Tag 7
Die Orden

Nach einer wieder einmal viel zu kurzen Nachtruhe hatten wir schon wieder im Konferenzraum versammelt.

Uhrzeit: 0812 WPCT

Rechtzeitig vor Beginn des Sendezeitfensters traf auch der japanische Kanonier wieder ein und richtete den Sender neu aus.

Wie beim letzten Mal begannen wir, die Nachricht genau zum selben Zeitpunkt nach Beginn des Sendezeitfensters zu senden. Und wieder konnten wir nur warten, denn wir hatten bisher niemals eine Reaktion des Gegners gesehen.

»Das funktioniert doch nicht wirklich. Ich finde, dass das viel zu viel Aufwand für Nix ist«, meinte Eric pessimistisch.

Leider musste ich ihm hier zustimmen und die Zweifel wurden stärker, ob mein Plan überhaupt funktionierte. Trotzdem ließ ich noch eine weitere Nachricht vorbereiten, die dem Gegner die vollständige Übernahme oder Zerstörung aller Schiffe vorgaukeln sollte. Ich beschloss, mir danach erst einmal ein zweites Frühstück zu gönnen. Tanya begleitete mich.

»Jetzt habt ihr Zwei ja wieder Zeit für’s Turteln«, lästerte Paula leise im Vorbeigehen.

Ich warf ihr einen finsteren Blick zu und begab mich auf den Weg ins Offizierskasino. Eigentlich hatte ich gehofft, dort meine Ruhe zu haben, aber leider hatte der Admiral uns erspäht und winkte uns zu sich.

Dann musste ich eben in den »Smalltalkmodus« gehen. Und Tanya war ja bei mir und konnte mir somit ein wenig Konversation abnehmen.

Ich hatte kaum die Hälfte meiner Portion vertilgt, da gab es wieder Alarm, wenn auch nur eine Art Voralarm. Es wurde aber mehrmals durchgesagt, dass es keine Übung war.

Dann kam die Nachricht, die mich frösteln ließ.

»Es bewegt sich etwas! Sie kommen! Der Gegner greift an! Er hat die gefälschten Nachrichten offensichtlich als echt angesehen!« 

Der Admiral sprach mit seiner persönlichen Wache und wandte sich dann wieder mir zu.

»Es scheint so, als ob Ihr kleiner Plan tatsächlich funktioniert hat, mein lieber Professor! Kommen Sie mit mir in den Keller zum Stab, dann sehen wir mal, was los ist!« 

Wir fuhren hinunter zum Stabsraum. Der Admiral wurde schon erwartet.

»Lage?«, fragte er.

»Acht Schiffe des Gegners. ETA in drei Stunden.« 

»Dann wollen wir mal! Lösen Sie erweiterten Alarm für alle aus!« 

»Aye, Sir!« 

Der Admiral drehte sich wieder zu mir um.

»Sind Sie da oben einsatzbereit, Professor?« 

Ich nickte. Der Admiral winkte einen Wachsoldaten zu sich.

»Sehr schön! Sergeant, geleiten Sie den Professor schnell und sicher zu seinem Arbeitsplatz!« 

»Aye, Sir!« 

Mit dem Geleitschutz, den ich als vollkommen überflüssig empfand, da ja kein Klon mehr frei herumlaufen konnte, kam ich im Konferenzraum an. Tanya lief mir entgegen.

»Es geht los!«, stellte sie fest.

Diese Aussage traf aber nicht hundertprozentig zu, denn wir kamen ja erst ins Spiel, wenn der Gegner die ersten Jägerverbände starten sollte. Also mussten wir wieder einmal warten.

Schneller als erwartet bekamen wir dann doch etwas zu tun, denn der Gegner startete seine Jäger weit vor den von uns vermuteten Position.

Schon trafen die ersten Daten von den vorgelagerten Aufklärerverbänden bei uns auf dem Tisch ein. Wir konnten aber erst tätig werden, wenn ein Jägerverband tatsächlich einen Angriff flog – und wir mussten hoffen, dass der Gegner zwischenzeitlich nicht seine Taktik geändert hatte. Die Datenanalyse der verschiedenen Schlachten des Krieges hatte aber eine gewisse Kontinuität gezeigt, daher war ich recht zuversichtlich.

Dann war es soweit, der Gegner griff mit seinen Jägern das größte Schiff des Aufklärerverbands an. Mehrere unserer Schiffe lieferten laufend Daten des Angriffs und alles mündete auf den Tischen in eine große dreidimensionale Abbildung der Schlacht.

Nach nur kurzer Zeit rief Pepe plötzlich »Tomahawk!« 

So viele verschiedene Flugmanöver auf einmal konnte ich unmöglich gleichzeitig beobachten und erst recht nicht daraus dann die richtigen Schlüsse ziehen.

»Ist das wirklich Tomahawk?«, fragte ich daher.

Eric antwortete: »Tomahawk bestätigt!« 

Die Software hatte die Analyse fertiggestellt und war zum gleichen Ergebnis gekommen. Obwohl ich schon viele Jahre mit ihm zusammengearbeitet hatte, war ich immer wieder aufs Neue von Pepe überrascht. Er war tatsächlich schneller als Dmitris und Erics Software gewesen. Es war immer wieder gut, eine Art zweite Meinung zu haben, daher wollte ich mich weder auf das eine noch auf das andere alleine verlassen müssen.

Ich meldete Tomahawk an Tanya weiter und schon gingen die nächsten Daten von weiteren Angriffen ein.

Bald mussten wir unseren Tisch in drei Bereiche aufteilen, da der Gegner gleichzeitig mehrere Angriffe flog. Dann ging es Schlag auf Schlag.

»Tomahawk gegen USS Florida!« – »Tomahawk bestätigt!« 

»Nochmal Tomahawk, USS Florida, Backbordseite!« – »Bestätigt!« 

»Bumerang gegen Jägerverband Blau, HMS Cardiff!« – »Bestätigt!« 

»Nochmal Bumerang, Jägerverband Grün, HMS Cardiff! Ein wenig einfallslos sind sie ja schon!« – »Bestätigt!« 

Durch den Alarm lief die Klimaanlage nicht mehr und so wurde es hier drinnen immer heißer. Auch das Taktik-Team geriet mehr und mehr ins Schwitzen, so dass Tanya den oberen Teil ihres Overalls geöffnet und die Ärmel um ihre Hüfte verknotet hatte. Mit ihrem knappen hellgrauen Tanktop sah sie sehr, sehr STROA-mäßig aus.

Der Gegner startete immer mehr Angriffswellen und obwohl wir es geschafft hatten, immer die zwei angreifenden Jäger zu stoppen, waren doch einige Verluste zu beklagen. Beruhigend dabei war, dass der Gegner immer noch nicht von seinen lediglich zwei Angriffsmustern abwich und wir dadurch langsam, aber stetig die Oberhand gewannen. Tanyas Team hatte gute Arbeit geleistet, die Abwehrmanöver sehr gut zu verschleiern; der Gegner hatte wohl offensichtlich keine Ahnung davon, dass und wie wir ihm auf die Schliche gekommen waren.

Der Wendepunkt war erreicht, als der Gegner keine neuen Jäger mehr startete. Eigentlich musste der Generalstab jetzt unsere »stille Reserve« ins Spiel bringen und zum finalen Gegenschlag ansetzen.

Tanya kam zu mir und wir setzten uns nebeneinander an den Rechner, der direkt mir dem Generalstab verbunden war und die generelle Lage zeigte.

»Gute Arbeit«, hauchte sie mir ins Ohr und mir wurde noch heißer.

»Ebenfalls«, flüsterte ich zurück.

Sie zeigte auf den Rechner und meinte: »Jetzt starten sie!« 

Auf dem Lagebildschirm sah man die für den Gegner als »defekt« markierten Schiffe sich in Richtung der Schlacht bewegen. Ich spürte ein leichtes Zittern unter meinen Füßen und der Boden vibrierte leicht, als die Honshu Maru startete.

Uhrzeit: 1445 WPCT

Schon nach erstaunlich kurzer Zeit – wir mussten nur noch drei Gegenangriffe analysieren – wurden keine neuen Daten mehr zu unserem Tisch durchgeleitet. Ich fragte beim Generalstab nach, ob die Datenübertragung ausgefallen war, und ich bekam die überraschende Antwort, dass die Kampfhandlungen eingestellt worden waren und wir aber in Bereitschaft bleiben sollten, bis wir weitere Befehle erhalten sollten.

»Alle mal herhören!«, rief ich und leitete die Informationen des Generalstabs weiter.

Ich fand außerdem, dass wir eine kleine Pause verdient hatten.

»Ich kann mich dem nur anschließen«, sagte Tanya zu den Militärangehörigen, »also: Wegtreten!« 

Nach etwa einer Stunde hatten wir dann endlich Gewissheit: Der Gegner hatte kapituliert! Schon wurde auch der Alarm aufgehoben, die Betonschürzen fuhren wieder hoch und die Klimaanlage begann zu arbeiten.

Aus dem Meldungen des Stabs erfuhr ich, dass das Flaggschiff des Gegners schwer beschädigt worden war und auf einem Mond des Nachbarplaneten notlanden musste. Weitere gegnerische Schiffe waren zur Unterstützung auf den Mond gekommen, und so hatte unser Generalstab beschlossen, den Mond daraufhin mit allen unseren verfügbaren Schiffen einzukesseln. Durch unsere Überzahl, die sich dank unser fingierten Nachrichten für den Gegner offenbar vollkommen überraschend einstellte, wurde ihm deutlich, dass er keine Chancen mehr besaß, das Ruder noch einmal herumzureißen.

Nach kurzer Zeit – sie beherrschten wohl durch die Herstellung der Klone einige unserer Sprachen – wurde dann unserem Stab die Kapitulation übermittelt.

Dmitri ging an mir vorbei und stellte fest: »Mal wieder erfolgreich, wie immer, wenn wir das Sagen haben! Jetzt brauche ich aber Feierabend.« 

»Feierabend wäre jetzt nicht schlecht«, stimmte Eric ihm zu.

Ich ergänzte: »Ja, anstrengend war’s schon.« 

Leider konnten wir aber noch keinen Feierabend machen, denn beide Teams wurden zum Generalstab zitiert. Ich überlegte, was ich eventuell verbrochen haben könnte oder ob es sich womöglich um die erwartete und von mir schon im Voraus Bauchschmerzen verursachende Ordensverleihung handeln konnte. Den Generalstab hatte ich zuletzt mit Geleitschutz verlassen, aber dies war jetzt zum Glück nicht mehr notwendig.

Dennoch war das Gebäude noch durch viel Sicherheitspersonal abgeriegelt und ich fühlte mich immer noch sehr unwohl, als wir im Büro des Admirals ankamen.

Er hingegen schien einen gelösten Eindruck zu machen.

»Schön, dass ich Sie alle einmal zusammen sehe!«, begrüßte uns der Admiral.

Die Militärangehörigen standen stramm und salutieren und der Admiral salutierte zurück.

»Ich habe eine kleine Überraschung für Sie!«, fuhr er fort.

Ich überlegte. Eine kleine Überraschung. Eine Ordensverleihung hätten sie auch viel größer aufgezogen.

»Ich möchte Sie bitten, mir auf das Flugfeld zu folgen. Wir machen einen kleinen Ausflug!« 

Ich schaute Tanya an, aber sie zuckte nur leicht mit den Schultern. Der Admiral nahm seine Uniformjacke von der Garderobe, zog sie an und begab sich zur Tür.

»Kommen Sie, folgen Sie mir!« 

Ich flüsterte Tanya ins Ohr: »Jetzt gibt’s doch eine Ordensverleihung. Wir sollten wohl warten, bis draußen alle angetreten sind.« 

»Kann sein. Ich habe aber nicht den geringsten Schimmer, was hier vor sich geht«, flüsterte sie zurück.

»Sie brauchen nicht zu flüstern«, gab uns der Admiral zu verstehen. »Nur so viel verrate ich: Ich wurde gebeten, Sie mit jemandem bekannt zu machen. Nicht jeder hat die Ehre, diesem Jemand einmal in natura gegenüber zu stehen.« 

Es wurde immer merkwürdiger. Der Admiral wurde gebeten? Von wem? Und wer war dieser »Jemand«? Eine Delegation des Gegners, dem tatsächlich noch kein Mensch in natura gegenübergestanden hatte?

Gemeinsam gingen wir auf das Flugfeld. Es waren keine angetretenen Truppen zu sehen, das war schon einmal ein gutes Zeichen. Der Admiral führte uns zu einer in unmittelbaren Nähe des Stabsgebäudes stehenden kleinen Raumfähre. Wir bestiegen die Fähre, suchten uns Plätze aus und schnallten uns an. Die Türen wurden geschlossen und die Fähre startete.

Aus den Fenster sah ich auf die noch leicht qualmenden Trümmerhaufen, die zur Verwirrung des Gegners auf dem Flugfeld aufgeschüttet und angezündet worden waren. In der Ferne verzogen sich gerade die Wolken, mit dem das Geothermiekraftwerk eingenebelt worden war. Ich fragte mich, ob das überhaupt etwas geholfen hätte, da der Gegner doch sicher Radar oder Ähnliches besaß. Die Gewächshäuser sahen unzerstört aus, trotz eines abgestürzten gegnerischen Jägers in unmittelbarer Nähe. Beim nächsten Frühstück brauchte ich also hoffentlich nicht auf meine Tomaten verzichten.

Meine Gedanken wandten sich wieder dem Admiral und seiner »kleinen Überraschung« zu.

Eine Ordensverleihung war es schon einmal nicht. Aber was war es dann? Der Admiral schien eine fast kindliche Freude daran zu haben, uns noch im Dunkeln tappen zu lassen. Man sah ihm die Erleichterung nach dem erfolgreich ausgehandelten Waffenstillstand an.

Als die Fähre über die Bergkette hinweg flog, von der die Hochebene begrenzt wurde, und das Meer in Sicht kam, wurde mir schlagartig klar, wohin die Reise gehen sollte. Und tatsächlich nahm die Fähre Kurs auf die der Küste vorgelagerte Insel mit dem Forschungszentrum.

Ich war zwar ursächlich dafür verantwortlich, dass die Menschen Kontakt mit den Wasserwesen aufnehmen konnten, hatte aber noch nie direkt im Forschungszentrum zu tun, da ich damals alles von der Erde aus gesteuert hatte. Nun ergab es sich also, die Früchte meiner – unserer – Arbeit kennenlernen zu können.

Tanya, die natürlich neben mir saß, stupste mich an und sagte: »Max, schau ’mal aus dem Fenster!« 

Zwischen Kontinent und Insel bot sich ein eindrucksvolles Schauspiel. An einer Stelle, an der wohl mehrere Strömungen aufeinander trafen, bildeten sich haushohe Wellenberge, die große Gischtwolken ausstoßend in sich zusammenfielen.

Die Fähre flog durch so eine Wolke, setzte dann zum Landeanflug an und landete auf einer Freifläche vor einem großen Gebäudekomplex. Jeder, der aus der Fähre ausstieg, hielt erst einmal inne. Eine frische Meeresbrise, wie ich sie so viele Lichtjahre von der Erde entfernt niemals vermutet hätte, umwehte meine Nase. Ich nahm einen tiefen Atemzug und sah aus den Augenwinkeln, wie zumindest Tanya es mir nachmachte. Auch Paula streckte sich und atmete tief ein.

Die Wachsoldaten führten den Admiral und uns in das nach seiner Aussage Allerheiligste des Gebäudes, nämlich den Bereich, in dem mit den Wasserwesen direkt Kontakt aufgenommen werden konnte.

»Wir treffen die Wasserwesen?«, fragte Paula erstaunt.

»Sieht so aus«, antwortete ich. »Mal sehen, was bei unserem damaligen Projekt so herausgekommen ist.« 

In einem großen Raum setzten wir uns an Tische, in die an jedem Platz ein kleiner Rechner eingebaut war. Der Raum hatte an einer Seite einen großen Vorhang, der sich nun langsam öffnete. Hinter dem Vorhang kam eine dicke Glaswand zum Vorschein, die den Blick auf ein Wasserbecken, es war eher ein Aquarium, freigab. Im hinteren Bereich des Beckens sah ich ein Tor zur Seite gleiten.

Mehrere Wasserwesen kamen langsam durch das Tor in das Becken hinein geschwommen und positionierten sich direkt an der Glaswand in einer gleichmäßigen Formation. Ich hatte Wasserwesen bisher nur auf Bildern gesehen, hier aber waren gleich mehrere von ihnen in natura zu sehen. »In natura«; langsam begann ich zu begreifen, was der Admiral damit gemeint hatte. Die Wasserwesen hatten nur entfernte Ähnlichkeit mit Fischen, Walen oder sonstigem Meeresgetier, was auf der Erde vorkam. Der große Unterschied waren die vorderen »Flossen«, die wie dreifingrige Hände ausgebildet waren.

Das sich in die Mitte der Formation positionierte Wasserwesen bewegte seine »Kiemen« – oder was immer das war – und es war ein leises Zirpen zu hören.

»So sprechen sie«, sagte ich leise zur neben mir sitzenden Tanya. Zumindest dieses Detail war mir von meinen damaligen Forschungsarbeiten in Erinnerung.

Tanya erwiderte jedoch nichts und saß nur mit offenem Mund da.

Wir freuen uns, dass Sie gekommen sind, war auf den Rechnern die Übersetzung zu lesen. Wir hoffen, dass es so angenehm für Sie temperiert ist.

»Alles bestens«, meinte ich.

Das Wasserwesen fragte: Wie sind denn genau die Temperaturen, bei denen Menschen noch leben können?

Ich dachte immer noch, sie hätten sich mittlerweile ein wenig mehr über die Menschen informiert, so wie wir über sie.

»Wir kommen von ungefähr minus vierzig bis plus fünfzig Grad Celsius klar. Ich selber finde zwanzig bis dreißig Grad am Besten.« 

Auch Temperaturen weit unterhalb des Gefrierpunktes?

»Dicke Jacke, Schal, Mütze, Handschuhe undsoweiter sind dann schon Pflicht, sonst wird’s etwas kalt. Und dann gibt’s da noch die Leute, die ganzjährig kurzärmelig herumlaufen.« 

Sagten Sie ›fünfzig Grad Celsius‹? So auf dem halben Weg zum kochenden Wasser?

Ich stellte fest: »Ja, dann musst man aber aufpassen und muss schauen, was man anfasst. Ein Autodach kann sehr heiß werden. Und man schwitzt so stark.« 

Die Pole Ihres Heimatplaneten sind auch dick mit Eis bedeckt, leben Sie dort auch?

Anna antwortete: »Das Eis macht nichts, auf unserem Südpol haben wir mittlerweile eine dauerhaft besetzte Forschungsstation, trotz bei Sturm gefühlten Temperaturen von minus hundert Grad und wochenlangen Schneestürmen, bei denen man die Hand vor Augen nicht mehr sieht.« 

Da habt ihr bestimmt erst einmal Maschinen hingeschickt, die diese Temperaturen auch vertragen können, oder?

»Nein, Menschen. Ist aber auch schon viele, viele Jahrzehnte her.« 

Menschen zu einem Ort mit minus wie viel Grad? Und die sind gut angekommen?

Ich musste zugeben: »Ähm, nein.« 

Nein? Und dann?

»Dann haben wir gleich noch ein paar Forscher hinterher geschickt.« 

Es entstand eine eigenartige Pause.

Und dann gibt es da noch die feuerspeienden Berge, nahm das Wasserwesen das Gespräch wieder auf.

»Vulkane sind toll. Viele von ihnen hier auf der Erde, besonders die aktiven, sind beliebte Touristenattraktionen.« 

Ihr geht freiwillig dort hin, um euch die bösen geschmolzenen Steine anzusehen?

»Ja, Lavaströme, so nennen wir diese, sind auch toll! Nur für die Leute, die da wohnen, nicht immer.« 

Menschen wohnen auch dort, wo die bösen geschmolzenen Steine sind?

»Ja, und erst die heißen Quellen dort! Sehr entspannend.« 

Menschen gehen freiwillig in heißes Wasser, das von den bösen geschmolzenen Steinen erhitzt wurde?

»Sagte ich doch. Sehr entspannend. Ihr müsst euch unbedingt Island oder Sizilien anschauen. Hat auch Meer drumherum.« 

Diese Konversation diente wohl nur dazu, um Zeit totzuschlagen, denn jetzt tat sich etwas.

Der Admiral befahl: »Bitte erheben Sie sich!« 

Wir standen auf uns die Wasserwesen bewegten sich zur Seite, so dass in der Mitte eine große Lücke entstand.

Dann kam der König.

Ich hatte schon viel vom König der Wasserwesen gehört, aber kein Mensch hatte ihn bislang zu Gesicht bekommen. Vielleicht war dies aber auch nicht mehr ganz korrekt, denn der Admiral schaute noch vergnügter drein. Offenbar hatte er als oberster Repräsentant der Menschen nach der Kapitulation des Gegners bereits Kontakt mit dem obersten Repräsentanten der Wasserwesen gehabt.

Der König hatte etwa die dreifache Größe der anderen Wasserwesen und ich schätzte seine Körperlänge auf etwa fünf Meter. Im Gegensatz zu den anderen Wasserwesen mit ihren eher matten hellgrauen Schuppen hatte er außerdem glänzende goldfarbene Schuppen, fast wie ein riesengroßer Koi-Karpfen. Zu allem Überfluss kam auch noch der Name Yamabuki aus den Tiefen meiner Synapsen hervor. Ich hieß zwar nicht Pepe, aber eine gewisse Merkfähigkeit für alle möglichen Dinge hatte mein Gehirn auch.

»Willkomen, Hoheit«, sagte der Admiral und verbeugte sich.

Die »Kiemen« des Königs bewegten sich und es war ein deutlich lauteres Zirpen als bei den kleineren Wasserwesen zu hören. Auf der Wasseroberfläche des Beckens kräuselten sich sogar kleine Wellen im gleichen Rhythmus.

Willkommen, übersetzte der Rechner.

Nacheinander wurden wir dem König vorgestellt. Als ich an der Reihe war, hielt der König inne. Ich schaute ihm in seine großen, ebenfalls goldfarben schimmernden Fischaugen.

Sie sind es also, dem wir es zu verdanken haben, dass wir miteinander kommunizieren können!

Natürlich bekam ich prompt das Gefühl, knallrote Ohren zu bekommen. Ich kam mir ziemlich lächerlich vor – noch dazu vor einem echten König.

»Ja, Hoheit«, sagte ich. »Es ist schön, Sie einmal persönlich kennenlernen zu können.« 

Sie, Herr Professor, haben uns so viel gegeben. Bitte kommen Sie – und die dunkelhäutige Militärfrau Bakersfield, der wir, wie mir berichtet wurde, ebenfalls den Sieg über unseren gemeinsamen Gegner zu verdanken haben, zu mir nach oben.

Also doch eine Art Ordensverleihung? Schon alleine den König einmal gesehen zu haben, reichte mir eigentlich als Bestätigung vollkommen aus. Ich war gespannt, was noch alles auf mich zukam.

Tanya und ich standen auf, ein Wachsoldat wies uns den Weg zu einer unscheinbaren Tür neben der Glaswand, die er öffnete. Hinter der Tür führte eine Treppe nach oben. Der Wachsoldat wies uns an, die Treppe hinaufzugehen und schloss sich uns an. Ich ging vor und oben angekommen trafen wir auf ein kleines Podest, das über die Wasseroberfläche des Beckens hinausragte.

Wieder hörte ich das, nun wesentlich lautere, Sirren und konnte von hier aus auch die kleinen Wellen deutlich sehen. Der Wachsoldat hielt uns einen kleinen Rechner hin und zeigte uns die Übersetzung von dem, was der König gerade gesagt hatte.

Halten Sie beide eine Hand über das Wasser!

Ich setzte mich an den Rand des Podests in den Schneidersitz und hielt meine rechte Hand über die Wasseroberfläche. Tanya setzte sich neben mich und tat es mir nach. Der König schwamm direkt unter das Podest und streckte eine seiner großen dreifingrigen »Handflossen« aus, so dass sie Tanyas und meine Hände gleichzeitig berührte.

Soweit ich mich erinnern konnte, hatte noch nie jemand den König der Wasserwesen berühren können. Seine Haut fühlte sich schuppig, aber nicht glitschig an. Doch das war erst der Anfang.

Mich überströmten viele Eindrücke vom Leben in den Meerestiefen, die lange Zeit der Besatzung durch den jetzt geschlagenen Gegner, die Befreiung, die Kontaktaufnahme mit den Menschen, der erneute Krieg und die erneute Erleichterung, dass der Krieg beendet war. Alles wurde umrahmt von philosophischen Gedanken über Leben und Tod und mit vielen Bildern von toten oder verstümmelten Wasserwesen während der Besatzungszeit, von ihnen auch die »dunkle Epoche« genannt. Die Wasserwesen waren damals fast ausgerottet worden und nur diejenigen, die sich in sehr große Wassertiefen zurückziehen konnten, hatten überlebt. Auch der König hatte einige enge Verwandte verloren und ich spürte deutlich die Trauer, die tief in ihm steckte.

Tanya schaute mich mit ihren schönen großen braunen Augen an und eine Träne lief ihr über die rechte Wange.

Mein Beileid, Hoheit!, hörte ich sie – ja, was denn eigentlich? Hörte ich sie etwa denken?

Dann wurde mir klar, was hier vor sich ging. Telepathie! Natürlich! Die Wasserwesen oder zumindest ein paar von ihnen hatten telepathische Fähigkeiten! Das Ganze erstaunlicherweise auch dergestalt, dass ich auch Gedanken eines anderen Menschen hören konnte. Wir hatten ja zunächst vermutet, dass sich so die Klone verständigten, was sich dann aber als falsch herausgestellt hatte.

Der König, der sowieso ein äußerst intelligentes Exemplar seiner Spezies zu sein schien, gehörte auch zu den Telepathen; wahrscheinlich auch eine Eigenschaft, um überhaupt König werden zu können.

Sie haben vollkommen Recht, Professor, hörte ich eine andere als Tanyas Stimme in meinem Kopf sagen.

Verdammt! Er konnte doch meine Gedanken lesen! Wie peinlich! Zum Glück hatte ich gerade keine frechen, schlüpfrigen oder abfälligen Gedanken im Sinn.

Ich hörte Tanya neben mir glucksen. Sie hatte es auch mitbekommen, da wir irgendwie »gedankenmäßig gekoppelt« waren.

Wenn Wasserwesen lachen könnten, dann würde es sich wohl so angehört haben, wie das, was mir gerade in meinem Kopf herum spukte.

Im Nachhinein war ich der Ansicht gewesen, dass dies wohl der »Eisbrecher« gewesen war, der den König dazu veranlasste, ein intensives »Gespräch« mit uns zu führen.

Nach etwa einer Viertelstunde des ergiebigen Gedankenaustausches (dieses Mal im wahrsten Sinne des Wortes!) zwischen dem König, Tanya (die er meine »Gefährtin« nannte) und mir waren Tanya und ich sichtlich erschöpft von den für uns ungewohnten Gehirntätigkeiten. Der König spürte dies und verabschiedete sich.

Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch! Jetzt kann ich mir auch besser vorstellen, warum genau Sie, Professor Doktor Maximilian van Eych, es geschafft haben, dass unsere beiden Spezies erstens Kontakt miteinander aufnehmen konnten und zweitens dass wir hier jetzt friedlich zusammenkommen konnten.

Er löste die Berührung und tauchte die Flosse wieder in das Wasser ein. Ich stand auf und half Tanya, ebenfalls wieder auf die Beine zu kommen. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Max, das war sensationell!« 

»Unglaublich, nicht wahr? Ich habe noch nie von Telepathie bei den Wasserwesen gehört. Das eben schien das erste Mal gewesen zu sein, bei dem Menschen und Wasserwesen auf diese Weise miteinander kommuniziert haben.« 

»Ja, mein Gefährte!« 

Ich musste losprusten.

»So hat der König uns genannt – das passt eigentlich ganz gut«, meinte ich.

Das war auch meine ehrliche Meinung, denn »Frau« oder »Ehefrau« klang irgendwie nach »kurz vor der Scheidung«. Beziehungen waren nun wirklich nicht mein Spezialgebiet… 

Sie gab mir einen Kuss auf die Wange und wir gingen die Treppe wieder nach unten.

»Was war da oben los?«, wollte Dmitri wissen.

Ich antwortete: »Wir hatten ein Sechs-Augen-Gespräch mit dem König.« 

»Du hast einen wirklich coolen Job, Professor Max!«, wiederholte sich Liz.

Wir flogen zum Stützpunkt zurück und dort war nun doch die obligatorische Ordensverleihung angekündigt, die ich so gerne vermieden hätte. Leider war ich wohl auch irgendwie eine Hauptperson und das Militär konnte jahrhundertelang eingeschliffene Verhaltensweisen nicht so einfach ablegen. Also musste ich in den saurem Apfel beißen und mich dem Ritual beugen. Die Anzahl der Teilnehmer an dieser Veranstaltung war glücklicherweise recht überschaubar, da zwar der Pulsar nicht mehr so stark sendete und die Hyperraumkommunikation mit der Erde wieder möglich war, nicht aber die Flüge durch denselben. Das Auditorium beschränkte sich daher auf alle, die sich auf dem Stützpunkt und auf den diversen Schiffen in diesem Sonnensystem befanden. Das waren allerdings für meine Verhältnisse immer noch viel zu viele Menschen. Nun gut, ich hätte mir ja einen anderen Job suchen können… 

Die Pioniere hatten auf dem Flugfeld eine Art Tribüne mit einem Rednerpult aufgebaut, auf der schon der gesamte Generalstab versammelt war, als Tanyas und mein Team auf dem Flugfeld ankamen. Nach und nach landeten Schiffe und der Platz füllte sich langsam mit Soldaten. Wir hatten unsere Plätze recht weit vorne auf der Tribüne zugeteilt bekommen – was Schlimmes ahnen ließ – und so hatten wir eine sehr gute Sicht auf das Geschehen.

Uhrzeit: 1900 WPCT

Befehle wurden gebrüllt und die Soldaten standen stramm.

Der Admiral trat an das Rednerpult und rief: »Rührt euch!« 

Seine Rede enthielt die übliche Rhetorik eines Kriegsgewinnes und ich stellte meine Ohren auf Durchzug. Statt dessen musste ich daran denken, wie ich in die Gedankenwelt des Königs der Wasserwesen eingetaucht war. Und nicht nur seine, sondern auch Tanyas Gedanken konnte ich spüren, hören, fühlen – nein, denken. Warum hatte der König dies nur gemacht? Und warum waren ausgerechnet Tanya und ich die Auserwählten? Durch den jahrelangen Krieg geprägt, vermutete ich erst einmal das Schlechteste. Was war, wenn wir jetzt, ohne es zu merken, zu gehirnveränderten und damit fernsteuerbaren Marionetten geworden waren? Nein, der Krieg war hoffentlich vorbei und ich musste wieder positivere Gedanken entwickeln, über unbekleidete schöne Frauen zum Beispiel. Vielleicht hatte der König nur auf seine, ehrliche Weise »Danke!« sagen wollen.

Donnernder Applaus riss mich aus meiner Gedankenwelt. Der Admiral hatte endlich seine Rede beendet und kündigte nun an, die Ordensverleihungen und Beförderungen vornehmen zu wollen. Zuerst sollten die Zivilisten und dann die Militärangehörigen an der Reihe sein.

Zivilisten also zuerst. Das konnten nur wir gewesen sein, denn wir waren die einzigen Zivilisten in diesem Sonnensystem. Die gute Nachricht war – ich hatte mir ja vorgenommen, nur noch positiv zu denken –, dass für mich der Trubel dann hoffentlich schnell vorbeiging.

Schon wurden Eric, Pepe, Dmitri und Paula aufgerufen, vor das Rednerpult zu treten. Na großartig, ich sollte also eine Extrabehandlung bekommen, das hatte mir gerade noch gefehlt!

Als Pepe an der Reihe war und, wie die anderen auch, vom Admiral den höchsten Orden umgehängt bekam, den Zivilisten bekommen konnten, gab es eine kleine Unterbrechung. Der für den Nachschub zuständige General stand auf und ging zum Rednerpult. Er hielt etwas in der Hand, was in der Sonne leicht golden glitzerte.

»Wir vergeben normalerweise keine Spezialauszeichnungen«, begann er seine Rede, »aber meine Mitarbeiter haben mich bedrängt, hier und heute eine Ausnahme zu machen. Diese spezielle Auszeichnung geht daher an denjenigen, der uns vom Nachschub sehr, sehr geholfen hatte, als direkt nach dem Rückzug hierher das Chaos am größten war!« 

Er überreichte Pepe das goldene Etwas, das er in der Hand hielt.

»Für besondere Leistungen für den Nachschubbereich vergebe ich hiermit den goldenen Palettenschweber!« 

Besonders unter den Soldaten, die anhand ihrer grauen Uniform als dem Nachschubbereich zugehörig auszumachen waren, brach lauter Jubel aus. In der Menge konnte ich Tanyas Schwester ausmachen, die ausgelassen mitjubelte.

Meine drei Teammitglieder gingen wieder auf ihre Plätze zurück. Der »goldene Palettenschweber«, den Pepe stolz in der Hand hielt, sah ganz niedlich aus.

Dann war ich an der Reihe.

Der Admiral begann mit »Mein lieber Professor…«. Das ließ nichts Gutes erahnen. Wann immer er so begonnen hatte, war eine sülzige Rede herausgekommen, die mich wieder einmal in den höchsten Tönen lobpreisen sollte. Zum Glück fasste er sich kurz. Wie alle anderen bekam auch ich einen glitzernden Orden umgehängt und der Admiral drückte mir lange die Hand. Endlich konnte ich mich wieder hinsetzen, und es kamen die Soldaten an die Reihe, streng nach Rang aufwärts.

Zu meiner Erleichterung, Tanya hatte wohl interveniert, waren bei den unteren Diensträngen auch unsere zwei Wachsoldaten dabei. Der kleinere von ihnen wurde vom Corporal zum Staff Sergeant, der größere vom Master Sergeant zum Sergeant Major heraufgestuft. Beide wurden nochmals gelobt für ihre Leistungen bei der Bekämpfung der Klone. Beim Wegtreten trafen sich zufällig meine Blicke mit denen des großen Wachsoldaten und ich zwinkerte mit dem rechten Auge, so dass er ein breites Grinsen zeigte.

Selbst der Kanonier, der uns bei der Ausrichtung des Senders geholfen hatte, wurde offensichtlich belobigt oder befördert, aber mit japanischen Dienstgraden kannte ich mich nicht aus.

Unter den Offizieren, die befördert wurden, waren – selbstverständlich – Liz, die vom First Lieutenant zum Major, Sean, der vom Captain zum Lieutenant Colonel und schließlich meine Tanya, die vom Major zum Colonel aufstieg. Zusätzlich bekamen alle drei noch irgendeinen hohen Tapferkeitsorden umgehängt. Nach Tanyas als ranghöchster Beförderung war die Zeremonie hoffentlich beendet.

Tanya kam zurück und setzte sich wieder neben mich.

»Colonel!«, sagte ich, schaute sie an und gab ihr die Hand.

Sie drückte fest meine Hand, schaute mir wieder einmal tief in die Augen und sagte: »Professor!« 

Am liebsten hätte ich sie jetzt umarmt und geküsst – und sie mich wahrscheinlich auch. Wir hatten uns aber vorgenommen, dies noch nicht in aller Öffentlichkeit zu tun. Tanya wollte daraus bestimmt irgendeine spektakuläre Aktion machen, wahrscheinlich in Absprache mit Paula und ohne mich zu fragen. Bisher wusste aber nur Paula von unser Beziehung, und sie hatte glücklicherweise bisher dicht gehalten.

Der Admiral trat noch einmal vor das Rednerpult.

»Wir veranstalten heute Abend eine kleine Siegesfeier, besorgen Sie sich schöne Zivilkleidung. Ich weiß, dass es dafür gewisse Quellen gibt. Also möchte ich, außer beim dafür eingeteilten Wachpersonal, keine Uniform sehen!« 

Der »Befehl« des Admirals versetzte Tanya und auch die anderen Damen in helle Aufregung.

»Wir müssen dringend zu meiner Schwester, ich habe ja gar nichts Passendes zum Anziehen!« 

Sie winkte ihrer Schwester, diese löste sich aus dem Pulk der Nachschubsoldaten und kam auf uns zu. Natürlich musste Tanya jeden aus unseren beiden Teams ihrer Schwester getrennt vorstellen. Ich war als letzter an der Reihe.

»Sie sind also der berühmte Professor«, stellte Shanee Bakersfield fest. »Meine große Schwester hat mir schon viel von Ihnen erzählt!« 

Hoffentlich nicht allzu viel; es reichte schon aus, wenn ich unter Paulas permanenter Beobachtung stand, was meine Beziehung zu Tanya anging.

Ich erwiderte: »Ich habe auch schon viel von Ihnen gehört. Die Aufforderung des Admirals galt wohl Ihnen, oder?« 

Shanee Bakersfield lachte und zeigte dabei ebensolche Grübchen wie ihre Schwester.

»Tanny, wollen deine zwei Kolleginnen sich auch neu einkleiden?« 

Tanya schaute sie finster an und nickte. Ihr Spitzname gefiel ihr wohl ganz und gar nicht. Ich fügte Tanny meiner Fettnapf-Vermeidungs-Liste hinzu und beschloss, diesen Spitznamen nur dann zu verwenden, wenn Tanya mich einmal richtig ärgern sollte.

Flugs hatte Tanyas Schwester eine Transportgelegenheit organisiert und meine drei Damen flogen mit ihr auf ihr Versorgungsschiff. Somit hatte ich für eine gewisse Zeit eine Tanya-freie Zone und ich ging in mein Quartier, um mir nach diesem anstrengenden Tag ein ausgiebiges Nickerchen zu gönnen.

Ich wurde erst wieder wach, als Tanya von ihrer Schwester zurückkehrte. Sie hatte einen großen Plastikbeutel in der Hand.

»Nicht gucken!«, befahl sie. »Wir treffen uns in zwanzig Minuten in Paulas Quartier.« 

Sie nahm ein paar Kleidungsstücke aus ihrem Spind und verabschiedete sich gleich wieder.

Paulas Zimmernachbarin war vor dem Alarm auf ein Schiff versetzt worden und so hatten unsere drei Frauen sich dort zum Umziehen verabredet. Liz wollte sich mit ihrer Verabredung direkt im Offizierskasino treffen und so waren nur Dmitri und ich eingeladen worden, um einer Modenschau beizuwohnen.

So wartete ich mit Dmitri in der nicht belegten Raumhälfte und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

Als Erste trat Liz hinter dem Raumtrenner hervor und Dmitri fiel die Kinnlade herunter. Sie trug eine hautenge dreiviertellange hellblaue Hose, die ihre schlanken Beine nur noch mehr betonte. Ich fragte mich, ob noch irgendeine Unterwäsche darunter passte; es waren zumindest keine Spuren davon sichtbar. Dazu trug sie eines dieser trägerlosen Oberteile, die nur durch einen Gummizug gehalten werden. Es war recht weit geschnitten, was ihre fehlende Oberweite geschickt kaschierte. Ihre sonst militärisch korrekt zusammengebundenen langen blonden Haare trug sie offen und sie hingen über ihrer rechten Schulter herunter. Sie hatte sich für Riemchensandalen entschieden. Aus diesen schauten knallrot lackierte Fußnägel hervor, das gleiche Rot fand sich auch an ihren Fingernägeln wieder. Auch die Lippen waren auffallend rot geschminkt.

In ihrem Bauchnabel funkelte es. Ich hatte wohl zu auffällig darauf gestarrt und so kam sie näher heran und zog ihr Oberteil etwas hoch.

»Der Stein ist nur geklebt, also kein echtes Piercing, mehr erlauben die Vorschriften nicht. Hoffentlich hält er«, meinte sie.

Sie drehte sich einmal um und mich umwehte der Hauch eines frischen und frühlingshaften Parfüms.

Ich stellte fest: »Du siehst nicht nur gut aus, sondern riechst auch gut, Lieutnant … ääh Major!« 

Liz hatte somit schon gut vorgelegt und ich fragte mich, wie noch eine Steigerung möglich war.

»Paula, du bist an der Reihe!«, rief Liz.

»Meine« Paula trug ein äußerst kurzes Jeansröckchen, darunter schwarze glänzende Leggings, die vor sehr hochhackigen Stiefeletten endeten. Eine weiße und sehr durchsichtige Bluse gab den Blick auf schwarze Spitzenunterwäsche frei. Ihre sonst offen getragenen oder nur wirr zusammengezurrten Haare waren zu zwei langen Zöpfen geflochten. Die Haare bildeten einen hübschen Kontrast zu Liz. Auch Paula war auffällig geschminkt.

Dmitri nahm sie wortlos in den Arm und küsste sie. Wieder fragte ich mich, was uns jetzt wohl noch erwartete; eine Steigerung war fast nicht mehr möglich.

Doch dann kam Tanya.

Sie hatte sich ein beigefarben glänzendes, tief dekolletiertes und äußerst figurbetontes Kleid ausgesucht, das bis knapp zu den Knien reichte und einen hervorragenden Kontrast zu ihrer dunklen Hautfarbe bildete. Ihre Füße steckten in ziemlich hochhackigen Pumps und um ihren rechten Knöchel baumelte ein kleines Goldkettchen; eine ähnliche Kette zierte ihren Hals. Im Gegensatz zu den beiden anderen hatte sie keinen Lippenstift aufgetragen (um mich besser küssen zu können, wie sie später sagte).

Die Aussage »Kleider machen Leute« traf für meine liebe, große, starke, schöne Frau hundertprozentig zu. Ich war wie paralysiert und brachte keinen Ton heraus.

Dmitri fand als Erster seine Sprache wieder.

»Seid – ihr – wahnsinnig?«, stammelte er. »Wo habt ihr denn solche Klamotten her?« 

Alle drei Frauen sahen auf ihre Art und Weise sensationell aus, Tanyas Schwester hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Ich war erstaunt, dass hier fernab der Erde überhaupt solche Kleidung existierte.

»Max, du sagst ja gar nichts!«, beschwerte sich Tanya.

Ich zog sie zu mir und gab ihr einen langen Kuss. Dmitri und Liz gaben fast gleichzeitig erstaunte Laute von sich.

Dmitri fragte fassungslos: »Ihr seid zusammen?« 

Liz stand nur weiter mit offenem Mund da.

»Ach kommt, ihr hab echt nichts geahnt?«, fragte Tanya. »Dann hat Paula ja ihr Schweigegelübde wohl gut durchgehalten!« 

Paula schaute auf die Uhr.

»Wir müssen los. Können wir so gehen?« 

»Können wir so gehen? Was für eine komische Frage«, stellte ich fest. »Selbstverständlich!« 

Die kleine Paula wurde von den zwei größeren Frauen in ihre Mitte genommen und alle drei gingen fröhlich lachend untergehakt in Richtung des Offizierskasinos.

Natürlich drehten sich alle nach ihnen um. In diesem Kleid hatte Tanya den Platz eins der STROA-Liste wieder sicher.

Dmitri und ich folgten ihnen in ein paar Metern Abstand, wir ließen die drei ihren großen Auftritt haben. Tatsächlich drehten sich auf dem Weg in die Bar des Offizierskasinos alle nach ihnen um. Es war gut, dass ich hinter ihnen blieb, denn so stand ich nicht unmittelbar im Mittelpunkt.

Der Raum war schon gut gefüllt und es war laut, zu laut für meine Verhältnisse.

In der Bar waren drei Stehtische für uns reserviert, an denen schon Eric, Pepe und Sean standen. Beim Betreten der Bar hatten meine drei Damen dann noch einmal einen großen Auftritt. Schlagartig senkte sich der Geräuschpegel und wieder waren alle Blicke auf sie gerichtet. Eric und Pepe standen regungslos mit offenem Mund da. Sean verschüttete vor Schreck seinen Drink.

Liz löste sich aus der Gruppe und ging zu ihrer Verabredung, einem sehr gut zu ihr passenden, sehr muskulösen stoppelhaarigen Riesen. Dmitri bewegte sich zur Theke, um die erste Runde zu bestellen. Sean hatte mittlerweile seinen Unterkiefer wieder in Normalposition gebracht und begrüßte uns.

Tanya zupfte an ihrem Kleid herum.

»Der Stehtisch hier ist perfekt«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Ich weiß nicht, ob ich mich mit diesem brüllengen Kleid-Dings überhaupt hinsetzen kann, ohne dass es irgendwo platzt und ich aber trotzdem keine Luft mehr bekomme.« 

Ich beruhigte sie: »Deine Schwester wird dir schon nichts ausgesucht haben, bei dem du plötzlich im Freien stehst. Außerdem ist das Kleid wie für dich gemacht.« 

Sie zeigte wieder ihre Grübchen und wollte mich wahrscheinlich gerade küssen, da kam Bewegung in die Bar. Der Admiral, den ich noch nie in Zivilkleidung gesehen hatte, ging durch den Raum und schüttelte jedem die Hand. Er kam auch an unseren Tisch und blieb lange – zu lange – bei uns stehen.

»Colonel Bakersfield«, sagte er zu Tanya. »Sehr gute taktische Arbeit haben Sie da abgeliefert. So jemanden wie Sie könnte ich in meinem Stab gut gebrauchen.« 

Auch ich bekam mein Lob ab und wir stießen mit dem Admiral an.

Endlich entfernte er sich wieder und bewegte sich zu den Tischen, an denen der Generalstab versammelt war.

»Siehst du, Tanya«, stellte ich fest, »hatte ich dir nicht versprochen, dass du bei den Herren mit viel Lametta auf den Schulterklappen bleibende Eindrücke hinterlassen wirst?« 

Sie schaute mich mit großen Augen an und nickte. Ich zog sie an mich und sah, dass zumindest Eric und Sean uns aufmerksam beobachteten.

»Außerdem wollte ich dir doch noch zur Beförderung gratulieren, meine liebe, große, starke, schöne Frau!« 

Das war die Zauberformel, mit der ich schon einmal falsch gelegen hatte. Wie zur Bestätigung schlang sie ihre Arme um meinen Hals und wir küssten uns ausgiebig.

Noch einmal senkte sich der Geräuschpegel in der Bar - zumindest bildete ich mir das ein. Schlagartig hatte ich wohl auch die von Paula erwähnten fünfundneunzig Prozent der männlichen und fünfundvierzig Prozent der weiblichen Mitglieder der Raumflotte gegen mich aufgebracht. Auch Eric, Pepe und Sean standen wieder einmal mit offenen Mündern da. »Das heißeste Paar seit Gründung der Raumflotte«, wie Paula uns genannt hatte, war nun sicherlich das Tagesgespräch.

Sean meinte: »Ich hatte ja schon so einen Verdacht…«.

»Da hast du ja ’nen guten Fang gemacht«, raunte Eric mir ins Ohr, als er zur Theke ging.

Wieder kam Bewegung in die Bar, denn für Mitternacht war ein Feuerwerk angesetzt, wie immer es auch aussehen mochte. Alle bewegten sich nach draußen und gingen in Richtung des Flugfelds. Endlich mussten wir es nicht mehr verheimlichen, und so konnten Tanya und ich Arm in Arm gehen. Natürlich zog sie jetzt erst recht alle Blicke auf sich.

Schon bald kamen ein paar Jäger in Formation über den Stützpunkt geflogen, die irgendeine Art Munition verschossen, welche gleichmäßige Muster am Himmel bildete.

Eine Jägerformation flog besonders spektakuläre Manöver.

»Das sind meine!«, stellte Tanya fest.

»Deine?« 

»Meine Manöver. Ich habe sie erfunden.« 

»Natürlich!«, sagte ich und küsste sie.

Immer neue Verbände flogen über uns hinweg und nach etwas einer halben Stunde war das Spektakel beendet.

Wir gingen zurück in die Bar und nahmen noch einige sehr bunte und sehr süß schmeckende Longdrinks zu uns. Der Abend artete deswegen nicht vollkommen aus, weil nur dieser komische Kunstalkohol ausgeschenkt wurde, der lange nicht so eine starke Wirkung wie echter Alkohol besaß.

Dennoch zeigte der Alkohol nach einer weiteren halben Stunde seine Wirkung und Tanya gähnte mehrmals herzhaft.

»Ich bin fix und fertig!«, stellte sie fest.

Ich bestätigte: »Es war ja auch ein sehr langer und sehr aufregender Tag.« 

Auch Paula konnte ihre Augen kaum noch offen halten. Daher beschlossen wir, in unsere Quartiere zurückzukehren. Tanya und ich gingen wieder Arm in Arm mit dem üblichen Blicke-auf-sich-Ziehen. Zu meiner großen Überraschung machte es mir gar nicht mehr so viel aus, im Rampenlicht zu stehen; vielleicht lag es aber auch am Alkohol.

Eric schien immer noch nicht seine Fassung wiedergefunden zu haben.

»Ihr zwei Hübschen, das glaube ich immer noch nicht!« 

Dann, endlich, war ich mit Tanya alleine in unserem Quartier. Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Kühlschrank, zog ihre Schuhe aus, atmete sehr laut aus und massierte ihre Knöchel.

»Max, ich bin schon lange nicht mehr in so hochhackigen Schuhen gelaufen. Mir tut alles weh!« 

»Du sahst klasse aus – auch die Schuhe passten super!«, besänftigte ich sie.

Sie stand auf und sagte: »Mach’ mir bitte den Reißverschluss auf. Ich glaube, das Kleid platzt jetzt gleich wirklich!« 

»Du siehst in den Kleid echt klasse aus«, wiederholte ich und öffnete langsam das Kleid.

Noch langsamer drehte sie sich zu mir um und ich zog das Kleid herunter.

»Allerspätestens dann, also als ich dich in diesem Kleid sah, hätte ich mich in dich verliebt – wenn ich es nicht sowieso schon gewesen wäre.« 

Sie beugte sich vor, gab mir einen langen Kuss und zog mich flugs wieder in Richtung ihres Betts.

Später, als wir dann nebeneinander nackt im Bett lagen, stellte sie die Frage, von der ich schon lange befürchtet hatte, dass sie irgendwann einmal gestellt werden musste.

»Max, wie geht es jetzt mit uns weiter? Du weißt, dass es nicht von Dauer sein kann. Vielleicht habe ich schon bald einen neuen Job, du hast den Admiral gehört.« 

»Das ist mir klar, meine liebe, große, starke, schöne Frau. Wir werden wahrscheinlich nicht ewig so direkt miteinander arbeiten können. Und Fernbeziehungen haben noch nie wirklich funktioniert, erst recht nicht über mehrere Lichtjahre hinweg.« 

»Dann lass’ uns die Zeit nutzen, Gefährte«, säuselte sie und legte sich auf mich.

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