Kapitel 1
Trainee

»Du hast dir gerade eine Heldenlegende erschaffen, die man sich noch in zehn Jahren am Lagerfeuer erzählen wird.« 

Es gab einen leichten Ruck, als das Raumschiff in die Neutrale Zeitzone hinein flog und Kurs auf die Zeitzentrale nahm.

Endlich war der längste Einsatz beendet, an dem ich je beteiligt gewesen war. Er schien erfolgreich verlaufen zu sein, sonst hätte uns die Agency schon lange wieder nach Hause beordert. Die Schiffspassagiere waren, so wie ich, Zeitagenten der Time Altering Agency, die auch TAA oder einfach nur »Agency« genannt wurde. Die Zeitzentrale, also die Raumstation mit der Zentrale der Agency, befand sich etwas außerhalb der Erde in einer Art Zeitblase, »neutrale Zeitzone« oder kurz »Neutrale« genannt, in der die Zeit zwar konstant weiter lief, aber vom Zeitkontinuum auf der Erde entkoppelt war, so dass Veränderungen in der Vergangenheit sich nicht unmittelbar auf die Neutrale (und damit auf die Zeitzentrale) auswirkten.

Da sich die Erde in einem verheerenden Zustand befand, das heißt große Landstriche durch Umwelt- und Strahlenbelastung unbewohnbar waren, und nur noch etwa siebenhundert Millionen Menschen beherbergte, hatten wir Zeitagenten die Aufgabe, durch gezielte Änderungen an Abläufen in der Vergangenheit die Erde wieder zukunftsfähig und wieder mehr bewohnbar zu machen. Unsere Aktivitäten hatten in den vergangenen Jahren schon zu gewissen Erfolgen geführt; so wurde ein Teil der iberischen Halbinsel wieder besiedelt und die Aussichten für einen Teil Nordamerikas standen auch nicht schlecht.

In der Agency war ich ein Experte für den Zeitraum vom Ende des zwanzigsten bis Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts und meine Tätigkeit hatte die schöne offizielle Bezeichnung »Protektor«. Ein Protektor hatte die Aufgabe, Menschen zu beschützen, das heißt vor allem zu verhindern, dass diese zu einem gewissen Zeitpunkt frühzeitig starben. Die Agency hatte für die Einsätze in der Vergangenheit jeweils gewisse Zielpersonen ausgewählt, kurz ZP genannt, die wichtige Schlüsselpositionen für die zukünftige Entwicklung der Erde darstellten und daher beschützt werden mussten. Niemals waren aber mehrere Teams gleichzeitig in verschiedenen Zeitepochen im Einsatz, um das Risiko eines Zeitparadoxons so gering wie möglich zu halten. Es konnte aber vorkommen, dass bei einem Einsatz mehrere Teams verschiedene ZP zugeordnet bekamen, um so möglichst viel mit möglichst wenig Aufwand bewegen zu können. Zeitreisen waren nun einmal teuer, risikoreich und aufwendig.

Die wichtigsten Agenten wurden »Effektoren« genannt. Dies waren die Zeitreisenden, die aktiv vor Ort in der Vergangenheit eingreifen sollten. Neben den Protektoren gab es bei den Effektoren die sogenannten Korrektoren, die Ereignisse korrigieren. Ein Korrektor hat die Möglichkeit (und die offizielle Erlaubnis der Agency), ZP gezielt zu töten, um sein Ziel zu erreichen. Viele Korrektoren sahen dies sogar als ihre Hauptaufgabe an. Vielleicht war dies der Grund gewesen, die Tätigkeit als Korrektor und nicht als »Liquidator« oder ähnlich zu bezeichnen, damit dies dann nicht so offensichtlich hervortrat. Und vielleicht erklärte das auch, dass sich Protektoren und Korrektoren nicht wirklich leiden konnten. Ich in meiner Eigenschaft als Protektor hatte noch nie töten müssen – und wenn es nach mir ginge, dann konnte es auch so bleiben.

Im Schiffsantrieb werkelten irgendwelche Gravitationswellen und Antimaterie trieb dort ihr Unwesen – und dies wollte ich nicht wirklich direkt neben meinem Quartier haben. Daher war es für mich eine große Erleichterung, als die Antriebssektion vom Schiff abgekoppelt und von einem kleinen Schlepper weggebracht wurde. Ein anderer Schlepper zog das Zeitschiff zum Hangar. Es war nach dem Abkoppeln des Antriebs noch etwas Restgravitation im Boden des Schiffs, so dass ich mich nur ein wenig leichter fühlte, aber noch nicht schwebend vom Sitz abhob. Als das Schiff den Hangar erreichte, wurde die Gravitation dann wieder stärker.

Die Zentrale bestand aus zwei großen Hauptsektionen, »Castor« und »Pollux« genannt, die durch den Quertrakt mit den Schiffshangars verbunden waren. Das ganze Gebilde hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Fitnesshantel. Mein Quartier befand sich in der Untersektion Pollux-Fünfzehn-Zwei.

Das Schiff schwebte langsam auf die großen Schleusen zu, durch die man in das luftgefüllte Innere des Hangars gelangen konnte. Es stoppte kurz, bis sich das äußere Tor geschlossen hatte, die Schleuse sich mit Luft gefüllt hatte und das innere Tor geöffnet wurde. Nun waren es nur noch wenige Meter bis zum vorgesehenen Abstellplatz und der Pilot rangierte das Schiff vorsichtig in eine Lücke zwischen zwei anderen abgestellten Schiffen. Aus meinem Bullauge konnte ich sehen, wie dann eine kleine Fähre an unserem Schiff andockte. Ich öffnete meinen Sicherheitsgurt, nahm meine Reisetasche aus der Ablage und bestieg durch die Luftschleuse die Fähre. Diese brachte uns dann direkt zur Luftschleuse der Quarantänestation. Wie immer fand ich die Quarantäneprozedur vollkommen überflüssig und zeitraubend, da ich ja wohl davon ausgehen konnte, dass die Medizintechnik des vierundzwanzigsten Jahrhunderts mit Keimen, Viren, Bakterien undsoweiter aus vergangenen Jahrhunderten vernünftig umgehen konnte und man sich den ganzen Quarantäneschnickschnack eigentlich schenken konnte. Eigentlich musste es nämlich genau anders herum sein, wir sollten vielmehr dafür sorgen, nichts in die Vergangenheit einzuschleppen. Die Evolution machte ja auch bei Bazillen keine Pause, und so wäre es ziemlich fatal, die Vergangenheit mit irgend etwas zu infizieren, was womöglich auch noch außerirdischen Ursprungs war oder außerirdische Anteile enthielt. Da hat man dann gleich ein Paradoxon fabriziert, wenn wir bei einem Einsatz die halbe Menschheit ausrotteten, anstatt ihr zu helfen. Das Ausrotten würden die Menschen zwar einige Jahrhunderte lang selbst ausgiebig tun, aber dann kam die Agency, um es einzudämmen – und ich war schließlich ein Protektor. Leider hörte trotz meiner Position in diesem Punkt niemand auf mich, so konnte ich im Falle eines Falles nur sagen, ich hätte mehrfach davor gewarnt.

Wieder einmal mussten daher meine Mitbringsel und ich zwangsweise die Quarantäne durchlaufen. Die Agency hatte umfangreiche Richtlinien aufgestellt, die haarklein regelten, welche Gegenstände in welcher Anzahl aus der Vergangenheit mitgebracht werden durften. Die Bücher, die ich als Mitbringsel in einer kleinen Plastiktüte mit mir führte, waren ebenfalls reglementiert. Nach dem Wortlaut der Quarantänerichtlinien war jedes Stück Papier aus der Vergangenheit mit besonders vielen bösen Sporen durchsetzt – das galt eben besonders auch für Bücher. Diese mussten daher ebenfalls die Quarantäne durchlaufen. Auch hier vertrat ich die genau entgegengesetzte Meinung, denn was hätte es für Folgen auch in diesem Jahrhundert, wenn ich erst solche Sporen absichtlich oder unabsichtlich in die Vergangenheit einschleppte.

Wie immer hieß es dann, in verschiedenen Schlangen vor verschiedenen Stationen zu warten. Plötzlich kam eine leichte Unruhe auf, denn jemand hatte Kaffeebohnen mitgebracht, und dort hatten die Scanner wohl Insektenlarven oder Ähnliches gefunden. Ich bekam aber nicht mehr alles mit, da ich jetzt endlich an der Reihe war. Als Erstes kam die eigentliche Quarantänekabine an die Reihe. In der Kabine musste ich mich dann vollkommen ausziehen, die Kleidungsstücke in einen Schacht werfen, einen Finger dann auf eine Blutentnahmestation legen und eine Atemprobe durch Pusten in ein kleines Röhrchen abgeben. Durch eine Tür ging es dann weiter in eine Reinigungskabine, die eher eine »Trocken-Duschkabine« war. Das Gerät surrte, es kribbelte am ganzen Körper und schon nach fünf Sekunden war ich mit der Prozedur fertig. Danach konnte ich mir eine Art Bademantel aus reißfestem Papier (das Material fühlte sich zumindest so an) anziehen, durch eine weitere Schleuse gehen und in einem Warteraum Platz nehmen.

Ich nutzte die Wartezeit, um meine elektronische Post abzurufen und schon einmal damit anzufangen, meinen Einsatzbericht zu schreiben. Nach nicht allzu langer Zeit bekam ich dann die Quarantänefreigabe und konnte in eine weitere Schleuse gehen. Dort zog ich den Papierbademantel aus, warf ihn in eine Plastiktonne und konnte mir aus einem Schrank frische Unterwäsche, frische Socken, frische Schuhe und eine frische Zeitagentenuniform nehmen und anziehen. Aus der Schleuse heraus betrat ich den großen Empfangsbereich der Zeitzentrale, aber vorher musste ich noch einen Kontrollpunkt des Militärs passieren.

Als ich an die Reihe kam, schaute der hinter dem Schalter sitzende Soldat mich prüfend an.

»Name?« 

»Cassell, Tim Cassell, Special Agent«, antwortete ich und hielt ein Auge vor den Iris-Scanner.

»Hier ist aber Timothy angegeben«, bemängelte der Soldat.

Der Soldat schien wohl neu auf diesem Posten und dazu auch noch ein ganz Überkorrekter zu sein.

Langsam mussten die mich doch kennen, ich war schließlich der dienstälteste Protektor, der noch regelmäßig Außeneinsätze absolvierte. Und ich war aber auch viel zu erschöpft, um jetzt langwierige Diskussionen durchstehen zu können.

Ein Sergeant kam aus dem Hintergrund und fragte: »Ist hier etwas nicht in Ordnung?« 

Ich antwortete: »Aber keineswegs, Sergeant!« 

Er beugte sich vor und betätigte den Schalter für die Türfreigabe.

»Willkommen in der Zentrale, Agent Cassell. Schön, dass sie alle wieder am Stück zurückgekommen sind!«, sagte er fröhlich.

Ich verbeugte mich leicht.

»Vielen Dank, Sergeant!« 

Der Soldat musste sich bestimmt nachher vom Sergeant ein paar warme Worte anhören, den dienstältesten Protektor, der noch regelmäßig Außeneinsätze absolvierte, nicht erkannt zu haben.

Der Foyerbereich war recht ansprechend gestaltet, da hier teilweise auch Zivilisten, wie hochrangige Politiker, empfangen wurden. An der gegenüberliegenden Wand befand sich die Empfangstheke, linker Hand gab es einen Wartebereich mit ein paar Sofas und kleinen Tischen sowie einem Getränkeautomaten. Rechts gab es viele Türen mit entsprechenden Hinweisschildern, grün umrahmt für den öffentlichen, rot umrahmt für den nichtöffentlichen Teil der Zentrale. An der Wand über dem Wartebereich wurden auf großen Bildschirmen die Erfolge der Agency in bunten Zahlenkolonnen und ebenso bunten Torten- und Säulengrafiken verkündet. Irgendwo dort in den Zahlen schlug sich auch mein Erfolg nieder, mir war aber zuallererst wichtig, wieder heil vom Einsatz zurückgekommen zu sein.

In der Mitte des Foyers hatte die Agency kurz nach der Eröffnung der Zentrale eine kleine Messingbüste auf einem weißgrau glänzenden Marmorsockel aufgestellt. In den Sockel war in großen golden unterlegten Buchstaben SCHRŒDINGER eingraviert worden.

Wie immer strich auch ich der Büste über die Nase, die deswegen schon ganz abgewetzt und glänzend aussah. Wir Zeitagenten waren schon immer ein wenig abergläubisch und so hatte sich der Brauch mit der Schrödinger-Büste entwickelt. Es durfte nach der Rückkehr von einer Zeitreise auf keinen Fall Herr Schrödinger vergessen werden! Der österreichische Physiker Erwin Schrödinger lebte Ende des neunzehnten bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Grundlagenforschung zur Quantenmechanik legten schließlich den Grundstein dafür, dass ein paar Jahrhunderte später auch Zeitreisen möglich wurden. So war es nur konsequent, dass die Agency seine Büste an prominenter Stelle aufgestellt hatte.

Noch eine weitere Schleuse war dann zu durchschreiten, um in den nichtöffentlichen Bereich der Zentrale zu gelangen – und dann war ich schon fast zu Hause.

Einige Kollegen gingen sofort nach der Ankunft ins Roboterbordell (von dem ich überhaupt nichts hielt), ich dagegen freute mich mehr auf die auf dem letzten Einsatz gekauften Bücher, die endlich aus der Quarantäne freigegeben worden waren. Bevor ich also mein Quartier aufsuchte, ging ich noch zu einem Schalter der Quarantäneabteilung, um die Bücher dort abzuholen.

Hinter der Schleuse forderte ich dann per Knopfdruck einen Wagen der Kabinenbahn an, welche die einzelnen Sektionen der Zentrale miteinander verband. Normalerweise ging ich ja zu Fuß – alleine schon, um den Muskelschwund aufgrund der verringerten Schwerkraft vorbeugen zu können –, aber jetzt war ich vom Einsatz ziemlich erschöpft und wollte eigentlich nur kurz etwas essen und dann gleich ins Bett gehen. Die Kabine hatte ich zum Glück für mich alleine und konnte mich auf der Sitzbank ausbreiten. Schon nach nicht einmal einer Minute ertönte ein Gong und eine Stimme sagte dann »Pollux, Sektion Fünfzehn, Ebene Zwei!« Die Kabine wurde langsamer, kam dann vollständig zum Stillstand und die Tür öffnete sich. Ich musste nur einen langen Korridor queren und kam dann zu der Tür, durch die man in den Vorraum zu meiner und noch zwei anderen Quartieren gelangte. Im Vorraum selbst schaute ich in mein Postfach, fand ein Paket, welches wohl nur noch weitere Bücher enthalten konnte, entnahm es und klemmte es unter den Arm. Noch eine einzige Tür musste ich öffnen – und dann war ich endlich zu Hause.

Ich schaute mich um. Mein Quartier war eigentlich recht geräumig, wie es sich für den dienstältesten Protektor, der noch regelmäßig Außeneinsätze absolvierte, auch gehörte.

Als erstes ins Auge stach natürlich mein großes Bücherregal, welches eine ganze wand einnahm. Von einem normalen Bücherregal unterschied es sich vor allem durch die Spanngurte, die vor den Büchern gespannt waren und die verhindern sollten, dass bei einem Ausfall der künstlichen Gravitation diese im ganzen Raum umher schwebten. Die Konstruktion sah nicht sehr schön aus, aber sie war ein Kompromiss mit den Vorschriften der Agency. Daneben stand ein Sessel, den ich mit einer Stehlampe und einem kleinen Beistelltisch zu meiner »Leseinsel« gemacht hatte. Der Stapel Bücher auf dem Tischchen neigte sich dem Ende zu, und so war ich froh, Nachschub aus der Quarantäne bekommen zu haben. Ein Sofa, ein weiterer Couchtisch, ein Sideboard und ein mittelgroßer Schrank vervollständigten das Wohnbereichsensemble.

Ich legte meine Sachen und das Paket erst einmal auf den Couchtisch, zog meine Schuhe aus uns schleuderte sie in eine Ecke. Im Badezimmer setzte ich meine Kontrollrunde des Quartiers fort. Der Raum war zwar sehr klein, so dass nur eine Person dort Platz fand, aber er war funktional. Mehr als Toilette, Dusche, Spiegel und Waschbecken brauchte ich nicht; sonst stand mir immer noch der Wellnessbereich in Pollux-Zwei zur Verfügung.

Diese paar Quadratmeter in einer geostationären Umlaufbahn viele Kilometer über der Erdoberfläche waren nun also seit vielen Jahren mein Zuhause. Einmal Zeitagent geworden und in die Neutrale umgezogen gab es kein Zurück mehr. Nun war die Erdoberfläche, allen Bemühungen der Agency zum Trotz, noch nicht wirklich der Ort, an dem man gerne wieder verweilte; insofern war zur Zeit die Zentrale tatsächlich die bessere Wohnortwahl.

Ich war viel zu müde und hatte auch kein Bedürfnis mehr, noch irgendjemand anderen zu sehen (geschweige denn zu sprechen), also ging ich nicht mehr ins Kasino, sondern bestellte mir über den Kommunikationsring, kurz CR für Communication Ring genannt, den ich wie jeder Zeitagent trug, einen kleinen Imbiss in mein Quartier. Damit betrachtete ich meine heutige Kommunikation für beendet, nahm den CR vom Finger und legte ihn in seine Ladestation auf meinem Nachttisch.

Schon nach etwa zehn Minuten klingelte es an der Tür und ein Roboter stand mit dem Essen davor. Ich hatte zwar keine so große Portion bestellt, aber dennoch war ich dann gut gesättigt und hatte auch die endgültige Bettschwere erreicht. Die Einsatzendebesprechung war in drei Tagen angesetzt und der späteste Abgabetermin für die Einsatzberichte in zweien, so dass ich noch ausreichend Zeit hatte, den Bericht fertigzustellen und mich vor allem vom Einsatz erholen zu können.

Ich schaute auf die Uhr und es war bereits zehn Minuten vor Mitternacht nach der in der Zentrale gültigen Zeit. Während eines Einsatzes galt natürlich, wenn möglich, die jeweilige Ortszeit. Mir waren also beim Eintritt in die Neutrale ein paar Stunden abhanden gekommen. Um nicht gleich vollkommen aus dem Rhythmus zu kommen, beschloss ich, sofort ins Bett zu gehen. Duschen brauchte ich nicht mehr, das hatte ich bereits in der Quarantäne erledigt.

Ich legte mich ins Bett, löschte das Deckenlicht und nur noch die kleine Bereitschaftsanzeige über der Schleuse zur Notausstiegskapsel tauchte die Zimmerdecke darüber in einen leichten grünlichen Schimmer.

Die nächsten Tage verließ ich nur kurz mein Quartier, meistens nur, um im Fitnessraum der Sektion ein paar Kilometer zu laufen oder Rad zu fahren. Auch das Essen ließ ich mir immer ins Quartier kommen und schaffte es in der Zeit, immerhin fast zwei Bücher durchzulesen. Auch den Bericht konnte ich rechtzeitig fertigstellen und so blieb mir fast ein ganzer Tag für’s Nichtstun übrig.

Erst kurz davor bekam ich auch die Einladung zur Abschlussbesprechung und machte mich bereits eine halbe Stunde früher auf den Weg, da ich zu Fuß gehen und nicht die Kabinenbahn nehmen wollte. Auf dem Weg traf ich einen Kollegen aus einer anderen Protektoreneinheit, der mich ratlos anschaute. Er war zwar bei diesem Einsatz nicht dabei gewesen, sollte aber trotzdem an der Besprechung teilnehmen.

»Castor-Zwei? Was sollen wir denn in Castor-Zwei? Da sind doch das Besucherzentrum und irgendwelche Veranstaltungsräume. Was hat die Chefetage dort mit uns vor?«, fragte er.

Ich entgegnete: »Das weiß ich auch nicht, aber es lässt Schlimmes vermuten.« 

In der Sektion Castor-Zwei angekommen, schien sich dieser Verdacht auch sofort zu bestätigen.

Vor einem Veranstaltungsraum hatten sich schon diverse hohe Tiere, deren Namen ich nur teilweise kannte, aus den verschiedenen Abteilungen der Agency versammelt. Ich hatte leider ein Namensgedächtnis wie ein Goldfisch – die es übrigens dank der Agency seit etwa drei Jahren wieder auf der Erde gab.

Der oberste Chef der Agency trat ans Rednerpult und hielt seine Rede, in der er mehrmals den »sehr erfolgreichen Einsatz« betonte. Die Rede, die wir wahrscheinlich schon alle in großen Teilen in- und auswendig kannten, hatte den üblichen Anfang, wie wichtig unsere Zeitreisen (er sprach tatsächlich von »unsere«, obwohl er ausschließlich hinter seinem Schreibtisch saß) für den Fortbestand der Menschheit waren undsoweiter blablabla. Auch baute er seine üblichen Zitate ein und er hatte zur Abwechslung auch einmal ein neues ausgegraben: »Ein kluger Mensch hat vor langer Zeit einmal gesagt: ›Geschichte wiederholt sich nur dann, wenn man nichts daraus gelernt hat‹.« 

»Der Chef und seine Zitate wieder«, flüsterte ein neben mir sitzender Zeitagent, »mal sehen, wie viele er dieses Mal wieder schafft.« 

Ich musste leise in mich hinein lachen und bemühte mich, dabei nicht unnötig aufzufallen.

Und als ob das noch nicht genug war, schloss die Rede wie jedes Mal mit dem Statistikteil ab. Leider war der oberste Chef durch und durch ein Statistikfan und schon bald wurden wir wieder mit vielen Zahlen erschlagen.

Dieses, jenes und welches war durch den Einsatz namens Milan um soundsoviel Prozent gestiegen und dieses, jenes und welches war um soundsoviel Prozent zurückgegangen, so dass jetzt soundsoviel Prozent der Erde wieder bewohnbar waren und die Erdbevölkerung um soundsoviel Prozent zugenommen hatte. Das Ganze konnte man bald im offiziellen Abschlussbericht nachlesen und die wichtigsten Zahlen sah man sowieso auch auf den Bildschirmen im Foyer, insofern fand ich diese ganze Zahlenvorleserei reichlich überflüssig.

Nach schier endlosen Minuten (»Die haben doch hier extra ’was an der Neutralen gedreht«, flüsterte mein Nebensitzer) war die Rede beendet und der lang anhaltende Applaus rührte wohl auch daher, dass sie endlich beendet war.

Es folgte nun noch der Teil einer großen Einsatzabschlussveranstaltung, den ich mehr als alles andere hasste, denn alle teilnehmenden Agents mussten nun an der versammelten Chefetage vorbei defilieren, viele Hände schütteln und sich viele warme Worte anhören.

Mein Chef, der Leitende Protektor, hielt mich dann kurz zurück und ich wurde noch zu ihm ins Büro gebeten.

»Agent Cassell!« 

Wenn mein Chef mich auf diese Weise und nicht mit »Tim« ansprach, war auf jeden Fall höchste Vorsicht geboten.

»Oder soll ich besser sagen: Senior Special Time Agent Cassell?« 

Hatte er wirklich Senior Special Time Agent gesagt? War es etwa eine Beförderung?

Die ganze Aktion stellte sich tatsächlich als Beförderung »für meinen herausragenden Einsatz für die Agency« heraus. Nun gut, als dienstältester Protektor war so eine Beförderung nur eine Frage der Zeit – wobei man bei meinem Job ja die Zeit generell in Frage stellen kann. Immerhin war mein Chef so entgegenkommend gewesen, die Beförderung nicht vor versammelter Mannschaft durchzuexerzieren, was ich ihm – trotz aller seiner Chef-typischen Unsinnsaktionen – hoch anrechnete. Ich bekam mehrmals einen langen Händedruck, noch ein paar warme Worte und zum Schluss noch eine Urkunde ausgehändigt.

Ich hoffte nur, dass die Beförderung nicht nur Schreibtischtätigkeiten zur Folge hatte, sonst würde ich wahrscheinlich vor Langeweile sterben. Der Chef hatte dies wohl schon geahnt und gab mir zu verstehen, dass ich einen bestimmten Zeitraum am nächsten Tag für einen Termin freihalten sollte. Leider konnte ich ihm nicht entlocken, was nun genau auf mich (als »Belohnung« zusätzlich zu meiner Beförderung?) wartete.

Endlich konnte ich mich in mein Quartier zurückziehen und harrte der Dinge, die am nächsten Tag auf mich zukommen sollten.

Am nächsten Tag um die Mittagszeit war ich dann schlauer.

Nach einer langen Trainingseinheit im Fitnessraum und einem ebenso langen daran anschließenden Frühstück, um die Kalorien gleich wieder aufzufüllen, machte ich mich auf den Weg und traf unterwegs einen Korrektor – aber zumindest einen von der angenehmeren Sorte.

»Auch nach Pollux-Eins beordert?«, fragte ich ihn.

Er antwortete: »Ja. Wir sollen dort in der Quarantänestation die neuen Trainees von der Erde abholen.« 

Daher wehte also der Wind, das war es also, was mein Chef in seiner üblichen »das Gegenteil von ›gut‹ ist ›gut gemeint‹«-Verhaltensweise mir als Belohnung auserkoren hatte. Ich sollte wahrscheinlich den Nachwuchs, einen Trainee, ausbilden.

In einem an den Empfangsbereich anschließenden Raum waren dann schon alle Trainees angetreten. Außer einem rothaarigen Mädchen sah ich nur Jungen. Ich konnte nicht anders, als sie als »Mädchen« und »Jungen« zu bezeichnen, denn alle sahen verdammt jung aus. Normalerweise bekamen wir hier in der Zentrale die Trainees nicht wirklich zu sehen. Vielleicht wurde ich nun doch alt, und mein Chef hatte beschlossen, dass ich meinen Nachfolger einarbeiten sollte. Diese Kinder sollten also unseren Nachwuchs darstellen, das sah nach einer Menge Arbeit aus.

Der Zeitagentennachwuchs wurde in einem Trainingsgelände der Agency auf der Erde, das in einer eigenen kleinen Zeitblase lag, ausgebildet und auf den Einsatz von der Zentrale aus vorbereitet. Die vor mir stehenden Trainees waren jetzt also diejenigen, die das harte Auswahlverfahren überstanden und nun in die nächste Stufe hinüber gewechselt hatten.

Nachdem sich die Reihen schon ziemlich geleert hatten, wurde vom Ausbilder »O’Donoghue, Lisa!« aufgerufen und das rothaarige Mädchen trat vor. Der irische Name passte natürlich perfekt zum Erscheinungsbild.

»Agent Cassell, Trainee Agent O’Donoghue ist für Sie«, sagte der Ausbilder.

Ausgerechnet das rothaarige Mädchen! Hatte mein Chef etwa mitbekommen, dass ich nicht so oft (oder eher gar nicht) ins Roboterbordell ging und hatte mir ein echtes weibliches Wesen ausgesucht? Nein, so viel Intelligenz traute ich ihm, ehrlich gesagt, nicht wirklich zu.

Bis jetzt war Lisa O’Donoghue der einzige Trainee, der den Protektoren zugeordnet war. Sie kam auf mich zu, salutierte und gab mir die Hand.

»Trainee Agent O’Donoghue zu Ihren Diensten, Agent Cassell!« 

»Nicht so förmlich!«, musste ich sie bremsen. »Ich heiße Tim, das reicht vollkommen.« 

»Danke, Sir, ääh, Tim«, stammelte sie.

Als wir zu dem uns zugeteilten Besprechungsraum aufbrachen, hörte ich zwei Korrektoren miteinander tuscheln.

»Der Cassell kriegt immer die schönen Frauen…«, konnte ich trotzdem deutlich verstehen.

Bevor ich etwas erwidern konnte, meinte Lisa, die es wohl auch verstanden hatte: »Ich kann nichts dafür, dass sich keine Mädchen als Korrektor beworben haben!« 

Sie war natürlich, ohne es zu wissen, mit Anlauf im Fettnapf gelandet und ich nahm Lisa erst einmal zur Seite.

»Ich wäre mit so frechen Sprüchen gegenüber Korrektoren etwas vorsichtiger«, sagte ich leise.

Als Erstes musste ich sie wohl dringend über die eigentlich schon seit der Gründung der Agency bestehende und zwar vollkommen überflüssige, aber dennoch vorhandene Feindschaft zwischen Protektoren und Korrektoren aufklären.

Schön, dass es aber jemanden gab, der nicht – wie die meisten anderen – Korrektor werden, also nicht nur offiziell »Leute abknallen« wollte. Nachwuchs bei den Protektoren konnten wir immer gebrauchen, und ich wollte Lisa nicht gleich am ersten Tag nachhaltig verschrecken.

Den restlichen Tag verbrachten wir im Besprechungsraum. Mein Chef hatte mir ihre Personalakte elektronisch zugesandt, und so gingen Lisa und ich diese gemeinsam durch. Zumindest in der Theorie schien das Mädchen alle Voraussetzungen schon fast überzuerfüllen, die notwendig waren, um mit mir zusammen als Korrektor im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert eingesetzt werden zu können.

Nachdem mein letzter Partner in den Ruhestand versetzt worden war, hatte es sich tatsächlich so ergeben, dass ich die letzten Einsätze alleine absolviert hatte, und einen Korrektor als Partner wollte ich auf keinen Fall haben. Vielleicht hatte mein Chef hier mir wirklich etwas Gutes getan, denn ein fester Partner-Zeitagent vereinfachte die Einsätze doch ungemein. Er hatte außerdem gleich einmal einen kleinen Einsatz am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts für uns ausgesucht, der so geplant worden war, dass er ohne direkten Kontakt zur ZP, die wir beschützen sollten, oder anderen Personen auskommen sollte. Der Einsatz hatte den Codenamen Otter und da die Einsätze generell recht merkwürdige Namen besaßen, fragte ich mich, wer sich diese eigentlich immer ausdachte.

Spätnachmittags bestellten wir uns etwas zu Essen in den Besprechungsraum, da auch Lisa kein wirkliches Verlangen verspürte, ins Kasino oder in die Deja vu-Bar unter viele Menschen zu gehen. Die Gerüchte würden sowieso ins Kraut schießen, wenn ich ständig mit einer jungen rothaarigen Frau zusammen gesehen werde. Lisa war zwar eigentlich gar nicht mein Typ – nicht einmal ansatzweise –, aber auch das konnte die Gerüchte wohl nicht wirklich wirksam verhindern.

In einem unglaublichen Anfall von Selbstironie, den man der Agency gar nicht so zugetraut hatte, war der Name Deja vu-Bar entstanden. Lisa bemerkte vollkommen korrekt, dass es bei unseren Einsätzen eigentlich gar kein Deja vu geben kann oder darf, da man nicht beliebig oft an den gleichen Zeitpunkt zurückgehen konnte, bis es »passte«. Die Gefahr, dann ein heftiges Paradoxon zu erzeugen, wurde mit jedem Mal größer. In der Bar waren sowieso immer die gleichen Leute zu finden, und dann waren es auch noch überwiegend Korrektoren, die ich überhaupt nicht leiden konnte.

Nach dem Essen hatten wir die Personalakte vollständig durchgearbeitet und ich beschloss, Feierabend zu machen. Ich hatte mit Lisa vereinbart, dass wir uns noch im Fitnessraum meiner Sektion treffen wollten. Sie trug dann natürlich hautenge halblange schwarze Leggings und ein leuchtend türkisfarbiges und ebenso hautenges ärmelloses Sportshirt, das einen wirklich auffälligen Kontrast zu ihren zu zwei Zöpfen gebundenen roten Haaren darstellte. Jetzt würden die schon vermuteten Gerüchte durch die Decke gehen, denn sie sah in der Sportkleidung wirklich aufreizend aus – und wir hatten uns ja genau hier getroffen. Ich stand da aber über den Dingen, denn es gab wirklich Schlimmeres, als wenn das Gerücht verbreitet wurde, Tim Cassell hatte eine Liebesbeziehung zu einer hübschen jungen Frau in hautenger Sportkleidung. Nun war ich in der Zentrale aber auch nicht gerade für mein ausuferndes Liebesleben bekannt.

Wie vom Chef geplant, war ich die nächsten Tage damit beschäftigt, Lisa durch die verschiedenen Abteilungen der Zentrale zu führen, so dass sie die verschiedene Arten von Zeitagenten in natura kennenlernen konnte.

Dadurch konnten wir auch in das Allerheiligste der Agency vordringen. Hier wurden die Einsätze geplant, die bestimmte in der Vergangenheit liegende Ereignisse zu Gunsten des vierundzwanzigsten Jahrhunderts verändern sollten.

Da sich dieser Bereich am anderen Ende der Zentrale in Castor-Zehn befand, nahmen wir dieses Mal doch die Kabinenbahn, um dorthin zu gelangen. Wieder mussten wir durch mehrere Schleusen gehen, aber nun waren dort auch Soldaten stationiert, die mich sofort erkannten und mich gleich passieren ließen.

Als betreuender Senior Agent hatte außerdem die Aufgabe bekommen, meine neue Trainee auf ihr Wissen abzufragen. Da wir als Erstes einen Termin bei einer Kollektorin hatten, fragte ich Lisa auf dem Weg dorthin nach den Aufgabe eines Kollektors. Sie hatte auf Anhieb eine richtige Antwort parat.

»Ein Kollektor trägt aktuelle Gegebenheiten zusammen, die einen Eingriff in der Vergangenheit erforderlich machen. Diese kommen dann im Direktionsrat zur Abstimmung.« 

Lisa schaute mich an.

»Nur weiter, das war schon korrekt«, spornte ich sie an.

»Ein Konnektor ermittelt dann die Abläufe in der Vergangenheit, die zu einem bestimmten von einem Kollektor ermittelten Ereignis führen, und verbindet diese zu einer Ereigniskette, auch mit möglichen Alternativen, die dann noch einmal gesondert abgestimmt werden. Er arbeitet Eingriffe aus, die dann in der Vergangenheit ausgeführt werden müssen. Kollektor und Konnektor können auch eine Person sein.« 

Und tatsächlich war die Frau, die wir in ihrem Büro besuchten, Kollektor und Konnektor in Personalunion, denn aus Kostengründen hatte die Agency diese Tätigkeiten teilweise personell zusammengefasst. Die Kollektorin war schon fast so lange wie ich bei der Agency und wir hatten gemeinsam schon viele Einsätze durchgestanden.

»Schön, dass auch einmal die Protektoren Nachwuchs bekommen«, meinte sie, als ich ihr Lisa vorstellte. »Leider wollen viele doch Korrektor werden, weil es mehr ›Action‹ versprach.« 

Das Büro bestand fast vollständig aus Bildschirmen, auf denen verschiedene Familienstammbäume, historische und moderne Dokumente, Landkarten und noch vieles mehr zu sehen waren. Ich schaute mir einen der Bildschirme genauer an und wurde auf das angezeigte Jahr aufmerksam.

»1906?«, fragte ich.

Sie bestätigte: »Ja, das wird euer nächster Einsatz werden.« 

Endlich konnte ich direkt an der Quelle meine Beschwerde über diesen Einsatz loswerden, denn 1906 war nun einmal sehr an der unteren Grenze meiner Zuständigkeit; ich bevorzugte ja eher ein Jahrhundert später. Die Kollektorin erzählte mir darauf etwas von Aufwand und Ertrag und dass dies den besten Einstieg für einen Trainee darstellen sollte. Zunächst aber mussten ihre Ausarbeitungen noch bei einem Lektor vorbei und sofort konnte mir Lisa auch die Aufgaben eines Lektors aufsagen.

»Ein Lektor überprüft die Ausarbeitungen von Kollektor und Konnektor, bevor sie im Direktionsrat abgestimmt werden und zur Ausführung kommen.« 

Da der Termin mit dem Lektor aber erst für den Folgetag vereinbart worden war, gab ich Lisa für den Rest des Tages frei und konnte mich so ungestört wieder meinen Büchern widmen.

Wieder mussten wir die Sicherheitsschleusen passieren, um zum Büro des Lektors zu gelangen. Auch hier hatte die Agency früher von mehreren Zeitagenten ausgeführte Tätigkeiten zusammengefasst, daher waren jetzt Lektor, Retroreflektor und Inspektor eine Person, welche dann die jeweilige Tätigkeit ausführte. Je nachdem, im welchem Stadium sich ein Einsatz befand, wechselte die Rolle.

Der Zeitagent, den wir besuchten, hatte sich aus der direkten Arbeit bei Einsätzen vor Ort in der Vergangenheit zurückgezogen und war daraufhin Lektor und später auch Retroreflektor und Inspektor geworden. Sein Büro vollkommen anders aus als das Büro der Kollektorin, die wir gestern besucht hatten. Der augenfälligste Unterschied war, dass nur etwa ein Viertel der Bildschirme der Kollektorin vorhanden waren. Zur Zeit war er damit beschäftigt, den endgültigen Abschlussbericht des Einsatzes Milan fertigzustellen, an dem ich auch beteiligt war und der mir die Beförderung (und Lisa) eingebracht hatte. Wie sich herausstellte, sollte er auch der Retroreflektor sein, der Lisa und mich bei unserem ersten Einsatz begleitete.

Er erzählte dann ausgiebig von den spektakulärsten Einsätzen am Anfang seiner Karriere bei der Agency, als diese gerade gegründet worden war, man gerade gelernt hatte, kontrollierte Zeitreisen durchzuführen, aber noch nicht alles so technisch reibungslos ablief, wie wir es heute gewohnt waren. Ich musste ihn bremsen, weil Lisa und ich noch einen Folgetermin hatten.

Auf dem anschließenden Weg ganz tief in eine untere Ebene der Zentrale brachte ich ihr noch den Begriff »Seemannsgarn« bei und dass sie nicht alles für bare Münze nehmen sollte, was der Kollege von sich gegeben hatte. Sie kicherte und versprach mir, sich zu gegebener Zeit daran zu erinnern.

Die nächste Station auf Lisas Rundgang zum Kennenlernen der Zentrale und der Aufgaben der Agency hatte ich als kleine Überraschung für sie ausgesucht. Wir bewegten uns nämlich zur Ausrüstungsabteilung, welche die Zeitagenten für Einsätze mit passender Kleidung und passenden Ausrüstungsgegenständen versorgte. Nachdem wir kurz in einer großen Halle vorbeigeschaut hatten, in der Fahrzeuge, Waffen und alles Mögliche aufbewahrt und gewartet wurden, hatten wir noch etwas Zeit und ich konnte sie nach den Aufgabenbeschreibungen fragen, was ich vorhin wegen des Redeschwalls des anderen Zeitagenten vollkommen vergessen hatte.

Wieder konnte Lisa mir umfassend Auskunft geben.

»Ein Retroreflektor überwacht bei laufenden Einsätzen die aktuellen und historischen Zeitläufe auf Wirksamkeit der Eingriffe in der Vergangenheit und auf ein mögliches Paradoxon. Ein Inspektor bewertet nach einem Einsatz die Eingriffe in die Zeitläufe.« 

Sie hatte das wirklich schön auswendig gelernt und ich konnte nur hoffen, dass sie sich ebenso im praktischen Einsatz bewähren würde.

Dann endlich konnten wir die Schneiderei betreten und Lisa war sofort begeistert. An fast allen Wänden hing Damenbekleidung in allen Größen, Farben und Formen und aus allen möglichen Zeitepochen. Herrenbekleidung dagegen nahm nur einen geringen Teil des Raumes in Anspruch, da wir wohl auch über Jahrzehnte hinweg Gleichartiges anziehen konnten, ohne dass es groß auffiel.

Die Chefschneiderin begrüßte uns und hatte auch gleich für uns eine Aufgabe parat. Falls wir bei unserem Einsatz im Jahr 1906 doch die Notwendigkeit hatten, uns unter Einheimische zu begeben, hatte die Schneiderei ein Kleid für Lisa und einen Anzug für mich fertiggestellt. Zuerst war Lisa an der Reihe, sie bekam einen Berg (anders konnte ich es nicht bezeichnen) hellbraunen Stoff und eine weiße Bluse in die Hand gedrückt und verschwand in einer Umkleidekabine. Wieder aus der Kabine heraus betrachtete sie sich sehr, sehr lange in einem großen Spiegel. Sie sah in dem Kleid aber auch wirklich bezaubernd aus – was für ein altmodischer Ausdruck, aber er passte auch zu einem speziell für das Jahr 1906 angefertigten Kleidungsstück. Das Kleid stand in vollkommenen Kontrast zur Sportkleidung, welche Lisa neulich getragen hatte. Aber auch hier machte sie eine gute Figur – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich überlegte mir, ob ich mein »Beuteschema« gegenüber Frauen vielleicht nicht doch ein klein wenig modifizieren sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder.

Nun war ich an der Reihe, machte Lisa ein paar kleine zustimmende Bemerkungen, bekam meine Kleidung ausgehändigt und betrat die Umkleidekabine. Ich hatte ein weißes Hemd, ein Mittelding zwischen Krawatte und Fliege in schwarz sowie einen dunkelbraunen Anzug mit passender Weste erhalten. Als ich gerade Hemd und Hose angezogen hatte, bekam ich von der Schneiderin noch einen dazu passenden Hut und glänzende schwarze Lackschuhe in die Kabine gereicht.

Kaum war ich vollständig angezogen und wieder aus der Kabine herausgetreten, wurde mein Auftritt von Lisa auch schon mit irgendeinem quietschenden Entzückungslaut quittiert.

»Jetzt muss ich dich doch mit Sir anreden, so wie du aussiehst!«, rief sie.

Da konnte sie durchaus Recht haben, denn ich kam mir in der Verkleidung vor wie ein englischer Adliger.

»Mylady?«, fragte ich deshalb und bot ihr einen Arm an.

»Sir!« 

Sie hakte sich bei mir unter und wir stolzierten ein paar Mal vor dem großen Spiegel hin und her, zum (um den zur Zeitepoche passenden Jargon zu verwenden) großen Plaisir der anwesenden Schneiderinnen.

Auf meine Frage, ob dieses Outfit auch wirklich das für das Jahr 1906 passende war, antwortete die Chefschneiderin: »Ihr seid das perfekte Paar für 1906!« 

Soso, wir stellten also das perfekte Paar dar. Mit so einem Spruch konnten die Gerüchte nur mehr, aber nicht weniger werden, was mir ganz und gar nicht gefiel.

»Wenn so etwas Teil des Zeitagentenjobs ist, dann möchte ich jetzt schon dauerhaft Zeitagent sein«, schwärmte Lisa und machte noch mehrere Pirouetten vor einem Spiegel.

»Agent O’Donoghue«, wurde sie von der Schneiderin ausgebremst, »nicht immer müsst ihr euch so verkleiden. Meistens reichen auch Jeans und T-Shirt.« 

Gegenüber der für das Jahr 1906 passenden Kleidung sahen die Zeitagentenuniformen richtig langweilig aus, als wir uns wieder umgezogen hatten. Bequemer war die Uniform allemal – und auch deutlich einfacher an- und auszuziehen.

Nachdem wir schon viel zu viel Zeit in der Schneiderei verbracht hatten, rückte der Spätnachmittag näher und wir verabschiedeten uns von der Chefschneiderin.

»Nettes Mädchen, Cassell«, meinte sie leise zu mir, als sie uns hinausbegleitete.

Ob Lisa tatsächlich so »nett« war oder etwas ganz anderes dahinter steckte, konnte ich jetzt aber noch nicht wirklich abschließend beurteilen.

Auf Lisas Frage, was wir morgen vorhatten, antwortete ich mit einer Gegenfrage.

»Welcher Zeitagent fehlt jetzt noch?« 

Nach kurzem Überlegen antwortete sie: »Der Elektor. Er wählt ›operative‹ Zeitagenten, also Protektoren und Korrektoren aus, die dann bei Einsätzen in der Vergangenheit bestimmte Ereignisse beeinflussen sollen.« 

»Das ist richtig, morgen schauen wir uns bei den Elektoren um und lassen uns alles zur Personaleinsatzplanung erzählen.« 

Da es um diese Zeit eigentlich nie so voll im Kasino war, gingen wir dieses Mal dorthin zum Essen. Selbstverständlich trat genau das ein, was ich schon befürchtet hatte: Obwohl es noch viele freie Plätze gab, folgten uns viele Blicke, als wir mit unseren Tabletts von der Theke zu unseren Plätzen gingen. Auch Lisa hatte es bemerkt.

»Lass’ sie doch«, meinte sie leise, »dann ist ihr Leben wenigstens mit irgendetwas ausgefüllt.« 

Da konnte sie Recht haben, ignorierten wir das Ganze doch einfach.

Auf dem Weg zu unseren Quartieren verabschiedete ich mich mit einer Verbeugung und rief »Mylady!«. Lisa lachte, verbeugte sich ebenfalls und sagte: »Sir!« 

So wie es aussah, konnte ich mit dieser Frau viel Spaß haben, ohne gleich mit ihr im Bett landen zu müssen.

Das Büro des Elektors unterschied noch einmal deutlich von den anderen Büros, die wir bisher kennengelernt hatten. An den Wänden hingen große Bildschirme mit Zeitagenten, Zeitabschnitten und Einsätzen, die komischen Einsatznamen wurden leuchtend hervorgehoben. Ich entdeckte die mit der hellgelben Farbe der Protektoren versehenen Zeilen für Cassell, Tim und O’Donoghue, Lisa. Als aktuellste Markierung war ein kurzer Einsatz der Korrektoren namens Nashorn hellorange markiert, danach war unser Einsatz in das Jahr 1906 mit dem Namen Otter an der Reihe. Die weitere Planung hatte ein schraffiertes Muster hinterlegt und der Elektor erläuterte, dass diese Planung nur vorläufig war und abhängig vom Ergebnis des vorangegangenen Einsatzes noch einmal angepasst werden musste. Um so eine Planung handelte es sich bei dem übernächsten Einsatz für Lisa und mich am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Alles in allem stellte der Elektor seine Aufgabe als wesentlich für die Einsätze dar, damit auch die richtigen Zeitagenten mit den passenden Kenntnissen für die jeweilige Zeitepoche den Einsatz zum Erfolg führen konnten.

Lisa betrachtete den Plan und zeigte auf eine dunkelgrau hinterlegte Fläche.

»Was ist hier passiert? Gibt es den Zeitagenten nicht mehr?«, fragte sie.

»Das war ein Code Zwanzig«, antwortete der Elektor, »der Zeitagent hatte aufgehört zu existieren.« 

Lisa hatte in ihrer Ausbildung auch den Code Zwanzig behandelt und so meinte sie, dass sie sich ausmalen konnte, was passiert war.

Ich sagte zu Lisa: »Unser Job ist nicht risikolos, noch kannst du aussteigen, wenn du möchtest.« 

Sie aber schüttelte den Kopf und winkte ab.

Der Elektor erinnerte mich dann noch an unsere regelmäßig stattfindende Pokerrunde, die für den Abend geplant war. Er kam auch gleich noch auf die glorreiche Idee, Lisa einladen zu wollen.

Auf die Frage, ob sie Poker konnte, antwortete sie: »Ja, ich bin aber etwas eingerostet. Was spielt ihr denn: Five Card Draw, Texas Hold’em, Stud oder was es sonst noch so gibt?« 

Der Elektor riss erstaunt die Augen auf.

Ich antwortete: »Ganz klassisch Five Card Draw mit ein Mal Tauschen und zwei Biet-Runden. Unsere Versuche mit Hold’em sind leider nicht so gut verlaufen, da keiner die Bank sein wollte und ein testweise eingesetzter Roboter gar nichts auf die Reihe bekommen hatte.« 

»Deal!«, rief sie erfreut. »Wann und wo?« 

Ich antwortete: »Lisa, wir treffen uns heute Abend um halb Acht vor dem Eingang zum Fitnessraum meiner Sektion.« 

»Ich freue mich, junge Dame«, sagte der Elektor.

Ich schien also nicht nur eine wissbegierige Protektor-Trainee bekommen zu haben, sondern offenbar auch eine Pokerexpertin. Mal sehen, wie sie sich dann im Spiel schlug.

Für den Nachmittag hatte ich uns wieder in einen Besprechungsraum einquartiert und wir ließen die letzten Tage noch einmal Revue passieren. Lisa gab noch einmal mit ihren Worten wieder, wie sie die ihr vorgestellten Aufgaben von Kollektor, Elektor undsoweiter sah und wie sich diese zur Theorie, nämlich zu dem von ihr in der Ausbildung Gelernten, verhielten.

Zum Abschluss ging ich mit ihr an einem Rechner noch einen Fragebogen zur sogenannten »Compliance« durch, den wir auszufüllen hatten. Die »Compliance-Richtlinien« der Agency regelten in – für mich viel zu vielen – Paragraphen, wie sichergestellt werden konnte, dass Zeitreisen nicht zum eigenen Vorteil oder zum Schaden Anderer ausgenutzt werden konnten. Darunter fielen ein Verbot von allen Arten von Spekulationsgeschäften mit Wertpapieren, mit Rohstoffen und Immobilien. Es war aber natürlich recht verlockend, zum Beispiel die Börsenkurse schon im Voraus zu wissen, normalerweise ließ aber der eng getaktete Zeitplan eines Einsatzes nicht wirklich einen Freiraum für solche privaten Aktivitäten zu.

Lisa hatte selbstverständlich alles punktgenau auswendig parat und so waren wir mit dem Fragebogen schon nach kurzer Zeit durch. Sie besaß zwar vollkommen konträre Ansichten zur Annahme und zur Mitnahme in die Zentrale von Geschenken, aber so waren nun einmal die Richtlinien. Von meinen nicht ganz compliance-konformen Aktivitäten in der Vergangenheit erzählte ich ihr lieber noch nichts, zumindest bis sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte.

Bevor es am frühen Abend in die Pokerrunde ging, musste ich noch einem Verdacht nachgehen und setzte mich an meinen Computer, um ein wenig zu recherchieren. Bereits nach wenigen Minuten hatte ich die Bestätigung, dass Lisa ihr ganzes Studium mehr oder weniger mit Pokern finanziert hatte. Um davon leben zu können, musste man schon recht gut sein, und ich machte mich auf Einiges gefasst.

Wie immer fand die Pokerrunde in einem der abends nicht belegten Besprechungsräume statt. Bereits kurz nachdem wir unsere Pokerrunde ins Leben gerufen hatten, hatte jemand in der Schneiderei ein paar Quadratmeter grünen Filzstoff besorgt, und diesen breiteten wir nun über den Besprechungstisch aus. So sah der Raum schon deutlich pokermäßiger aus.

Mit Lisa und mir saßen noch der Elektor, den wir nachmittags besucht hatten, ein befreundeter Protektor, der Chefpilot und leitende Ausbilder der Zeitschiffpiloten sowie der Leiter der Stationswerkstätten um den Tisch herum. Alle betrachteten sich mehr oder weniger als Pokerprofis – wir spielten ja auch schon einige Jahre zusammen –, und ich war gespannt, wie sich Lisa in diesem Umfeld bewährte.

Der Werkstattleiter hatte irgendwann einmal aus Kunststoffresten bunte Spielchips hergestellt, die mit verschiedenen Farben verschiedene Nennwerte darstellten. Natürlich spielten wir um echtes Geld und Lisa musste sich zunächst erst einmal einen Grundstock an Chips eintauschen. Mit meinem Wissen über Lisas Vorgeschichte betrachtete ich das Spiel eher als eine Art soziokulturelles Experiment, wie die anderen Spieler auf Lisa reagierten – und umgekehrt. Da ich nicht davon ausging, dass auch andere Mitspieler Lisas Pokervergangenheit recherchiert hatten, schien es ein spannender Abend zu werden.

Ich beobachtete Lisa genau und ließ das Spiel an sich für mich nur mitlaufen.

Ihre Chipsstapel hatten lange Zeit die in etwa gleiche Höhe, also hielten sich Gewinn und Verlust die Waage. Sie konnte auf jeden Fall mit dem doch recht hohen Niveau ihrer deutlich älteren Mitspieler mithalten, insofern sah ich schon, dass es bei weitem nicht das erste Mal war, dass sie spielte. Auffällig war für einen aufmerksamen Beobachter wie mich aber, dass sie öfters nur ganz knapp gegen den Werkstattleiter verloren hatte, dem ich seine immer mehr steigernde Überheblichkeit schon von weitem ansah und der von Mal zu Mal siegessicherer wurde.

Dann schlug sie zu und ich vermutete, dass sie diese Taktik schon mehr als einmal angewendet hatte.

Nach einem harten Schlagabtausch mit dem Werkstattleiter – die anderen und ich waren schon längst ausgestiegen – und nachdem beide alle ihre Chips All In in die Mitte des Tisches geschoben hatten, wollte er Lisas Karten sehen. Langsam deckte sie nacheinander drei der vor ihr liegenden Karten auf. Drei Zehnen, mit so etwas hätte ich zwar nicht All In, aber doch recht hoch geboten. Ihr Gegner deckte gleich alle seine Karten auf und neben einer Acht und einer Neun hatte er immerhin drei Asse zu bieten.

»Weißt du, Lisa O’Donoghue«, stellte er fest, »du hast so eine ganz dumme Angewohnheit: Wenn du bluffst, dann zeichnest du mit den Fingern der linken Hand immer so kleine Kreise auf den Tisch.« 

Lisa deckte ihre zwei übrigen Karten auf und entgegnete trocken: »Das ist richtig. Ist eine ganz dumme Angewohnheit.« 

Dem Elektor entgleisten seine Gesichtszüge und der Chefpilot fiel fast vom Stuhl.

Lisa hatte uns mal eben ganz abgebrüht noch zwei Könige präsentiert, ohne mit der Wimper zu zucken. Full House mit drei Zehnen und zwei Königen! Das schlug natürlich locker die drei Asse des Werkstattleiters.

»Das ist ja jetzt wohl meins«, stellte Lisa fest und zog mit beiden Armen den Chipsberg zu sich heran.

Das war ein sauberer Treffer gewesen, ein Wirkungstreffer!

Sie hatte ihren Gegner nach allen Regeln der hohen Pokerkunst geschlagen. So tun, als ob man sich immer sichtbar verrät, wenn man blufft, das dann aktiv bei einem guten Blatt einzusetzen, um die Gebote ganz hoch zu treiben, erforderte ein gehöriges Maß an Selbstdisziplin und Schauspielkunst. Wenn meine Trainee diese Fähigkeiten in gleicher Qualität auch bei einem Einsatz als Zeitagent einbringen konnte, stand ihrer Festanstellung eigentlich nichts mehr im Wege. Insgeheim waren wohl alle Mitspieler froh, dass das rothaarige Mädchen es dem großmäuligen Werkstattleiter einmal so richtig gezeigt hatte.

Ein paar Tage später erfuhr ich dann, dass ihr diese Aktion den Spitznamen Poker-Lisa eingebracht hatte.

Der Abend war schon weit fortgeschritten und der Werkstattleiter hatte ja keine Chips mehr, daher beschlossen wir, das Pokerspiel zu beenden.

Auf dem Weg zu unseren Quartieren diskutierte ich dann mit Lisa ihre Spieltaktik. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich mich vor dem Spiel ausgiebig über sie informiert hatte.

»Kreise auf der Tischdecke, soso«, sagte ich zu ihr.

Sie lächelte.

»Full House mit Zehnen war schon etwas knapp bemessen, da war der Bluff nicht wirklich gespielt«, erklärte sie.

»Lisa, du hast dir gerade eine Heldenlegende erschaffen, die man sich in zehn Jahren noch am Lagerfeuer erzählen wird.« 

Sie lachte lauthals und die Chips in ihren prallgefüllten Hosentaschen klimperten dazu im Takt.

»Nächstes Mal wieder?«, fragte sie.

Ich antwortete: »Hmm, ich kann dir noch nicht sagen, ob die anderen dich überhaupt wieder dabei haben wollen.« 

Sie zog eine Grimasse, sagte »Gute Nacht« und verschwand in ihrem Quartier.

Da Lisa noch ein paar Simulatorstunden fehlen, um mit mir den nächsten Einsatz absolvieren zu können, und da wir nur ein kleines Zeitschiff zugeteilt bekommen hatten, welches keinen eigenen Piloten erforderte, sondern von den Zeitagenten selbst gesteuert werden musste, waren wir am nächsten Vormittag schon wieder in der Zentrale unterwegs.

In der Ebene über der großen Werkstatt befanden sich mehrere Simulatoren sowohl für die verschiedenen Zeitschifftypen als auch für Schlepper und Fähren. Obwohl er ursprünglich gar nicht für uns eingeteilt war, hatte der Chefpilot spontan unsere Betreuung übernommen. Besonders Lisa wurde von ihm herzlich begrüßt.

Er drückte ihr lange die Hand und meinte: »Sehr gute Arbeit gestern Abend, Lisa O’Donoghue! Der Werkstattleiter hat mir sowieso schon mehr als genug abgenommen. Gerne nächstes Mal wieder!« 

Damit war also auch diese Frage schon beantwortet.

Wie ich in der vorläufigen Einsatzbeschreibung von Otter lesen konnte, sollten wir ein tauchfähiges Zeitschiff bekommen und die Hauptaufgabe unter Wasser erledigen, aber ich hatte schon lange nicht mehr ein Schiff unter Wasser gesteuert. Ich hätte daher gerne noch eine kleine Lektion in Unterwassermanövern gehabt, aber nur Lisa hatte einen Simulatortermin bekommen.

»Kein Problem, Cassell!«, sagte der Chefpilot. »Ihr beide habt wegen Poker noch etwas gut bei mir.« 

Selbstverständlich hatte Lisa am Ende des Tages alle an sie gestellten Übungsaufgaben ohne Probleme bestanden und obwohl sie als Trainee bisher nur als Copilot zugelassen war, zeichnete es sich ab, dass sie ohne großen Aufwand die nächste Stufe »Pilot« erreichen würden. Nicht nur, dass ich ein paar ungeplante Trainingseinheiten bekam, auch hatte der Chefpilot einen Simulator einen ganzen Tag lang nur für uns reserviert.

In einer Trainingspause nahm ich Lisa zur Seite und meinte: »Du scheinst einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben.« 

»Im Simulator?« 

»Ja, da auch. Ich meine eher: beim Pokern.« 

»Ach so. Das war mir gar nicht bewusst. Ich hab’ einfach Poker gespielt – so wie immer. Und ich war etwas aus der Übung.« 

»Dann, liebe Lisa, möchte ich eigentlich gar nicht wissen, was passiert, wenn du in Übung bist!« 

Sie prustete los zeigte mir das breiteste Grinsen, was ich je bei ihr gesehen hatte.

So verging der Tag rasend schnell und am Ende waren Lisa und ich ziemlich erschöpft, vor allem, da der Chefpilot uns ausgerechnet die schwierigsten Übungen wieder und wieder durchexerzieren ließ.

Nachts um drei Uhr wachte ich dann auch mit einem Buch auf dem Bauch auf meinem Sofa auf, ich war wohl noch während des Lesens eingeschlafen.

Am Morgen war auch endlich die Bestätigung der Einsatzvorbesprechung in meinem elektronischen Posteingang zu finden. Diese sollte aber erst in drei Tagen stattfinden und der Einsatz selbst dann in weiteren drei, so dass Lisa und mir noch genügend zeit zur Vorbereitung des Einsatzes blieben. Obwohl ein Trainee dabei war, stellte dieser Einsatz jedoch eine Premiere für die Agency dar. Einsätze mit Unterwasseraktionen kamen sowieso nicht oft vor – deswegen war ich ja auch im Simulator gewesen, weil mir die Übung fehlte –, und jetzt hatten sie geplant, dass Lisa und ich mit dem Schiff unter Wasser die Schwerkraft soweit reduzieren sollten, um die ZP vor dem Ertrinken retten zu können. Die Agency wollte jetzt einmal diese Methode ausprobieren, um so vollkommen ohne direkten Kontakt zur ZP auskommen zu können; daher kam wohl auch der Name Otter zustande. Ich protestierte zwar erst dagegen, für die Agency als Versuchskaninchen für irgendwelche Experimente dienen zu wollen, gab mich dann aber doch den recht überzeugend klingenden Argumenten der zuständigen Kollektorin geschlagen. Daher erklärte ich mich bereit, dies einmal auszuprobieren.

Mir war allerdings noch nicht ganz klar ob und wie Lisa seelisch und körperlich auf den Einsatz und speziell die Zeitsprünge reagieren würde, aber das konnte ich ja nun bald herausfinden. Unser Ziel lag in Europa auf der Ostsee vor der dänischen Südküste.

Dann war es endlich soweit. Ich packte eine kleine Reisetasche und begab mich zum Kontrollpunkt, durch den man in den Schiffshangar gelangte, um mich dort mit Lisa zu treffen. Zusätzliche Kleidung und weitere Ausrüstungsgegenstände, darunter auch das Kleid und der Anzug, waren schon an Bord des Schiffes gebracht worden. Nachdem wir den Kontrollpunkt passiert hatten, mussten wir noch durch eine weitere Schleuse gehen und kamen dann zur Flugkontrolle, um unseren Flug anzumelden. Wir bekamen eine Flugnummer zugeteilt und anschließend Codekarten für das uns zugewiesene Schiff ausgehändigt.Uns wurde ein guter Flug gewünscht und durch noch eine Schleuse erreichten wir schließlich den Hangar selbst.

Zu meiner großen Überraschung nahm uns nicht der Chefpilot, sondern der Werkstattleiter in Empfang.

Lisa flüsterte: »Oh, jetzt gibt’s Ärger.« 

Offensichtlich schien er aber die Niederlage beim Pokern nicht persönlich genommen zu haben.

»Gute Taktik«, sagte er zu Lisa, »das mit dem ›Bluff-Bluff‹! Da kann selbst unsereins noch ’was von lernen.« 

Das Pokerspiel hatte wohl bei einigen Leuten einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wenn sich dadurch Türen öffneten, die sonst verschlossen waren, sollte es mir mehr als recht sein.

»Euer Schiff ist das dritte von links mit den Flossen!«, rief er gegen den Lärm des Hangars.

Er wünschte uns ebenfalls einen guten Flug sowie einen erfolgreichen Einsatz und drückte Lisa und mir lange die Hand.

Wir wurden mit einem kleinen Schwebefahrzeug bis vor das Schiff gebracht, welches schon von Weitem an seinen vielen »Flossen« als unterwassertauglich zu erkennen war. Nachdem wir unser Gepäck an Bord verstaut hatten, begannen wir, die Startcheckliste abzuarbeiten. Das tauchfähige Schiff hatte noch ein paar zusätzliche Punkte auf der Checkliste, wie die Überprüfung der Tiefen- und Seitenruder sowie des Schotts vor dem Lufteinlass des Atmosphärenantriebs. Lisa hatte in ihrer Copilotenausbildung gut aufgepasst, und so waren wir schon nach einer halben Stunde mit der Checkliste fertig.

Wir setzten uns ins Cockpit und ich startete den Antrieb. Als der Antrieb seine volle Leerlaufleistung erreicht hatte, gab Lisa der Bodencrew zu verstehen, dass wir das Schiff auf autarke Energieversorgung umgestellt hatten und sie die »Nabelschnur« zu den Systemen der Zentrale lösen konnten. Wir meldeten das Schiff bei der Flugkontrolle als startbereit an und schon bald darauf bekamen wir die Freigabe. Ich betätigte einen Steuerhebel und brachte das Schiff in den leichten Schwebeflug. Im Hangar ertönte ein Signalhorn und blaue Blinkleuchten kündigten den dort Arbeitenden ein Schiff in Bewegung an.

Langsam manövrierte ich das Schiff rückwärts aus seiner Parkposition auf die Verkehrsfläche in der Mitte des Hangars. Dort wechselte ich in die Vorwärtsrichtung und hielt direkt auf das große Schleusentor zu, dessen Signalleuchten von rot auf gelb wechselten und das sich langsam öffnete. Grüne Lichter zeigten mir dann, dass das Tor sich vollständig geöffnet hatte und ich in die Schleuse hineinfliegen konnte. In der Schleuse stoppte ich, das Tor schloss sich hinter uns und die Luft wurde abgepumpt. Das gleiche Wechselspiel der Signalleuchten wiederholte sich am äußeren Tor. Lisa bekam den Rendezvouspunkt mit unserem Interdimensionsantrieb mitgeteilt und nachdem wir die Schleuse verlassen hatten, nahm ich Kurs auf diese Koordinaten. Durch ein Cockpitfenster konnte ich beobachten, wie sich uns ein kleiner Schlepper mit dem Antriebsmodul näherte. Wir befanden uns noch im Gravitationsbereich der Zentrale und so konnte Lisa nach achtern gehen (und musste nicht dorthin schweben), um das Ankoppeln des Antriebs zu überwachen.

Das Schiff befand sich nicht mehr im Hangar und so konnte ich jetzt die doch recht hellen Antikollisionsblitzleuchten einschalten. An den vorgegebenen Koordinaten brachte ich das Schiff vorschriftsmäßig zum Stillstand relativ zur Zentrale und sofort manövrierte sich der Schlepper mit dem Interdimensionsmodul an uns heran. Der Schlepperpilot verstand sein Geschäft recht gut und so gab es einen fast nicht spürbaren Ruck, als das Modul an uns ankoppelte und sich die Halteklammern schlossen. Sofort erwachten zwei bisher dunkle Cockpitkonsolen zum Leben und von achtern meldete Lisa die Modulübernahme als abgeschlossen. Der Schlepper entfernte sich, wünschte uns einen guten Flug und Lisa, die wieder auf dem Copilotensitz Platz genommen hatte, bereitete die Navigation auf den uns vorgegebenen Kurs vor.

Wie sie es gelernt hatte, las sie laut vor: »Wir gehen auf die Vier, dann drei Stunden bis zum Sprungpunkt, dann Sprung und dann drei Stunden wieder retour zur Erde.« 

Die sogenannte Route Vier führte uns von der Zentrale weg direkt bis kurz hinter das Ende des Sonnensystems, ohne dabei die Sonne zu umrunden.

Lisa meldete: »Verlassen die Neutrale in: Drei … Zwei … Eins!« 

Wieder holperte es ein wenig, als wir in den normalen Raum eintraten.

Ich beschleunigte auf Reisegeschwindigkeit, ließ den Autopiloten übernehmen und machte es mir bequem. Der Interdimensionsantrieb lieferte dem Schiff so viel Gravitation, dass wir uns abschnallen konnten, ohne umherzuschweben.

»So, Trainee Agent O’Donoghue«, sagte ich zu Lisa, »damit hast du deinen ersten echten Start als Copilot erfolgreich abgeschlossen. Gute Arbeit!« 

Sie bekam leicht rötlichen Wangen, und bevor ich dazu übergehen konnte, mit ihr den Einsatzplan durchzugehen, musste sie mir noch eine Frage stellen.

»Was hat das eigentlich mit diesem komischen Nies-Club auf sich, von dem immer alle reden?« 

»Das, liebe Lisa, wirst du beizeiten erfahren!« 

Oh nein, hatte ich schon wieder liebe Lisa gesagt?

Sie gab sich aber mit dieser Antwort zufrieden und wir nahmen uns den Einsatzplan vor.

»Das soll wirklich funktionieren?«, fragte sie, als sie erkannt hatte, was genau wir im Jahr 1906 und dann auch noch unter Wasser tun sollten.

Ich fand es ebenfalls etwas merkwürdig, einen im Prinzip als Ausbildung geltenden Einsatz gleich mit einer »Premiere« zu verknüpfen.

Kurz vor dem Zeitsprung gingen wir noch einmal eine Checkliste durch. Der offizielle Begriff war »Zeitportation« und nicht »Zeitsprung«. Die Zeitportation ist wie Teleportation zu verstehen, nur findet dort auf Quantenebene der Transport in der Zeit statt. Man hatte zwar versucht, die Teleportation als normale Transportart zu etablieren, aber da die atmosphärentauglichen Schiffe alle Kontinente der Erde in wenigen Minuten erreichen konnten, wollte niemand seine Quanten durcheinanderrühren lassen, wenn es nicht unbedingt sein musste. So blieb es dabei, die Teleportation als Zeitportation in begrenztem Umfang ausschließlich für Reisen in die Zeit zu nutzen.

Wir setzten uns wieder ins Cockpit, schnallten uns an und zogen dieses Mal die Gurte besonders fest. Lisa meldete uns bei der Zentrale ab und weit außerhalb des Sonnensystems vollzogen wir den recht turbulenten Übergang in das zwanzigste Jahrhundert.

Am ganzen Körper kitzelte und zwickte es, als meine Quanten bei der Reise durch die Zeit durcheinander gewürfelt und wieder zusammengesetzt wurden. Es kribbelte in der Nase und Lisa und ich mussten fast gleichzeitig laut niesen.

»Willkommen im Nies-Club!«, rief ich gegen scheppernde Schranktüren an.

Durch den gezielten Einsatz der Steuerhebel brachte ich das nach dem Wiedereintritt aus der Interdimension stark trudelnde Schiff wieder unter Kontrolle und zu einem relativen Stillstand. Ich begann, eine Störungsliste durchzuschauen, da es nach einem Zeitsprung eigentlich immer einige kleine Störungen im Schiff gab, und gab Lisa ebenfalls einen Auftrag.

»Lisa, wo sind wir? Und, vor allem, wann?« 

Schon kurz darauf konnte sie melden: »Position: drei Grad unterhalb der Ebene der Ekliptik, etwa neunhunderttausend Meilen außerhalb der Bahn des Neptun, etwa fünfundsechzig Grad auf der Bahn relativ zur Sonne.« 

Das war aber ziemlich weit innerhalb der Planeten und ziemlich weit vom errechneten Zielpunkt entfernt. Ich schob es aber auf den großen Zeitsprung von etwa vierhundertundsechzig Jahren und nahm mir für den Rückflug vor, von noch weiter außerhalb zu springen.

Lisa fuhr fort: »Sternenpositionen analysiert. Heute ist der 28. Oktober 1906, es ist nachmittags, zwanzig nach fünf UTC. ETA zur Erde bei normaler Reisegeschwindigkeit: etwa zweieinhalb Stunden.« 

Das dagegen war allerdings schon eine Punktlandung. Wir würden dann im Schutz der Dunkelheit am frühen Abend in unserem Zielgebiet ankommen und dort irgendwo landen, um die Nacht zu verbringen.

Ich reichte Lisa ein Papiertaschentuch.

»Das gehört zum Nies-Club dazu. Herzlichen Glückwunsch zum ersten bestandenen Zeitsprung!« 

Sie schneuzte sich.

»Kitzelt das immer so? Beim Flug in die Neutrale merkt man ja gar nichts.« 

»Ja, bei großen Zeitsprüngen ist es immer so und alle, aber auch wirklich alle, müssen synchron niesen. Das gehört einfach dazu.« 

Lisa hatte eine kleine unbewohnte Insel in den schwedischen Schären mit hohen Bäumen und einer für das Schiff ausreichend großen Lichtung als Landeplatz für die Nacht ausgesucht. Ich landete das Schiff und regelte den Antrieb auf Standby-Betrieb herunter. Eine Kurzanalyse der Außenluft ergab, dass diese atembar und der üblichen Zusammensetzung Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts entsprach.

Ich öffnete daher die Außentür, bat Lisa zu mir und wir gingen erst einmal ein paar Schritte auf der Insel spazieren. Dabei nutzte ich die Gelegenheit und untersuchte das Schiff auch gleich auf äußerlich sichtbare Schäden.

»Schön hier. Frische Seeluft. Und so friedlich!«, musste Lisa feststellen.

»Du hast Glück, es hätte ja auch ein Kriegsgebiet sein können, aber deine ersten Einsätze sollen nicht gleich in die Vollen gehen. In Gebiete mit kriegerischen Auseinandersetzungen oder ›Gang-Territorien‹ gehe ich ohne Unterstützung durch Korrektoren sowieso nicht rein. Normalerweise vermeidet die Agency es aber auch, uns dort alleine hineinzuschicken.« 

Bis es dann zu kalt wurde, saßen wir noch auf einem großen Felsen, der wie ein natürliches Sofa geformt war, und schauten aufs Wasser, über das ein paar Möwen umherflogen.

Zurück im Schiff bereitete Lisa aus dem im Schiff eingelagerten Proviant ein kleines Abendessen vor. Beim Essen arbeiteten wir den Einsatzplan für den nächsten Tag durch. Vorausgesetzt, dass die Kollektorin präzise Angaben gemacht hatte, war es ja das Ziel, am nächsten Tag mit dem Schiff jemanden vor dem Ertrinken zu retten. Wir hatten nur einen Versuch, ein noch nie von der Agency erprobtes Verfahren musste daher beim ersten Mal gleich funktionieren. Auch hatte ich zwar im Simulator viele Unterwassermanöver geübt, dennoch war ich etwas skeptisch, ob sich das Schiff auch in echt so verhalten würde.

Danach klappten wir zwei Schlafkojen aus und holten uns Kissen und Schlafsäcke aus einem Schrank.

Während wir uns auf die Nachtruhe vorbereiteten, sah ich Lisa das erste Mal nur mit Unterwäsche bekleidet.

Süß. Sehr süß. Obwohl sie als Rothaarige gar nicht mein Typ war.

Nein, sie war Trainee, mein Trainee, und ich ihr Vorgesetzter – und sie ja eigentlich gar nicht mein Typ. Senior Special Time Agent Tim Cassell, hier solltest du dich etwas zusammenreißen.

Ich musste mich sozusagen innerlich ohrfeigen, um wieder zur Besinnung zu kommen.

Es wurde allerdings nicht besser, als sie auch noch »Gute Nacht, Tim!« säuselte.

Glücklicherweise erschöpfen Zeitsprünge den Körper recht schnell, und so schlief ich trotz allem recht schnell ein.

Der nächste Morgen empfing uns mit Sturm und Regen, was die ganzen Manöver auch mit der Technik des vierundzwanzigsten Jahrhunderts nicht wirklich einfach machte. Am späten Vormittag klarte es aber bis zum nächsten Sturmschauer soweit auf, dass wir mit dem Schiff problemlos starten konnten.

Der Einsatzcountdown lief jetzt an und zeigte T-Null minus drei Stunden an.

Es war Zeit, meinem Trainee wieder einmal etwas Wissen abzufragen. So konnte ich auch erfolgreich die Gedanken an Lisa in Unterwäsche verdrängen.

»T-Null bezeichnete im Zeitagenten-Jargon den Zeitpunkt, an dem ein bestimmtes Ereignis stattfand, welches einen wichtigen Meilenstein für einen Einsatz darstellte.« 

Die Zeitangaben für den Einsatzplan unseres Einsatzes hatte die Kollektorin aus einem Logbuch des Segelschiffkapitäns , der unsere ZP darstellte und den wir retten sollten, ermittelt und diese waren daher etwas ungenau. Ich ließ unser Schiff schnell durch die tiefliegende Wolkendecke steigen, nahm eine Position über der Wolkenobergrenze ein und steuerte den Kleinen Belt an.

Lisa aktivierte alle Scanner und Sensoren, um nach dem Segelschiff mit der ZP zu suchen. Wegen des Sturms hielt sich der Schiffsverkehr aber in Grenzen und so konnte sie schon nach etwa einer halben Stunde melden, dass sie das Segelschiff geortet und einwandfrei identifiziert hatte.

T-Null minus zweieinhalb Stunden.

Ich ließ Lisa eine geeignete Stelle suchen, an der wir unsere Flughöhe verlassen und unter Wasser gehen konnten, ohne von Land oder von anderen Schiffen aus gesehen zu werden. Flugverkehr gab es zu dieser Zeit noch nicht, so dass wir den Luftraum vernachlässigen konnten. Wieder einsetzender Sturm und Regen begünstigte dieses Vorhaben zwar, aber es sollte eine sehr schaukelige Angelegenheit werden.

Bei T-Null minus zwei Stunden nahm ich Kurs auf diesen Punkt und wir begannen, die Tauch-Checkliste abzuarbeiten. Weil es von Cockpit-Recorder aufgezeichnet wurde, lasen wir vorschriftsmäßig alles auch laut vor.

»Schotts vor Lufteinlass Atmosphärenantrieb schließen.« 

»Sind geschlossen.« 

»Schott vor Interdimensionsantrieb schließen.« 

»Ist geschlossen.« 

»Umschalten auf interne Luftversorgung. Schotts vor Frischluftzufuhr schließen.« 

»Ist umgeschaltet und geschlossen.« 

»Funktionstest Tiefen- und Seitenruder.« 

»Test zeigt Grün.« 

Wir zogen unsere Gurte fester und ich begann mit einem langsamen vertikalen Sinkflug, den ich nur mit Gravitationsänderungen durchführen konnte, da der Atmosphärenantrieb ja wegen der geschlossenen Schotts deaktiviert wurde. Als wir die Wolkendecke durchstoßen hatten, wurden wir von Windböen erfasst, so dass die automatische Fluglagekontrolle Mühe hatte, gegenzusteuern.

Trotz meiner manuellen Korrekturen führte das Schiff starke Rollbewegungen aus.

»Es wird Zeit, dass wir unter Wasser kommen, da ist es ruhiger.« 

Lisa peilte noch einmal das Segelschiff an und ich begann, unser Schiff auf die recht unruhige Wasseroberfläche abzusenken. Eine relativ große Welle, die ich übersehen hatte, traf uns und schüttelte uns durch, aber dann war es geschafft und ich steuerte das Schiff erst einmal in größere Wassertiefen. Mit Sicherheitsabständen zu Oberfläche und Meeresgrund begab ich mich langsam auf den Kurs, der uns genau unter das Segelschiff bringen sollte.

Als ich uns unter dem Segelschiff positioniert hatte, zeigte der Einsatzplan T-Null minus eine Stunde und ich konnte dem Schiff jetzt nur langsam folgen. Wir mussten darauf warten, bis unserer ZP über Bord gehen sollte.

Lisa schaute mich an und fragte: »Ist das immer so?« 

»Was ist immer so?«, stellte ich die Gegenfrage.

»Das Warten.« 

Warum musste ich der sonst so auskunftsfreudigen Lisa jetzt jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen?

»Das Warten auf was, Lisa?« 

»Das Warten auf T-Null und dass wir jetzt endlich die ZP retten können, wie es unsere Aufgabe als Protektor ist.« 

Endlich die ZP retten… 

Schön, dass meine Trainee so ungeduldig war, endlich ihre Aufgabe erfüllen zu können.

»Ja, das kann sich durchaus etwas hinziehen«, musste ich zugeben, »Aber lieber zu früh als zu spät. Es sei denn, dass der Kollektor sich komplett vertan oder auf unzuverlässige Quellen zurückgegriffen hat.« 

Tatsächlich waren für dieses Ereignis keine präzisen Zeitangaben überliefert und so rief Lisa schon bei T-Null minus einundvierzig Minuten: »Es geht los! Schiff ist fast gekentert! Mann über Bord!« 

Schnell manövrierte ich das Zeitschiff bis auf eine Position etwa drei Meter unter der Wasseroberfläche schräg unterhalb des Segelschiffes, was in dieser Wassertiefe wegen des recht ausgeprägten Seegangs meinen vollen Einsatz an den Steuerhebeln erforderte.

Ein Teil des von der Agency ausgearbeiteten Einsatzplans war, dass wir mit dem Interdimensionsantrieb – oder zumindest den Teilen, die auch unter Wasser funktionierten – die Gravitation soweit verringerten, um die ZP leichter zu machen und sie daher gar nicht erst untertauchen zu lassen.

Lisa meldete: »Beiboot auch gekentert, mit ZP, die sich daran festhält! Treibt langsam vom Segelschiff weg!« 

Sie erhöhte daraufhin die vom Antrieb erzeugte negative Gravitation, so dass um unser Schiff herum nur etwa fünfzig Prozent der Erdgravitation vorhanden waren. Unter Wasser nahm dieser Effekt aber schnell ab und so steuerte ich langsam auf das gekenterte Beiboot zu, um es in den Einfluss unser erzeugten Gravitationsblase zu bekommen.

Plötzlich hörten wir, wie etwas mit einem dumpfen Geräusch auf unser Schiff aufschlug.

»ZP hat sich der Stiefel entledigt, um leichter zu sein«, stellte Lisa fest.

Durch die verringerten Gravitation war es zwar gar nicht notwendig, aber so konnten wir die Illusion aufrechterhalten, dass die ZP es damit unterstützt hatte, nicht von den mit Wasser vollgesogenen Stiefeln noch mehr heruntergezogen zu werden.

Lisa unterbrach abrupt meine Gedanken.

»Neuer Überwasserkontakt! Mittelgroßes Ruderboot, hält auf die ZP zu!« 

Das mussten jetzt also die in den historischen Aufzeichnungen erwähnten drei dänischen Männer sein, die unser ZP zur Hilfe geeilt waren – und das trotz Sturm und Wellengang. Da es zur Küste hin immer flacher wurde, konnte ich die ZP nicht weiter verfolgen. Damit Lisa weiterhin die volle Sensorabtastung zur ZP hin zur Verfügung hatte, bewegte ich unser Schiff mit leichtem Rückwärtsschub wieder in etwas größere und ruhigere Wassertiefen.

Kurz darauf kam von Lisa auch schon die erlösende Meldung.

»ZP ist gerettet und an Bord des Ruderboots gezogen worden!« 

Schnell schaffte ich unter Wasser ein paar Seemeilen Abstand, um unser Schiff wieder auftauchen zu lassen und um über die Wolkendecke steigen zu können. Endlich wieder in ruhigeren Luftschichten war es bedeutend einfacher, die ZP verfolgen zu können.

Die ZP wurde an Land gebracht und wir konnten beobachten, wie sie mit trockener Kleidung versorgt wurde, danach auf ein Dampfschiff ging und sich mit diesem zu seinem Segelschiff bringen ließ. Erst als das Segelschiff, zwar offensichtlich leckgeschlagen, aber noch fahrtüchtig und nicht in der Gefahr sofort zu sinken, in einem Hafen festgemacht hatte, konnte ich die Rettungsaktion offiziell für beendet erklären.

»Sehr gute Arbeit, Agent O’Donoghue!« 

»Aber ich habe doch gar nicht so viel gemacht.« 

»Lisa, Sensoren beobachten, Kursangaben machen undsoweiter ist ja nun nicht Nichts.« 

»Wenn du meinst.« 

Ich bereitete die Interdimensionskommunikation für die Meldung an die Zentrale vor, dass die ZP in Sicherheit war, der Einsatz damit beendet werden konnte und wir bereit waren, zurückzukehren.

Erst am übernächsten Tag bekamen wir ein Zeitfenster für die Rückkehr ins vierundzwanzigste Jahrhundert zugeteilt, so dass wir die Zeit bis dorthin überbrücken mussten. Lisa hatte die spontane und in meinen Augen vollkommen abwegige Idee, doch einmal die speziell für den Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts angefertigte Kleidung, die wir gar nicht gebraucht hatten, »auszuführen« und uns unter die Leute in irgendeiner Stadt zu mischen. Ich musste leider davon abraten, da es nicht nur gegen den Einsatzplan, sondern auch gegen die allgemeinen Richtlinien der Agency verstoßen würde. Die Gefahr, dabei etwas unabsichtlich zu verändern, war einfach zu groß.

Als Kompromiss bot ich an, die Wartezeit nicht im Erdorbit, sondern wieder auf der kleinen Schäreninsel zu verbringen, auch wenn das Wetter nicht wirklich dazu einlud.

Immerhin konnten wir dann bei offener Tür etwas frische Seeluft genießen. Später ließ auch der Regen nach, so dass wir einen kurzen Außencheck des Schiffs machen konnten. Die Schotts hatten ihre Aufgabe voll erfüllt und es waren keine größeren Wassermengen in die Antriebe eingedrungen. Ich musste lediglich ein großes Büschel Seegras entfernen, das sich im Tiefenruder verfangen hatte.

Danach hatten Lisa und ich den Einsatzbericht soweit vorbereitet, dass wir nur noch den Wiedereintritt in das vierundzwanzigste Jahrhundert hinzufügen mussten. Alles Weitere lag dann in den Händen des Inspektors, der den Einsatz auf seine Wirksamkeit überprüfen und bewerten musste.

Wir starteten am frühen Morgen, als es noch dunkel war, um möglichst unauffällig in den Weltraum gelangen zu können. Um den Interdimensionsantrieb nicht unnötig zu belasten und um einem Raum-Zeit-Paradoxon vorzubeugen, war immer nur ein Zeitsprung eines Zeitschiffs zur gleichen Zeit erlaubt, dazu zählten auch die kleinen Übergänge aus der oder in die Neutrale. Die Zentrale hatte aber grünes Licht gegeben und so steuerte der Autopilot das Schiff zu unserem Sprungpunkt, den ich dieses Mal nach den Erfahrungen auf dem Hinweg noch weiter außerhalb des Sonnensystems ausgewählt hatte.

»Vergiss dein Taschentuch nicht!«, erinnerte ich Lisa, die daraufhin in schallendes Gelächter ausbrach.

Wir waren ungefähr vier Tage netto unterwegs gewesen, also wählte ich unseren Ankunftszeitpunkt zur Sicherheit fünf Tage nach unserem Abflug von der Zentrale. Damit beugte ich einem Paradoxon vor und wir wurden nicht jünger in Bezug auf die Neutrale, dessen Zeit zwar von der Erde entkoppelt war, aber trotzdem normal weiterlief.

Ich hatte mich schon gewundert, warum Lisa als Nachwuchs-Zeitagent überhaupt keine Fragen stellte, aber nun war es soweit. Sie war wohl doch nicht so allwissend, wie sie immer den Anschein erweckte.

»Tim, was ist das eigentlich mit Brutto und Netto? Das habe ich irgendwie noch nicht ganz begriffen.« 

Die Bruttozeit war die Zeitspanne, die für einen gesamten Einsatz vom Start in der Zentrale bis zur Rückkehr in Anspruch genommen wurde. Die Nettozeit wiederum war die parallel dazu in der Neutralen vergangene Zeit. Idealerweise war die Bruttozeit immer ein klein wenig länger als die Nettozeit, damit man wieder genau in der Dimension weiterlebte, aus der man gekommen war und man sich nicht unter Umständen selbst begegnete. In unserem Fall waren es also vier Tage netto und fünf Tage brutto.

Und damit die Zeitarithmetik nicht zu einfach wurde, bezeichnete man als Bretto (ein furchtbares Kunstwort, welches eigentlich niemand verwendete) die Zeitspanne, in der man zwischen zwei Einsätzen nicht auf der Erde in der Vergangenheit war. Wir waren ja noch im Jahr 1906 und unser nächster Einsatz war für 2010 avisiert, so dass wir dann 104 Jahre bretto nicht dort gewesen waren.

»Danke, das konnte mir der Dozent irgendwie nicht so gut erklären!« 

Immerhin war es endlich einmal etwas, was ich ihr beibringen konnte – und nicht umgekehrt, wie ihre Blufftaktiken beim Pokern.

Der Zeitsprung verlief recht unspektakulär, und wir kamen dieses Mal keiner Planetenbahn zu nahe, da ich ja den Sprungpunkt weit außerhalb gewählt hatte. Nachdem wir wieder das vierundzwanzigste Jahrhundert erreicht hatten, sah ich aus dem Augenwinkel, dass einige Cockpitanzeigen ihre Werte änderten.

Lisa konnte dann auch melden: »Zeitsignal der Agency gefunden! Wir sind genau da, wo wir sein sollten.« 

Der Anflug auf die Zentrale, das Abkoppeln des Interdimensionsantriebs und das Durchfliegen der Hangarschleuse waren dann nur noch eine Routineangelegenheit. Nur eines blieb mir wieder einmal nicht erspart: meine heißgeliebte Quarantäne. Aber auch dort konnte ich während der üblichen Warterei schon den Einsatzbericht vervollständigen.

Bevor wir uns auf unsere Quartiere zurückzogen, gingen Lisa und ich den Bericht noch einmal gemeinsam durch. Wir änderten noch ein paar Passagen, stellten einige Sätze etwas um und leiteten den fertigen Bericht abschließend an den zuständigen Inspektor weiter. Dieser hatte schon für eine kurze Abschlussbesprechung für den übernächsten Tag eingeladen. Da der Bericht schon fertig war, hatte ich somit wieder einen ganzen Tag für mich zur Verfügung und ausreichend Zeit, mich meinen Büchern zu widmen und mich zu entspannen.

Später am Tag erfuhr ich, dass vor unserem Einsatz in das Jahr 2010 erst ein Einsatz der Korrektoren dazwischen geschoben worden war, um irgendein dringendes Problem lösen zu können. Die Einsatzausbildung meines Trainees musste also erst einmal warten und es gab mir noch mehr Zeit für’s Nichtstun, was ich dankend annahm. Nur Lisas Pflicht-Theoriestunden waren nun die einzigen terminlichen Fixpunkte. Auch gab es mir die Gelegenheit, mein doch etwas eingerostetes Deutsch wieder etwas aufzufrischen, denn die »Amtssprache« der Agency war natürlich Englisch, aber der nächste Einsatz sollte uns nach Deutschland im Jahr 2010 führen. Ich würde dann zwar mit einem recht starken englischen Akzent, aber hoffentlich verständlich reden können. Mein »Premium-Trainee« Lisa O’Donoghue hatte natürlich in ihrer Personalakte verhandlungssicheres Deutsch in Wort und Schrift vermerkt, da war ich tatsächlich auf die Praxis gespannt.

Durch den dazwischen geschobenen Einsatz war auch der Einsatzname von Pinguin auf Qualle geändert wurden, weil nach irgendeiner hochbürokratischen Richtlinie der Agency alle Einsätze in einer alphabetisch fortlaufenden Reihe bezeichnet werden mussten.

Dieser Einsatz von Lisa und mir wurde aber sogleich noch einmal zurückgestellt, weil die Korrektoren vorzeitig von ihrem Einsatz zurückgekehrt waren. Ob und wie dies damit zusammenhing, dass ich mir einbildete, kurz vor dem Zubettgehen ein leichtes Zeitbeben verspürt zu haben, würde sich dann in den nächsten Tagen aufklären. Normalerweise hatten unsere Änderungen an der Vergangenheit, die eigentlich immer sehr gut vorgeplant waren, nur langsam sich vollziehende Auswirkungen zur Folge. Sollte bei einem Einsatz aber etwas schief gegangen sein, so konnte es passieren, dass sich das Raum-Zeit-Kontinuum sehr abrupt änderte, was meistens sehr starke Gravitationswellen auslöste, die dann als sogenannten »Zeitbeben« zu spüren waren. Wenn man aber so ein Beben aber sogar bis in die Neutrale zu spüren bekam, musste irgendetwas komplett in die Hose gegangen sein.

In der Zentrale brach wie erwartet eine hektische Betriebsamkeit aus, die mir so gar nicht behagte. Wie ich dann erfuhr, war bei diesem Einsatz ausgerechnet einer der neuen Trainees ums Leben gekommen. Nicht nur das war passiert, sondern Gerüchten zufolge hatte der Einsatz Pinguin wohl das komplette Gegenteil von dem bewirkt, wofür er eigentlich vorgesehen war. Das würde das Zeitbeben erklären, und ich war gespannt, wie sich das in den im Foyer angezeigten Zahlen niederschlug. Für mich als nach meiner Beförderung ranghöchsten aktiven Zeitagenten hieß das auf jeden Fall die Teilnahme an der notwendigen Anhörung – wenn auch zum Glück nur in der passiven Rolle eines Beisitzers. Meine Bücher und der Deutschunterricht mussten also erst einmal warten.

Schon am nächsten Morgen um neun Uhr war der Beginn der Anhörung angesetzt. Das kam mir merkwürdig vor, hatten sich die Inspektoren doch sonst immer etwas Zeit gelassen, um die Folgen des Einsatzes schon für eine Anhörung aufbereiten zu können. Eigentlich war ich aber ganz froh über diesen kurzfristig angesetzten Termin, denn dann war die – von mir äußerst ungeliebte – Sitzung auch schnell wieder vorbei.

Die Agency hatte einen Konferenzraum so umbauen lassen, dass alles doch sehr an einen Gerichtssaal aus vergangenen Jahrhunderten erinnerte. An der Stirnseite war eine lange Tischreihe für die verschiedenen Chefs aufgebaut und ich als einer der zwei Beisitzer hatte einen Platz ganz außen neben dem Leitenden Korrektor zugewiesen bekommen.

Den Vorsitz hatte der Leitende Inspektor, der auch sogleich die Sitzung eröffnete, nachdem alle Beteiligten Platz genommen hatten. Die Korrektoren, die für diesen Einsatz verantwortlich zeichneten, waren in der Agency unter der Hand schon lange für ihre vermurksten Einsätze bekannt; es war meiner Meinung nach ein Wunder, dass sie überhaupt noch auf Außeneinsätze durften. Sehr schnell wurden sie von allen Chefs ins Kreuzverhör genommen – wobei sich mein Chef, der Leitende Protektor, etwas zurückhielt –, was mich sehr stark an ein Buch erinnerte, welches ich vor langer Zeit einmal gelesen hatte.

Was aber war hier los?

Warum wurden die Korrektoren, die sonst eigentlich jegliche Narrenfreiheit genossen, derartig unter Feuer genommen?

Der Einsatzbericht, den auch ich zur Sitzung vorgelegt bekommen hatte, war selbst für Korrektoren-Verhältnisse sehr dürr, und es war daher kein Wunder, dass die Chefs so nachbohrten. Das alles aber erklärte ihr Verhalten nicht wirklich und es musste einen anderen Grund dafür geben, der mir aber nicht mitgeteilt worden war. Selbst die Korrektoren mit dem sonst größten Mundwerk waren plötzlich ganz kleinlaut, und spätestens jetzt beschloss ich, der Sache selbst auf den Grund zu gehen. Meinen oder andere Chefs konnte oder wollte ich nicht fragen, aber da war ja noch meine Trainee.

In einer Pause setzte ich mich in eine ruhige Ecke des Raumes ab, drückte auf meinen CR und stellte eine Verbindung zu Lisa her. Ihre Recherchen ergaben recht schnell, dass der tote Trainee der Großneffe eines hohen Tieres aus dem Vorstand der Agency gewesen war. Lisa war er ab und zu bei ihrer Ausbildung über den Weg gelaufen, (»man soll ja nicht schlecht über Tote reden…«) aber er kam ihr eher als eingebildeter Schnösel vor, da er immer wieder mit seinem Vorstandsonkel angegeben hatte. Von diesen verwandtschaftlichen Verhältnissen fand sich zwar nichts im Bericht oder in den sonstigen Unterlagen wieder, aber so konnte ich mir immerhin das Verhalten der Chefs erklären.

Daher wehte also der Wind! Wenn es im Prinzip um ihresgleichen ging, schalteten die Chefs in einer Anhörung noch ein paar Gänge höher.

Ich hatte mich schon auf eine für mich als Beisitzer zwar ruhige, aber mit meinem frisch gewonnenen Hintergrundwissen dennoch sehr aufschlussreiche Sitzung gefreut, da wurde kurz vor Schluss doch noch von mir eine Wortmeldung angefordert.

»Agent Cassell, haben Sie noch etwas beizutragen?«, fragte der Leitende Korrektor.

Ausgerechnet der Leitende Korrektor! Ich war misstrauisch genug, hier eine mir gestellte Falle zu vermuten.

»Ich bin hier nur der Beisitzer, ich habe hier nur – bei – zu sitzen und Protokoll zu führen«, versuchte ich mich herauszuwinden.

Der Leitende Inspektor meinte: »Na kommen Sie schon. Was sagen Sie aus ihrer langjährigen Erfahrung?« 

Ein Punkt war mir tatsächlich aufgefallen, der in der gesamten Sitzung noch nicht angesprochen worden war, den ich aber dafür verantwortlich machte, dass ein junger und unerfahrener Trainee ums Leben gekommen war.

Ich holte tief Luft und antwortete: »Ich könnte mir vorstellen, dass die Eigensicherung eventuell etwas vernachlässigt wurde.« 

»Da haben Sie natürlich vollkommen Recht«, stellte der Leitende Inspektor fest.

Natürlich.

Natürlich hatte ich aber auch – und eher unabsichtlich – damit die Feindschaft zwischen Protektoren und Korrektoren noch weiter vertieft. Als ich nämlich in die sich verfinsternden Mienen der Korrektoren blickte, bereute ich es auch schon wieder, hier überhaupt eine Antwort gegeben zu haben. Ein Beisitzer zu sein, war wohl doch nicht so berauschend und nahm mir vor, mich zukünftig darum drücken zu wollen.

Nicht wirklich überraschend, aber doch sehr ungewöhnlich für das sonstige Verhalten der Agency, fielen dann die verhängten Strafen recht hoch aus und es gab das volle Programm: Degradierungen, Innendienst, Zurückstellen von Einsätzen undsoweiter.

Der Leitende Inspektor verkündete abschließend, dass er und seine Kollegen erst einmal viel Zeit brauchten, um die von den Korrektoren bei diesem Einsatz angerichteten großen Schäden und schweren Fehlentwicklungen zu analysieren und zu bewerten. Leider wurden alle Einsätze, darunter auch der von Lisa und mir in das Jahr 2010 erst einmal zurückgestellt.

Er hatte wirklich große Schäden und schwere Fehlentwicklungen gesagt! So etwas hatte ich bisher mir zwar nur gedacht, aber noch nie laut ausgesprochen – und schon gar nicht hatte ich so einen »Klartext« von einem Chef erwartet. Immer noch aber war mir der vorgebliche neue Stil der Agency-Chefs nicht ganz geheuer. Meine Gedanken kreisten um das ungewöhnliche Verhalten der Chefetage. Mir war nicht klar, warum die Korrektoren dieses Mal so ausgebremst wurden. Sie waren zwar wirklich zu weit gegangen, aber noch nie war dann so etwas passiert.

Auch ein mir unbekannter Mann, der aber sehr wichtig daherkam und vielleicht sogar der Onkel des Trainees war, meinte beim Herausgehen zum Leitenden Inspektor, dass Anhörungen ab jetzt viel strenger durchgeführt werden mussten. Bei mir läuteten die Alarmglocken immer lauter und noch auf dem Weg zur Kabinenbahn nahm ich wieder mit Lisa Kontakt auf.

»Lasse alles stehen und liegen! Wir treffen uns vor meinem Quartier. Pronto! Sofort!«, rief ich in denn CR hinein.

Fast gleichzeitig kamen wir an der Vorraumtür an. Ich öffnete beide Türen und bat sie hinein.

»Nett hier!«, stellte sie fest, als sie sich umgesehen hatte.

Ich hatte ganz vergessen, dass sie noch nie bei mir im Quartier gewesen war – schon, um gewissen Gerüchten entgegenzuwirken.

Dann sagte sie etwas, als ich sie bat, auf dem Sofa Platz zu nehmen, so dass ich mich wieder in meiner Ansicht bestätigt sah, hier ein sehr intelligentes Mädchen vor mir zu haben.

»Ich weiß«, begann sie, »dass du gleich sagen wirst: ›Es ist nicht so, wie du denkst, wenn ich dich hier in mein Quartier einlade!‹ Ich sehe nämlich dein besorgtes Gesicht. War es die Anhörung?« 

Währenddessen hatte ich auch ein bestimmtes Buch im Regal gefunden und nahm es heraus.

»Ja, es war die Anhörung. Also zum Thema: Lisa, du weißt ja sowieso schon alles!« 

Ich erstickte ihre beginnende Widerrede, indem ich die Hand hob und fortfuhr.

»Ehrlich, du bist doch ein wandelndes Zeitagenten-Lexikon. Also mache ich jetzt zwar noch Pflichtunterrichtsstunden, aber mit etwas anderem Inhalt!« 

Sie nahm das Buch von mir entgegen und schaute es an, als ob es irgendein verbotener Gegenstand war.

»Das ist ein B–Buch«, stotterte sie.

»Ja klar, ein Buch: Pappe, Papier, Druckerschwärze, Buchbinderleinen, Buchbinderleim – was denn sonst?« 

Langsam musste sie doch über meine Vorliebe für echte Bücher aus Papier Bescheid wissen. Darüber gab es in der Agency bestimmt auch viel Klatsch und Tratsch.

»Also pass’ auf! Das ist ein Gerichtsthriller, herausgegeben Ende des zwanzigsten Jahrhunderts!« 

Ich erzählte ihr von der Anhörung und dass diese – vor allem in der vom Leitenden Inspektor angedrohten neuen Form – doch sehr einem Gerichtsprozess aus dem zwanzigsten Jahrhundert ähnelte.

»Hausaufgabe: Buch lesen und das darin enthaltene taktische Vorgehen bei einem Prozess vor einem Gericht des zwanzigsten Jahrhunderts herausarbeiten! Und dir als Bluff-Spezialistin fällt bestimmt noch mehr dazu ein.« 

Sie lachte, blätterte ein wenig im Buch herum und sagte dann zu, diese Aufgabe zu erledigen.

»Das mit dem Bluffen ist eigentlich ganz einfach«, stellte sie abschließend fest, »du darfst nicht zeigen, wenn du nichts auf der Hand hast, und vor allem auch nicht, wenn du etwas auf der Hand hast!« 

»Lisa, das ist mir bewusst. Aber kann man auch ein Pokerface trainieren?« 

»Im Prinzip schon, aber da ist auch viel Veranlagung dabei.« 

»Was schlägst du mir dann vor?« 

»Denk’ an etwas nicht so Schönes, wenn du bluffen willst. Zum Beispiel an einen kleinen Hund mit einer verbundenen Pfote, der dich mit großen Augen traurig anschaut.« 

»Einen kleinen Hund mit einer verbundenen Pfote?« 

»Ja, weil er in eine Glasscherbe getreten ist.« 

Nun musste auch ich lauthals lachen, wurde aber von Lisa gebremst.

»Tim, du sollst doch nicht lachen, wenn du eigentlich ein neutrales Pokerface machen sollst!« 

Wieder einmal sah ich mich darin bestätigt, dass die Agency mit meiner Trainee einen guten Fang gemacht hatte.

Lisa wurde aber sofort wieder ernst.

»Eine Frage habe ich noch.« 

»Nur raus damit!« 

»Ich weiß, es klingt blöd, aber der tote Trainee, auch wenn er ein doofer Schnösel war, kann man ihn nicht einfach retten, indem man wieder in der Zeit zurückgeht?« 

»Lisa, jetzt bin ich aber enttäuscht vor dir! Das müsstest du doch eigentlich wissen, von wegen Paradoxon und so. Und du hattest es mir auch schon erklärt, als es um die Deja vu-Bar ging. Wir sind hier schließlich nicht bei Lola rennt!« 

»Lola rennt?« 

»Ein deutscher Spielfilm vom Ende des zwanzigsten Jahrhunderts.« 

Sehr schnell konnte ich Lisa davon überzeugen, gemeinsam diesen Spielfilm heute Abend noch anzusehen – gewissermaßen als Ersatz für den Deutschunterricht auch dann in deutscher Sprache. Ich bestellte uns noch etwas Essen auf mein Quartier und als dieses geliefert worden war, konnte der Filmabend beginnen.

Der Film konnte aufgrund seines Alters nur zweidimensional abgespielt werden, aber ich als Spezialist für diesen Zeitraum hatte in letzter Zeit sowieso ausschließlich zweidimensionale Filme angesehen. Ich startete die Projektionsanlage und der Film wurde in die Mitte des Raumes projiziert. Wir machten es uns auf meinem großen Sofa gemütlich und ich überlegte, wann ich das letzte Mal mit einer Frau zusammen einen Spielfilm angesehen hatte, aber ich konnte mich nicht mehr daran erinnern.

Der Film handelte von drei Versuchen, ein bestimmtes Ereignis herbeizuführen, und diese Versuche starteten immer am gleichen Zeitpunkt.

»Wie wir heute aber wissen«, dozierte ich, »steigt schon beim dritten Versuch die Wahrscheinlichkeit, ein Raum-Zeit-Paradoxon hervorzurufen, gegen unendlich.« 

»Also nichts mit mehreren Versuchen?« 

»Nein, das hätte kurz nach der Gründung der Agency schon fast wieder zu ihrer Selbstauflösung geführt.« 

Die Hauptdarstellerin hatte auffallend orangerote Haare und ich beschwor Lisa beim Hinausgehen, doch bitte ihre natürliche rote Haarfarbe beizubehalten.

Sie lachte, salutierte und entgegnete: »Alles, was Sie befehlen, Senior Agent Cassell, Sir!« 

Ich erinnerte sie nochmals an ihre Hausaufgabe, das Buch auch wirklich durchzulesen, die Tür der Kabinenbahn öffnete sich und Lisa ging hinein.

»Gute Nacht!«, rief sie mir durch die sich schließende Tür zu.

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