstehe« und nahm sich ebenfalls eine Waffe.

Leider ließ sich dann aber kein Reptil auch nur ansatzweise blicken.

Am folgenden Tag begaben wir uns ins Zielgebiet. Der Zielort lag an einer großen und sehr breiten Straßenkreuzung mit ausreichenden Fluchtmöglichkeiten in alle Richtungen, falls es notwendig sein sollte. Auf dem Weg dorthin waren mir viele Bewohner aufgefallen, die entweder ihre Häuser verbarrikadierten oder ihre Landfahrzeuge mit ihrem Hausstand beluden.

»So schlimm?«, fragte Lisa.

»Laut Agency-Archiv kann es schon heftig werden, auch weiter im Küstenhinterland ist mit starken Regenfällen und sogar Tornados zu rechnen. Bis der Hurrikan aber die Küste erreicht, sind wir längst wieder in die Zukunft verschwunden!« 

Ich dachte daran, dass sich der Wasserspiegel des Sumpfes nur wenige Zentimeter unter dem Erdgeschossniveau der Krokodilfarm befand, und mir wurde etwas mulmig zumute. Hätte ich doch bloß wieder ein tauchfähiges Zeitschiff genommen, dann hätten wir zumindest mit einer Überschwemmung weniger Probleme bekommen können.

Am Morgen des entscheidenden Tages, T-Null war erst für den späten Nachmittag avisiert, gönnten wir uns noch in einem Restaurant, was ich auf unseren Erkundungsfahrten entdeckt hatte, ein ausgiebiges und zudem noch sehr schmackhaftes Frühstück. Ich war fast schon etwas zu satt, als wir ins Zielgebiet aufbrachen.

Es war schwülheiß, und ein heftiger tropischer Regenschauer lieferte einen ersten Vorgeschmack auf den Hurrikan. Obwohl der eigentliche Sturm noch gar nicht die Küste erreicht hatte, waren schon einige Straßen wegen Überschwemmung gesperrt und wir mussten große Umwege fahren. Zum Glück erreichten wir noch rechtzeitig, nämlich etwa eine Stunde vor T-Null, den Stadtteil, in dem die Entführung der ZP stattfinden sollte.

Ich fand einen freien Parkplatz, warf genug Geld in einen Parkscheinautomaten und konnte so sicher sein, dass unser Landfahrzeug nicht abgeschleppt würde. Bei einem mobilen Essensverkäufer holte ich mir einen Hotdog, was Lisa mit »Du denkst auch nur ans Essen…« quittierte. Sie dagegen schlürfte aus einem großen Pappbecher ein sehr aromatisch riechendes Kaffeegetränk, was allerdings auch nicht viel besser war. Wir verteilten uns dann auf verschiedene Straßenseiten und bewegten uns langsam auf den in den Einsatzunterlagen angegebenen Zielort zu. Nach einem kurzen Test, ob unsere CR auch funktionierten, waren wir einsatzbereit.

T-Null rückte näher und schon kam Lisas Meldung über den CR: »ZP vor mir auf meiner Straßenseite!« 

Ich schlängelte mich zwischen parkenden Fahrzeugen hindurch und ging schnellen Schrittes über die Straße. Plötzlich kamen zwei dunkel gekleidete Männer aus einem Hauseingang hervor und versuchten, die ZP zu greifen. Lisa ging dazwischen und versuchte, die ZP wieder aus dem Griff des einen Mannes zu befreien. Dies gelang ihr erst, als ich ebenfalls dazwischen ging. Prompt zogen beide Männer fast synchron ihre Waffen und Lisa und ich taten es ihnen nach.

»Die werden doch nicht mitten am Tag hier etwa schießen wollen?«, zischte Lisa.

Ich entgegnete: »Ich wär’ mir nicht so sicher, denn wir sind in Florida, einundzwanzigstes Jahrhundert!« 

Lisa grunzte nur.

Ich bekam die Gelegenheit, die ZP abzuschirmen, und wir konnten uns auf den geordneten Rückzug zu unserem Landfahrzeug machen. Vollkommen unerwartet gab es dann einen heftigen Windstoß und in der näheren Umgebung schlug eine Tür oder ein Fenster mit einem lauten Knall zu. Die Entführer interpretierten dies vollkommen falsch und eröffneten das Feuer auf uns.

Ich spürte einen brennenden Schmerz im linken Oberschenkel und konnte es nicht fassen, wirklich angeschossen worden zu sein. Lisa nahm das Mädchen an die Hand, erwiderte das Feuer und wir machten uns weiter auf den Rückzug in Richtung unseres Fahrzeugs. Trotz des Schmerzes versuchte ich ebenfalls so schnell wie möglich mich in Sicherheit zu bringen. Immer noch feuerten die Entführer auf uns, trafen aber zum Glück nicht. Hastig versuchten Passanten, in Geschäften oder in Hauseingängen Deckung zu suchen – das war’s dann auch mit der möglichst unauffälligen Einsatzdurchführung… 

Am Fahrzeug angekommen, setzte Lisa unsere immer noch vollkommen widerstandslose ZP auf den Beifahrersitz und sich selbst ans Steuer, ich quälte mich auf den Rücksitz. Sie fuhr ohne Rücksicht auf den Verkehr mit Schwung rückwärts aus der Parklücke heraus, was mit lautem Hupen der anderen Verkehrsteilnehmer quittiert wurde. Die Entführer schossen weiter auf uns, aber da das Fahrzeug mit einer leichten Panzerung ausgestattet war, prallten die Projektile ab. Aus den Augenwinkeln sah ich Passanten in Panik durcheinanderlaufen; so etwas war wohl auch hier nicht an der Tagesordnung. Die ZP duckte sich.

»Ist gepanzert«, wurde sie von Lisa beruhigt.

Noch immer ging es rückwärts vom Ort des Geschehens weg und ich konnte zumindest zum jetzigen Zeitpunkt kein Fahrzeug erkennen, welches die Verfolgung aufgenommen hatte. An einer Einmündung war die Straße breit genug, so dass Lisa mit dem auf dem Trainingsgelände eingeübten Manöver unser Fahrzeug wenden konnte. Dies geschah fast ohne anzuhalten, da die regennasse Fahrbahn die Wende begünstigte. Prompt schlug ich mir den Kopf an der Tür an, aber auf diesen Schmerz kam es jetzt auch nicht mehr an.

Lisa beschleunigte stark und wir fuhren erst einmal in die entgegengesetzte Richtung zum Wohnort der ZP, auch um unsere Verfolger in die Irre zu führen. Mit leicht ausbrechendem Heck bog Lisa in eine Querstraße ein und ich wurde auf der Rückbank in die andere Richtung geschleudert. Dadurch machte sich auch mein Bein wieder bemerkbar. Soweit ich es durch die zerrissene Hose und eine Blutkruste ertasten konnte, handelte es sich wohl um einen glatten Durchschuss, das bedeutete, dass das Projektil nicht im Bein steckengeblieben war.

Nach mehrmaligem Abbiegen, bei dem ich glücklicherweise nicht mehr so stark umhergeschleudert wurde, waren wir in einer ruhigen Wohnstraße in einer »besseren« Wohngegend angelangt und Lisa stoppte erst einmal.

»Wir bringen dich schon noch nach Hause!«, sagte sie zur immer noch vollkommen bleichen und stummen ZP. »Erst einmal muss ich aber meinen Kollegen versorgen.« 

Lisa stieg aus, ging zum Kofferraum, öffnete ihn und kam dann mit ein paar Medikamenten zu mir. Wie alle unsere Fahrzeuge, die auf Einsätzen eingesetzt wurden, hatte auch dieses hier ein Geheimfach, in dem für alle Fälle diverse Ausrüstungsgegenstände des vierundzwanzigsten Jahrhunderts versteckt waren, unter anderem auch Medikamente. Schon nach der Einnahme des ersten Medikaments, eines Schmerzmittels, spürte ich, wie der Schmerz sich langsam aus dem Bein zurückzog und ich endlich wieder klarer denken konnte.

»Ich bin so trotzdem nicht bis in die Zentrale transportfähig«, flüsterte ich Lisa ins Ohr, »wir müssen also unsere Rückkehr verschieben.« 

»Code fünfundddreißig?« 

»Ja, Code fünfundddreißig.« 

Dieser Meldungscode an die Zentrale bedeutete, dass ein Zeitagent im Einsatz schwer verletzt wurde.

Lisa drückte auf ihrem CR herum.

»Kein Kontakt zum Schiff?«, fragte ich.

Lisa antwortete: »Wahrscheinlich sind wir zu weit weg.« 

Also hatten wir zur Zeit keine Möglichkeit, über das Schiff mit der Zentrale Kontakt aufzunehmen. Die Vorschriften der Agency sahen mögliche Rettungsaktionen erst nach einem gewissen Zeitraum vor, wenn ein Zeitagent überfällig war. Noch aber war meine Verletzung nicht lebensbedrohlich und wir würden uns auch nur um ein paar Tage verspäten.

Größere Sorgen machte mir, ob wir mit dieser ganzen Aktion nicht die örtlichen Sicherheitsbehörden aufgeschreckt hatten – und dann war da ja noch der Sturm, den wir eigentlich gar nicht erleben wollten.

Lisa setzte sich wieder auf den Fahrersitz und die ZP hatte mittlerweile ihre Stimme wiedergefunden.

»Danke! Wollten die mich wirklich entführen?« 

»Davon ist auszugehen!«, meinte Lisa.

Die ZP zeigte zu mir auf den Rücksitz und fragte: »Ist er wegen mir jetzt schwer verletzt?« 

»Er kann für sich selbst sprechen!«, warf ich ein und Lisa kicherte leise.

»Ja«, fuhr ich fort, »es ist aber mit Medikamenten in den Griff zu bekommen.« 

Die Gelegenheit schien günstig, an dieser Stelle unsere Tarnidentitäten ins Spiel zu bringen, aber bevor die ZP etwas erwidern konnte, klingelte ihr Mobiltelefon.

»Nein, Papa, ich sollte entführt werden, aber zwei –« 

»Personenschützer«, ergänzte Lisa.

»– Personenschützer haben mich gerettet.« 

Ihr Vater schien sehr in Sorge zu sein, denn die Nachricht von Schießerei und Entführung hatte sich wohl sehr schnell in der Stadt verbreitet.

»Ja, Papa, sie bringen mich gleich nach Hause. Der Mann wurde angeschossen und ist, glaube ich, am Bein verletzt, sonst sind wir alle am Stück!« 

»Also, nach Hause!«, stellte Lisa fest und fuhr aus der Parklücke.

Auf dem Weg zum Haus der ZP, was sich später als pompöses Anwesen herausstellte, kamen uns weder die örtlichen Behörden noch die Entführer in die Quere. Lisa fuhr nach Anweisungen der ZP noch ein paar Umwege, bevor wir an der Toreinfahrt zum Anwesen ankamen.

Die ZP öffnete das Fenster, steckte ihren Kopf heraus und winkte. Ein finster aussehender Mann, der eine große Projektilwaffe umgehängt hatte, öffnete eine kleine Klappe, drückte auf einen Schalter und das Tor schwang langsam auf. Er zeigte die Auffahrt zum Haus hinauf und meinte, dass wir dort parken sollten. Lisa steuerte unser Fahrzeug bis vor den Hauseingang, die ZP riss ihre Tür auf, stürmte heraus und warf sich einem Mann um den Hals, der offensichtlich ihr Vater, der Gangsterboss, war.

Ich humpelte aus dem Fahrzeug und setzte mich sofort wieder auf eine kleine Steinmauer, welche die Auffahrt zu einem Beet mit Blumen und kleinen Sträuchern abgrenzte. Der Gangsterboss gab Lisa und mir die Hand und bedankte sich vielmals, dass wir seine Tochter gerettet hatten.

Eine sehr stark geschminkte Frau, die sich alsbald als die Ehefrau des Gangsterbosses herausstellte, brachte mir einen hölzernen Gehstock, so dass ich mich besser bewegen konnte. Ein weiterer Mann, der Bodyguard des Gangsterbosses, gesellte sich ebenfalls zu uns.

Der Gangsterboss musterte unser Fahrzeug.

»Elektrisch, hä? Ich wusste gar nicht, dass es dieses Modell auch mit Elektroantrieb gibt.« 

»Gibt’s auch offiziell nicht«, erläuterte Lisa. »Das ist eine Spezialanfertigung für uns.« 

»Wer ist ›uns‹?« 

»Nun ja, für uns als Personenschützer ist es auch wichtig, einen Klienten schnell aus einer Gefahrenzone bringen zu können. Die Kiste hier schafft – trotz leichter Panzerung – in knapp vier Sekunden die Null auf Hundert, da kann kaum ein Sportwagen mithalten.« 

Der Bodyguard des Gangsterbosses nickte zwar anerkennend, aber ich fragte mich ernsthaft, in was sich Lisa da hineingeritten hatte.

»Personenschützer?«, fragte er. »Ich habe noch nie von euch gehört – und ich bin sozusagen vom Fach.« 

Ich wollte gerade darauf antworten, aber Lisa kam mir wieder zuvor.

»Unsere Klienten legen nun einmal Wert auf absolute Diskretion, daher findet sich unsere Werbung auch nicht auf Hochglanzzetteln in allen Briefkästen.« 

Der Bodyguard grinste, aber der Gangsterboss ließ nicht locker.

»Bist du nicht viel zu jung für so einen Job?«, wollte er wissen.

Mädchen, hoffentlich konntest du es schaffen, aus dieser Nummer wieder herauszukommen! Aber auch hier hatte Lisa die passende Antwort parat.

Sie schob ihre Jacke zur Seite, so dass man den Schulterhalfter mit der Waffe sehen konnte, und meinte: »Lassen Sie sich von meiner Größe und von meinem Aussehen nicht täuschen. Ich bin bei uns spezialisiert auf den Personenschutz von Kindern und Jugendlichen. Und seien Sie ’mal ehrlich: Ist es nicht viel unauffälliger, wenn jemand wie ich mit jemandem wie Ihre Tochter zusammen ist?« 

Das Eis schien gebrochen, denn der Bodyguard brach in ein tiefes Lachen aus und legte seine große Pranke auf Lisas Schulter.

Auch der Gangsterboss grinste breit und meinte: »Das stimmt, darüber habe ich noch gar nicht richtig nachgedacht. Und nach dem heutigen Vorfall muss ich mir wirklich etwas für meine Tochter einfallen lassen.« 

Jede Erzählung hatte ja irgendwo einen wahren Kern, und so war das Beschützen von Kindern und Jugendlichen im Endeffekt gar nicht allzuweit von der Wahrheit entfernt. Die Agency hatte Lisa – unter anderem – tatsächlich genau hierfür als Protektor angeworben.

Der Bodyguard fragte: »Seid ihr denn frei?« 

Jetzt war ich endlich an der Reihe, etwas sagen zu können.

»Sieht schlecht aus, wir sind eigentlich schon bis an die Kante ausgebucht – und jetzt bin ich auch noch mit der blöden Beinverletzung nur bedingt einsatzfähig.« 

Ein unerwartet heftiger Windstoß, der sogar einen mittelgroßen Blumenkübel etwa einen halben Meter weit wandern ließ, erinnerte alle wieder an den Hurrikan.

»Ihr geht jetzt nirgendwo hin!«, beschloss die Ehefrau des Gangsterbosses und strich ihr zerzaustes Haar wieder glatt. »Heute und morgen seid ihr unsere Gäste. Unser Haus ist sicher!« 

Tatsächlich waren Hausangestellte des Gangsterbosses dabei, alle Fenster mit stählernen Fensterläden zu verschließen, die aber sicherlich nicht nur einen Hurrikanschutz darstellten.

Sie zeigte auf unser Fahrzeug und meinte: »Das kann bei uns noch mit in die Garage!« 

Wir durften dann auch anschließend gleich die Gästewohnung direkt über der Garage beziehen. Die Wohnung besaß ein recht großes Wohnzimmer, eine voll ausgestattete Küche, ein großes Badezimmer, zwei Schlafzimmer und einen kleinen Balkon. Genau auf diesem Balkon meldete sich beim Wohnungsrundgang mein CR und auch Lisa hielt kaum merkbar ihre Hand hoch und schaute mich kurz an. Auch wenn wir hier jetzt erst einmal nicht wegkamen, so konnten wir es jetzt immerhin der Zentrale mitteilen.

Nachdem die Ehefrau des Gangsterbosses gegangen war, setzte ich mich erst einmal auf einen Sessel im Wohnzimmer. Lisa ging noch einmal zum Fahrzeug, um vor allem ein paar Medikamente für mich zu holen. Wie bei jedem Einsatz hatten wir auch hier einen Satz Ersatzkleidung dabei, so dass ich mich endlich meiner durchgeschossenen Hose entledigen konnte. Der Rest befand sich im Schiff, aber da kamen wir erst einmal nicht hin. Natürlich waren wir im Haupthaus zum gemeinsamen Abendessen eingeladen, und dort konnte ich ja nicht in einer kaputten Hose erscheinen.

Das Aufsprühen eines Wundsprays mit Nanorobotern auf Molekularbasis (die Funktionsweise hatte ich noch nie so richtig verstehen können) auf meine Schusswunde brachte eine weitere Linderung und sollte auch den Heilungsprozess in Gang bringen. Ich hoffte so, bis zur Rückkehr in die Zentrale ohne größere Komplikationen durchhalten zu können. Hoffentlich hielten die Medikamente des vierundzwanzigsten Jahrhundert auch das, was sie versprachen.

Beim Abendessen selbst begann dann das große Ausfragen durch Ehefrau und Tochter des Gangsterbosses, der sich selbst eher zurückhielt. Mittlerweile schätzte ich Lisa so ein, dass sie es wohl schaffen würde, in ihrer Rolle zu bleiben. Besonders die Tochter wich nicht von ihrer Seite und erinnerte mich an jemanden, den ich an der Ostküste der USA kannte und wieder einmal besuchen sollte. Wieder kamen auch Jobangebote, die wir wiederum ablehnen mussten. Ich hatte mir aber vorgenommen, im Zeitschiff nachsehen zu wollen, ob nicht in dieser Zeitepoche eine der Tarnfirmen der Agency einen Personenschutz im Angebot hatte (ich sagte natürlich so etwas wie »ich muss erst bei mir im Büro nachsehen«). Ethische Bedenken, im Prinzip einer Gangsterbande zu helfen, ließ ich außen vor, nicht ohne Grund hatten die Kollektoren genau diese ZP ausgesucht.

Obwohl ich Smalltalk überhaupt nicht ausstehen konnte, hatte ich mich vollkommen in eine Art »Smalltalk-Modus« umgeschaltet und versuchte, auf diese Weise den Abend einigermaßen zu überstehen.

Nach dem Essen wurde kurz ein Fernseher eingeschaltet und der Wetterbericht stellte in Aussicht, dass der Sturm in der zweiten Nachthälfte die Küste erreichen würde. Wie zur Bestätigung gab es eine heftige Windböe, die die Fensterläden laut scheppern ließ.

Später in der Gästewohnung konnte Lisa dann endlich die Frage stellen, die ihr wohl schon lange auf der Zunge lag.

»Habe ich zu dick aufgetragen?», fragte sie mit einem besorgten Unterton in der Stimme.

Ich hatte Lisa zwar wie immer in der Vorbesprechung zum Einsatz erläutert, dass wir uns für jeden Einsatz eine möglichst plausibel klingende Geschichte zu unseren Tarnidentitäten zurechtlegen sollten (wir konnten ja wieder schlecht erklären, dass wir Zeitagenten aus der Zukunft waren), aber wir hatten uns deswegen dann nicht mehr abgestimmt. Wie schon bei den »irischen Detektiven« hatte es aber hervorragend funktioniert und Lisa war auf jeden Fall wieder einen Schritt näher zur Übernahme in den aktiven Dienst als Junior Agent.

Die Zentrale hatte sich zurückgemeldet und angefragt, ob ein Rettungseinsatz notwendig erschien. Ich verneinte dies und gab außerdem zu bedenken, dass wegen des Sturms sowieso kein Durchkommen zu mir möglich war, auch mit Fluggeräten des vierundzwanzigsten Jahrhunderts.

Die Nachtruhe währte nur recht kurz, denn wie angekündigt schlug der Sturm in der Nach mit voller Wucht zu. Eigentlich sollten wir ja längst wieder zurück in der Zentrale sein.

Ich hoffte nur, dass unser Versteck nicht vollkommen überflutet wurde. Unser Zeitschiff war zwar kein tauchfähiges und nur in gewisser Weise wasserdicht, tagelanges Herumstehen mit »nassem Bauch« tat der Technik daher bestimmt nicht gut. Vielleicht hätte ich wegen des Sturms doch auf ein tauchfähiges Zeitschiff bestehen sollen.

Wir durften die nächsten Tage auf dem Anwesen des Gangsterbosses verbringen, da wegen des Sturms nicht einmal ansatzweise daran gedacht werden konnte, nur vor das Haus zu gehen. Erst als das sogenannte »Auge« durchzog, beruhigte sich das Wetter schlagartig, so dass mögliche Schäden begutachtet werden konnten. Eine große Palme war entwurzelt worden, aber nicht auf das Haupthaus oder eines der Nebengebäude gestürzt. Überall lagen außerdem Blätter, Äste und Zweige herum und der Gärtner würde einiges zu tun bekommen. Lediglich zwei Dachziegel waren abgedeckt worden, an den Häusern selbst waren aber keine weiteren Schäden zu entdecken. Wie der Gangsterboss stolz berichtete, waren alle Gebäude aus Beton oder massiven Ziegeln errichtet worden, entgegen der ortsüblichen Holzbauweise. Wie zur Bestätigung zeigten die Fernsehnachrichten später auch Aufnahmen von vielen zerstörten Holzhäusern.

Im Obergeschoss des Haupthauses meldete mein CR wieder einmal einen stabilen Empfang und ich versuchte sofort, über den CR dem Schiff einen Zustandsbericht zu entlocken. Zu meiner Erleichterung funktionierte es und ich nahm mir vor, es in mein Übungsprogramm für Lisa aufzunehmen. Ins Schiff war tatsächlich kein Wasser eingedrungen und es gab auch keine größeren Schäden an der Außenhaut, obwohl zwei kleinere Holzlatten auf die Oberseite gefallen waren. Der Wasserstand des Sumpfes, Feuchtgebiets oder was immer die Farm umgab, war aber gestiegen und das Wasser stand bis fast vor die Schuppentür.

Die gute Nachricht war, dass ja nach dem Durchgang Debbys Auges der Wind aus der entgegengesetzten Richtung kommen und so das Wasser wieder von der Farm wegtreiben würde. Soweit die Theorie, die Praxis würde dann der nächste Zustandsbericht zeigen.

Der Gangsterboss bestand dann darauf, uns noch sein ganzes Anwesen zeigen zu wollen. Bauweise und Ausstattung waren vom Feinsten, ich wollte eigentlich gar nicht wissen, woraus dies alles finanziert worden war. Prompt musste ich an meine Börsenhandelsaktivitäten denken, die mir beim letzten Einsatz den ZP einen gewissen finanziellen Vorteil verschaffen konnten. Die Grenzen zwischen »legal« und »illegal« waren auch hier wohl fließend.

Im Souterrain gab es dann das »Spielzimmer« mit einer wohlbestückten Bar, einem Poolbillardtisch, einer Dartscheibe mit elektronischer Punktezählung und etwas, was sofort Lisas Aufmerksamkeit auf sich zog.

»Das ist doch ein Pokertisch, oder?« 

Der Gangsterboss nickte und lud uns ein, an einer Pokerrunde am folgenden Abend teilzunehmen, die zwar regelmäßig stattfand, bei der aber dieses Mal wegen des Sturms einige Teilnehmer abgesagt hatten. Lisa sagte sofort zu, ich aber äußerte Bedenken, da wir nicht so viel Bargeld dabei hatten – wobei ich auch gar nicht wusste, um was für Summen es bei einer Pokerrunde unter Gangsterbossen ging.

Der Gangsterboss hob seine Hände und meinte: »Ihr habt meine Tochter gerettet, betrachtet euch also als eingeladen!« 

Später nahm ich den Gangsterboss kurz zu Seite.

»Ich wäre in Bezug auf meine junge Kollegin sehr vorsichtig, was das Pokern betrifft: Ein Bluff muss kein Bluff sein.« 

Er schaute mich fragend an.

»Sie werden es schon sehen!«, kündigte ich an.

Insgeheim freute ich mich wieder darauf, Lisa gestandene Männer an die Wand spielen zu sehen. Da ich gesehen hatte, wozu sie fähig gewesen war, wollte ich sie aber vorher bitten, sich auf das Spielniveau der anderen Teilnehmer einzustellen und nicht gleich aus allen Rohren zu feuern.

Nach kurzer Zeit entfaltete der Sturm wieder seine volle Wirkung, so dass auch die restlichen Pokerteilnehmer absagen mussten.

Der Gangsterboss meinte daraufhin: »Machen wir eben eine familieninterne Runde – und wir haben ja trotzdem zwei Gäste!« 

Direkt nach dem Abendessen begaben wir uns dann an den Pokertisch. Ehefrau und Tochter blieben im Wohnzimmer, da sie »ganz wichtige« Folgen einer Fernsehserie nicht verpassen wollten.

Lisa hielt tatsächlich ihr Versprechen und spielte am Anfang für ihre Verhältnisse recht defensiv. Dennoch wurde der vor ihr liegende Chipshaufen – der Gangsterboss war natürlich auch hier voll ausgestattet – nicht wirklich kleiner. Ich beobachtete es eine ganze Weile und dann fiel mir auf, dass die Anzahl der Chips zwar gleich blieb, die Farben und damit der Nennwert sich aber veränderten. Daher wehte also der Wind, Poker-Lisa hatte mir noch also nicht alles gezeigt, was sie so konnte.

Als der Bodyguard, der ebenfalls mitspielte, ihr in wenigen Runden fast die Hälfte ihrer Chips abgenommen hatte – ich konnte da nur Absicht von ihr unterstellen –, erhöhte sie ihre Schlagzahl und glich den Verlust nach und nach aus.

Nur kurze Zeit später hatte sie nach einer spektakulären Bietrunde den Bodyguard bankrott gespielt, und wie zur Bestätigung gingen kurz darauf etwa zwei Drittel der Lichter aus.

»Stromausfall, wir sind jetzt auf Dieselaggregat«, stellte der Gangsterboss fest.

Wir verließen das Untergeschoss und gingen wieder in das ebenfalls nur spärlich beleuchtete Wohnzimmer. Draußen rüttelte der Wind weiterhin an den Fensterläden, wobei ich mir einbildete, dass die Wucht des Sturms langsam abnahm.

Der Gangsterboss schenkte sich an der Bar einen Drink ein und nahm mich zur Seite.

»Wir gut, dass ich auf die Warnung gehört hatte«, meinte er, »denn die kleine Rothaarige ist der beste Pokerspieler, der mir seit langem untergekommen ist.« 

»Mir hat sie erzählt, dass sie so ihr Studium finanziert hatte«, erläuterte ich, ohne aus meiner Tarnidentität auszubrechen.

»Das glaube ich sofort!« 

Er zog mich noch weiter zu sich.

»Ich hoffe aber, dass sich meine Tochter all’ das nicht zum Vorbild nimmt.« 

»Obwohl die beiden jetzt ja dickste Freundinnen zu sein scheinen, hoffe ich es aber auch nicht. Sie soll sich lieber einen ruhigen und gut bezahlten Bürojob holen, anstatt sich ins Bein schießen zu lassen. Ich werde meine Kollegin darauf hinweisen.« 

»Ja, richtig, aber auf mich hört sie nicht – nicht mehr. Und auf meine Frau, die ›nur‹ ihre Stiefmutter ist, erst recht nicht.« 

»Ich versucht, was ich tun kann. Wir sollen sowieso nicht so eine enge Beziehung zu einer ZP aufbauen.« 

»ZP?«, frage er.

Oha, fast verplappert… 

»ZP, Zielperson: so bezeichnen wir unsere Klienten.« 

»Die Begriffe hören sich an wie bei einem Auftragskiller.« 

Hart an der Verplappergrenze erwiderte ich: »Nein, die sind drei Bürotüren weiter.« 

Wieder musste ich an die Korrektoren denken und ihre zu erwartenden Reaktionen, wenn ich mittelschwer verletzt von diesem Einsatz zurückkehrte. Außerdem fand ich es mehr als befremdlich, mit deinem Gangsterboss hier über eines seiner »Kerngeschäftsfelder«, nämlich Mord und Totschlag, zu diskutieren. Insofern war ich froh, dass seine Tochter das Wohnzimmer betrat und sich beschwerte, dass der Sturm »so einen Krach machte«.

Ich wollte anschließend auch noch Lisa belehren, keine tiefergehende Beziehung zu einer ZP haben zu dürfen, aber ich hatte gut Reden, hatte ich doch indirekt eine Beziehung zu einer Frau in der Vergangenheit angefangen, die nicht einmal eine ZP gewesen war.

Obwohl der Sturm immer mehr abflaute, bekam ich dennoch nicht ausreichend Schlaf. Am späten Vormittag war der Wind dann fast gar nicht mehr zu spüren und bald kam sogar wieder kurz die Sonne durch. Der Gangsterboss führte seine Schadensaufnahme durch. Weiterhin war die kommunale Energieversorgung unterbrochen und der Bodyguard wurde mit ein paar Kanistern zu einer Tankstelle losgeschickt, um Dieselkraftstoff für das Stromaggregat nachzukaufen. Bis auf ein paar entwurzelte Büsche hielten sich die Schäden aber in Grenzen, als ob es dem Gangsterboss auch finanziell etwas ausgemacht hätte.

Als sich wieder einmal die Sonne zeigte, fasste ich den Entschluss, dass jetzt der ideale Zeitpunkt gekommen war, um zum Zeitschiff zurückzukehren. Die Nachrichten eines örtlichen Radiosenders meldeten zwar viele gesperrte Straßen und sogar für einen Landkreis eine Ausgangssperre, aber zu meiner Erleichterung war der Weg zur Krokodilfarm und auch der Landkreis, in dem die Farm lag, davon nicht betroffen. Der Zustandsbericht des Zeitschiffs klang außerdem so, als ob alles noch intakt war.

So drängte ich Lisa zu einem schnellen Aufbruch und schon bald saßen wir wieder in unserem Fahrzeug, wenn auch nach einem mir viel zu tränenreichen Abschied von der ZP. An einer Stelle mussten wir eine Polizeikontrolle passieren, aber unsere Tarnidentitäten hielten dem stand. Lisa fuhr an mehreren Stellen ein paar Schleifen und Umwege, aber Verfolger zeigten sich nicht. Ich hatte zwar erwartet, dass die Entführer, die gegnerische Bande oder wer auch immer für die versuchte Entführung verantwortlich war, das Anwesen des Gangsterbosses observiert hatten, um uns oder die ZP wieder angreifen oder entführen zu können. Wahrscheinlich hatten sie sich aber wegen des Sturms zurückgezogen, und so kamen wir unbehelligt auf der Farm an.

Im Umfeld der Farm hatte der Sturm recht stark gewütet und weitere Gebäude waren jetzt ganz eingestürzt. Das Zeitschiff war aber noch vollkommen funktionsfähig, der mir über den CR übermittelte Zustandsbericht hatte also der Wahrheit entsprochen. Im Schiff standen mir nun auch noch weitere Medikamente für mein Bein zur Verfügung.

Der Sonnensturm verhinderte allerdings weiterhin unsere Rückkehr in die Zentrale und wir hatten auf der Krokodilfarm – die Tiere waren auch nach dem Sturm immer noch nicht zu sehen – nichts weiteres zu tun, als einerseits dem Wasserstand beim Sinken zuzusehen und andererseits mit dem im Zeitschiff vorhandenen Medikamenten mein Bein so gut wie möglich zu pflegen.

Nach drei Tagen, in denen wir immer noch kein Krokodil gesichtet hatten, kam von den Schiffssystemen der Hinweis, dass auch der Sonnenwind abgeflaut und somit ein Zeitsprung wieder möglich war. Sofort begann ich, Kontakt mit der Zentrale aufzunehmen und bekam auch gleich die Freigabe für Zeitsprung und Rückkehr.

Zügig arbeiteten wir die Startcheckliste ab und kurz nach Sonnenuntergang startete ich. Ja, ich. Zum Bedienen eines Zeitschiffs brauchte ich mein Bein nicht, so hatte ich mich auf dem Pilotensitz eingenistet und steuerte das Schiff trotz Lisas Bedenken wieder zum Sprungpunkt. Wieder einmal wurden meine Quanten ordentlich durchgeschüttelt, als ich in das vierundzwanzigste Jahrhundert zurück reiste.

Dank meiner Verletzung und des »Codes fünfundddreißig« bekamen wir dann zu meiner großen Freude auch noch eine bevorzugte Abfertigung in der Quarantäne. So schnell und unproblematisch könnte es eigentlich immer laufen, sogar der Gehstock stellte keine Probleme dar. Ich verabschiedete mich von Lisa und begab mich schnurstracks in den Sanitätsbereich, um mein Bein untersuchen und behandeln zu lassen. Ein am Stock gehender Agent Cassell war natürlich ein Ereignis, das sich in der Zentrale schnell herumgesprochen hatte, und ich war erleichtert, endlich wieder alleine in meinem Quartier zu sein.

Noch am selben Tag erhielt ich dann die Einladung zur Abschlussbesprechung. Bis auf ein paar Dellen auf der Oberseite des Zeitschiffs und dass ich angeschossen worden war, konnte die Agency uns aber nicht vorwerfen, den Einsatz nicht erfolgreich abgeschlossen zu haben. Ich war aber gespannt, wie die Korrektoren reagieren würden.

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