Tag 2
Der Taktiktisch

Am nächsten Morgen wurde ich vom Wecker aus einem tiefen und traumlosen Schlaf gerissen.

Ich öffnete die Augen, schaute mich im Quartier um und musste mich erst einmal orientieren. Wasserplanet, Konferenzraum, Offiziersquartier, Major Bakersfield – jetzt lichteten sich meine Gedanken.

Durch die geschlossene Badezimmertür drang gedämpftes Wasserrauschen.

Uhrzeit: 0632 WPCT

Die Schlafdefizite der letzten Wochen machten sich trotz der etwas längeren Nachtruhe wegen des Dreißig-Stunden-Tags immer noch bemerkbar, daher konnte ich nur zum Kühlschrank schlurfen. Das Wasserrauschen hatte mittlerweile aufgehört.

Im Kühlschrank fand sich nichts Brauchbares zum Wachwerden, nur einer von diesen wahrscheinlich extrem süßen Energy-Drinks, Instant- oder gar Pulverkaffee gab es irgendwie keinen. Ich nahm die kleine bunte Dose, öffnete sie und nahm einen kräftigen Schluck. Der Geschmack war wie zu erwarten grauenhaft – vielleicht war es Absicht, dass man alleine vom Geschmack schon wach wurde.

Die Badezimmertür öffnete sich und heraus kam Tanya, nur mit hellgrauer Militärunterwäsche bekleidet, die einen wundervollen Kontrast zu ihrer großzügig sichtbaren dunkelbraunen Haut bildete. Zunächst einmal nahm ich nur ein vergleichsweise riesiges Dekolletee wahr und dann viel zu viel samtig glänzende Haut. Auf diesen Anblick war ich an diesem Morgen überhaupt nicht vorbereitet und ich musste mich gehörig anstrengen, keinen vollkommen dummen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Und wie sich diese Frau auch noch bewegte… Schon jetzt schien sich ein mehr als mittelgroßes Problem aufzubauen, welches sich gestern schon leicht angedeutet hatte.

»Guten Morgen, Max!«, sagte sie, als sie auf mich zu kam.

Schlagartig war alle Müdigkeit verflogen; es hätte gar nicht des blöden Energy-Drinks bedurft. Eigentlich war ich ja nicht der Typ Mann, der beim Anblick schöner Frauen vollkommen die Fassung verlor, aber dies war doch eine etwas spezielle Situation. Ich war ja zumindest immer von einem schönen weiblichen Wesen umgeben, nämlich Paula. Paula war ein hübsches, liebes und intelligentes Mädchen – aber eben ein Mädchen. Tanya war dagegen eine Frau, eine schöne, erwachsene Frau mit den richtigen Rundungen an den richtigen Stellen. Diese Frau entsprach zu allem Überfluss auch noch vollkommen meinem »Beuteschema«. Und auf einem Raumschiff, auf dem Männlein und Weiblein dicht an dicht aufeinander lebten, ließ es sich manchmal nicht vermeiden, jemanden in Unterwäsche… 

Jetzt musste ich aber den Morgenmuffel weiterspielen.

»’n Morgen, Tanya«, sagte ich kurz, denn einen guten Morgen gab es laut meiner Definition eigentlich nicht. Heute war aber vielleicht die Ausnahme von der Regel.

Ich hielt die Energiedrinkdose hoch.

»Woll’n Sie den Rest? Eigentlich mag ich das Zeug ja gar nicht.« 

Sie nickte, nahm die Dose, leerte sie und beförderte sie mit einem gezielten Wurf aus dem Handgelenk in den Mülleimer.

»Brr, ist das süß, aber einen kleinen Energieschub brauchte ich jetzt auch«, meinte sie. »Das Badezimmer ist frei, ich bin fertig.« 

»Mmmh, danke«, brummelte ich, bemüht, den Morgenmuffel weiterzuspielen.

Mein Energieschub war allerdings gerade an mir vorbei stolziert und hatte mich gehörig durcheinander gebracht. Ich stand auf, nahm mir frische Kleidung und schlurfte ins Badezimmer. Mein Gesicht hielt ich lange unter den von mir recht kalt eingestellten Wasserstrahl des Waschbeckens und musste dabei erst einmal nachdenken. Mit dieser Frau länger ein Quartier zu teilen, erschien mir unmöglich. Ich hatte mir vorgenommen, dieses Problem aber erst im Laufe des Tages zu lösen, da wir wahrscheinlich sowieso den ganzen Tag getrennte Wege gehen sollten.

Wir nahmen das Frühstück an dem Tisch neben dem Kühlschrank ein. Major Bakersfield trug nun wieder einen üblichen Uniformoverall und ich konnte mich trotzdem immer noch nicht richtig konzentrieren, da ich mir darunter ihre Unterwäsche vorzustellen versuchte. Ich musste mich sehr konzentrieren, das Gespräch nicht auf private Themen zu lenken und so schaffte ich es zumindest, dass wir besprachen, welche Aufgaben wir wohl auf diesen Stützpunkt zugeteilt bekamen und wie sich der Krieg wohl entwickelte.

Wie sich schnell herausstellte, besaßen wir eine gemeinsame Schnittmenge in unseren Aufgabenbereichen, was taktische Analysen betraf. Tanya hatte sogar in einigen Fällen direkt Arbeitsergebnisse meiner Datenanalysen in ihre taktischen Planungen übernehmen können. Sie war überrascht, mich als denjenigen auch einmal persönlich kennenzulernen, der hinter den Datenanalysen stand. Es schien sich aber anzudeuten, dass ich mit dieser Frau womöglich direkt zusammenarbeiten musste, was mir zunächst einmal als vollkommen undurchführbar vorkam. So war ich gespannt, was der Tag noch so alles mit sich brachte. Ich konnte mir aber nicht wirklich vorstellen, wie ich reagieren würde, wenn sie etwa auch noch in der anderen Hälfte des Konferenzraums einziehen sollte. Beim Generalstab selbst konnte es wohl nicht sein, da er sich in einen Tiefbunker unter dem Hauptstabsgebäude zurückgezogen hatte.

Tanya schaute auf ihre Uhr.

Uhrzeit: 0740 WPCT

Nun wurde es aber Zeit… 

Bald hatten wir unseren jeweils ersten Termin hier auf dem Stützpunkt – und gingen somit hoffentlich getrennter Wege.

Wir machten noch etwas Smalltalk und brachen dann auf. Vorsichtig streckte ich meinen Kopf aus der Tür und schaute, ob die Luft rein war. Da sich niemand auf dem Korridor aufhielt, auch kein Wachpersonal, gingen wir gemeinsam los.

Ich musste losprusten, als wir den Anfang des Korridors erreichten. Sie schaute mich fragend an, wohl weil ich ihr ja erklärt hatte, dass ich eigentlich ein Morgenmuffel war.

»Ich komme mir vor, wie ein Junge im Feriencamp, der sich heimlich in ein Mädchenzimmer geschlichen hat und nun versucht, ungesehen da wieder herauszukommen«, flüsterte ich in ihr Ohr.

Sie zeigte wieder ihre Lachgrübchen und pflichtete mir bei, dass die Situation schon etwas bizarr war. Zwei gestandene Erwachsene benahmen sich wie Teenager – etwas, was neben ihrer optischen Erscheinung den Morgen weiter aufhellte.

Vor dem Kontrollposten am Eingang zum Korridor, der zu dem Sicherheitsbereich des Generalstabsgebäudes führte, verabschiedete ich mich von Tanya. Als ich die Kontrolle passierte, traf ich Paula.

Sie hatte natürlich alles aufmerksam verfolgt und fragte: »Wer war die Frau?« 

»Raumflotte, wohnt bei mir im Trakt«, antwortete ich kurz.

Niemals konnte ich Paula direkt anlügen, aber dass sich das »im Trakt« auf das gleiche Quartier bezog, wollte ich auch ihr nicht unbedingt preisgeben. Jetzt musste schnellstens ein Themawechsel her.

»Wie sind eure Quartiere und eure zugeteilten Mitbewohner?«, fragte ich daher, als wir den Konferenzraum betreten hatten.

Wie sich herausstellte, waren alle mit ihren Quartieren und auch ihren zugeteilten Mitbewohnern recht zufrieden.

Paula meinte: »Endlich eine richtige Dusche!« 

»Und die Betten sind super«, ergänzte Dmitri.

»Das kann dir doch egal sein«, lästerte Paula. »Du kannst doch auch auf einem Kaktus schlafen!« 

Dmitri streckte Paula die Zunge heraus und ich musste die Situation entschärfen, indem ich meine Antwort auf die Quartiersfrage gab. Ich hatte zwar nicht so ein gutes Gedächtnis wie Pepe, aber Tanyas »Deal« hatte ich nicht vergessen.

»Mein Mitbewohner ist brav und hat schon von seinem Rang her kein ausuferndes Sexualleben. Sehr erfreulich ist, dass er kein exzessiver Badezimmerblockierer ist. Er schnarcht nicht und er wird sowieso den ganzen Tag unterwegs sein«, berichtete ich.

Besonders mit dem unterschlagenen »in« bei »Mitbewohner« hatte ich mich wieder knapp an der Wahrheit vorbei manövriert, aber die anderen gaben sich zum Glück mit meiner Antwort zufrieden.

Eric war auffallend still, und ich ging zu ihm. Ein paar Geräte waren tatsächlich noch in der Nacht geliefert worden. Er schaute abwechselnd auf mehrere Stapel aus Kisten und auf zwei EP, die er in den Händen hielt.

»Max, wir haben zu viele Geräte!«, sagte er.

»Zu viele Geräte?« 

Bei unseren Umzügen hatten wir bisher eigentlich immer einen gewissen Schwund gehabt, was mehr oder weniger durch Erics Bastelkünste ausgeglichen werden konnte. Dass wir aber plötzlich mehr Geräte hatten, war noch nie vorgekommen. Was dies ein Überraschungsgeschenk des Generalstabs?

Eric kratzte sich am Kopf und zeigte auf eine Liste.

»Ja, schau hier: Das sind alles baugleiche Pad-Rechner und Serverkisten zu unseren. Das muss ein Versehen der Nachschubeinheit sein.« 

Wie zur Antwort öffneten sich zwei Segmente der Trennwand und der Stabsoffizier streckte seinen Kopf hindurch. Neben ihm tauchte ein bekanntes Gesicht auf, ein sehr bekanntes, nämlich Major Tanya Kimberley Bakersfield! Ich bekam warme Ohren und befürchtete, dass sie rot angelaufen waren. Nun konnte ich nur hoffen, dass es niemand mitbekam. Besonders aber Paula schaute mich schräg an, was die ganze Sache noch verschlimmerte. Vor allem ihr hatte ich ja vorhin mit »wohnt bei mir im Trakt« etwas vorgeflunkelt.

Der Offizier verkündete den Beschluss des Generalstabs. Die zwei Teams, mein Team und ein noch zu schaffendes »Taktik-Team« unter Tanyas Leitung, sollten zusammen in den beiden benachbarten Konferenzräumen arbeiten. Mein Team sollte dabei das Taktik-Team technisch unterstützen, dazu waren weitere Geräte vom Nachschub geordert worden, was jetzt auch den Mehrbestand erklären ließ, der Eric aufgefallen war.

Es ergab sich aber ein kleines Problem.

»Der Nachschub erstickt gerade in Ausrüstungs- und Warenlieferungen von beschädigten oder zum Ausschlachten vorgesehenen Schiffen«, meinte der Offizier. »Die Pioniere haben zwar in Rekordzeit ein großes Lagerhallenzelt aufgebaut, aber das ist jetzt alles ein riesengroßes Chaos! Wann Sie alle Geräte bekommen können, kann ich leider nicht genau sagen.« 

Ich konnte ihn beruhigen: »Ich wüsste da jemanden, der Ihnen weiterhelfen könnte.« 

Daher schickte ich Pepe und Eric mit dem Stabsoffizier los, um dem Nachschub zu helfen und um schneller an weitere Geräte zu kommen.

Eric wollte mit unserem Aufbau aber erst beginnen, wenn er wieder vom Nachschub zurück war. Er hatte allen nur ein paar Pad-Rechner verteilt, damit jeder seine elektronische Post sichten konnte.

Uhrzeit: 0935 WPCT

So hatten wir etwas Zeit und ich zog mich mit Tanya auf eine Sitzgruppe zurück und wir versuchten gemeinsam, den doch sehr allgemein gehaltenen Befehl des Stabs an das Taktik-Team zu interpretieren.

Zunächst jedoch konnte ich mich nicht recht konzentrieren, da sie mich wieder anlächelte.

»So schnell sieht man sich wieder, Professor!«, stellte sie lachend fest.

»Bitte, bitte lassen Sie den Professor weg, ›Max‹ reicht vollkommen aus.« 

»Oh ja, Deal!« 

Sie rückte näher an mich heran, damit wir gemeinsam in das EP mit dem Befehl schauen konnten. Wieder wurde das Kribbeln in meinem Bauch stärker und ich versuchte mich abzulenken, indem ich mich intensiver auf den Befehl konzentrierte. Tanya machte es mir aber dabei nicht wirklich leicht, denn um besser in das EP schauen zu können, hatte sie eine Hand auf meine Schulter gelegt. Also musste ich meine Konzentrationsstufe noch etwas erhöhen. Der Generalstab hätte den Befehl ja auch auf ein zweites EP kopieren können… 

Ich schlug vor, den Befehl zu unseren Gunsten zu interpretieren, so wie ich es bisher immer getan hatte, wenn sich die Gelegenheit dazu geboten hatte – eine etwas ungewöhnliche Vorgehensweise, wie Tanya als Militäroffizier einräumen musste.

»Tanya, vertrauen Sie mir«, sagte ich zu ihr, was dazu führte, dass sie mir wieder einmal tief in die Augen schaute.

Ich konnte die Situation dadurch entschärfen, indem ich aufstand und ein EP und einen elektronischen Stift holte, um Notizen machen zu können.

»Fangen wir also mit der Feinplanung an«, beschloss ich.

Zunächst einmal sollte das Taktik-Team alle verfügbaren und thematisch passenden Daten einsammeln.

Viele taktische Informationen waren beim überhasteten Rückzug vor allem durch die Zerstörung von einigen Schiffen verloren gegangen. Dmitri und Eric würden bestimmt herum zetern, wieso keine schiffsübergreifenden Datensicherungen gemacht wurden, aber dafür war es jetzt zu spät. Genau für diese Datenbeschaffung war Tanyas Taktik-Team auf die Unterstützung meines Datenanalyse-Teams angewiesen. Aus den gewonnenen Daten sollten dann die Manöver des Gegners rekonstruiert und daraus eine neue Taktik für die eigenen Jägerverbände entwickelt werden. Das Team sollte sich auf diese sozusagen untere Ebene konzentrieren, während für die obere Ebene, das heißt die generelle taktische Aufstellung der einsatzfähigen großen Schiffe, der Generalstab verantwortlich ist. Im Laufe des nächsten Tages sollten noch drei zusätzliche Mitarbeiter für das Taktik-Team, ein weiterer Taktikoffizier und zwei erfahrene Kampfpiloten, auf dem Stützpunkt eintreffen.

Ich holte noch Paula hinzu, die einen merkwürdigen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte, weil Tanya und ich – trotz aller meiner Versuche, dies zu verhindern – wieder eng zusammengerückt dasaßen. Zu dritt überlegten wir uns, woher die Daten kommen könnten. Tanyas eigene Aufzeichnungen als Taktikoffizier waren noch vorhanden, ebenso das Schiffslog der HMS Birmingham mit allen dokumentierten taktischen Anweisungen. Ich schrieb Aufzeichnungen von Taktikoffiziern und Schiffslog auf die Liste. Tanya brachte noch die Schulungsunterlagen für Jägerpiloten ins Spiel, die ich auf der Liste ergänzte. Mir fielen noch die Aufzeichnungen von Schiffssensoren ein. Paula versprach, sich um die Datenbeschaffung zu kümmern und ging gleich wieder in den Nachbarraum.

Tanya stimmte mir mir überein, dass die beiden Teams sich bestens ergänzten und daher als Einheit agieren sollten. Sie hatte allerdings Zweifel, ob ihr der Generalstab freie Hand geben würde.

»Das bekommen wir schon geregelt«, konnte ich sie beruhigen. »Mein Wort hat ein gewisses Gewicht im Generalstab.« 

Sie zeigte wieder ihre Grübchen. Es besaß schon eine gewisse Ironie, dass ich jetzt versuchte, einer gestandenen Taktikoffizierin meine taktischen Manöver innerhalb der Militärbürokratie nahezubringen.

»Wir machen das auf meine Art«, fuhr ich fort. »Das Taktik-Team muss natürlich regelmäßig einen Bericht abgeben, so wie mein Team auch, dann lässt die Chefetage uns und euch in Ruhe. Vielleicht kommt noch ein hohes Tier kurz zu einer Art Antrittsbesuch hierher, aber das dürfte es dann auch schon gewesen sein. Ich habe mit den Stabschefs eine Art ›Nichteinmischungsvereinbarung‹ vereinbart, das heißt erstens kommen sie nicht spontan zu uns, nerven uns, geben unsinnige Befehle und halten uns von der Arbeit ab. Zweitens aber kreuze ich bei denen auch nur dann persönlich auf, wenn’s wirklich wichtig ist. Wir nennen das dann den van-Eych-Alarm.« 

Tanya meinte: »Van-Eych-Alarm, soso. Der Generalstab hat also schon einmal etwas nach Ihnen benannt.« 

»Das kam eher zufällig. Ist denn nichts nach Bakersfield benannt?« 

»Doch, aber das ist nicht so prickelnd.« 

Wohl auch zur Ablenkung wollte sie sofort im Anschluss wissen, auf welche Art und Weise sie ausführliche Berichte schreiben sollte. Bisher hatte sie nämlich nur kleinere stichwortartige Passagen für taktische Aufzeichnungen und Schiffslogs fabriziert.

»Hier kommt meine kleine italienische Schriftstellerin ins Spiel. Sie kann Stillstand in blumige Worte aufblasen, aber auch komplexe Sachverhalte in verständliche Worte kurz zusammenfassen.« 

Sie lachte und meinte: »Max, Sie haben schon viel über das Militär gelernt!« 

»Nein, das ist eigentlich in jeder hierarchisch strukturierten Organisation so, nicht nur beim Militär. Wir machen uns somit das Leben deutlich leichter und können in Ruhe arbeiten.« 

Wir saßen jetzt wieder einige Zeit alleine in der Sitzgruppe und Tanyas Frage traf mich vollkommen unvorbereitet.

»Da wir jetzt ja direkt zusammenarbeiten: Max, wollen Sie immer noch einen Quartierswechsel?«, fragte sie und schaute mich mit großen Augen an.

Sie hatte wohl schon herausbekommen, wie sie mich ’rumkriegen konnte, und so stammelte ich ein leises »Nein«.

Dabei musste ich wohl einen vollkommen dämlichen Gesichtsausdruck gemacht haben, denn sie lachte und zeigte sowohl viele Zähne als auch wieder die Grübchen. Ich wollte gerade versuchen, wieder auf fachliche Themen zu wechseln, da hörte ich glücklicherweise, wie Eric und Pepe mit großem Tumult von ihrem Ausflug zur Nachschubeinheit zurückkehrten. Somit hatte ich einen guten Grund, mich erst einmal von Tanya loszueisen, die sowieso zum Generalstab gerufen worden war.

Ich ging in den Nachbarraum und sah, wie originalverpackte EP verteilt wurden.

Eric zeigte auf einen Karton und sagte freudestrahlend: »Haben die uns geschenkt!« 

»Endlich gibt es mal neue!«, freute sich Paula und hielt ein EP hoch. »Bäh, das hier hat schon eine schmierige Fettschicht!« 

Eric war natürlich wieder einmal nicht zu bremsen und erzählte davon, was für tolle Geräte er mitgebracht hatte. Schon war der Raum voll von grauen Uniformen des Nachschubs, Palettenschweber surrten umher und machten das Durcheinander perfekt. Eric reichte mir ein EP mit einer Liste der zusätzlich gelieferten Geräte. Ich musste anerkennen, dass wir damit die beste Geräteausstattung bekamen, die wir je zur Verfügung hatten.

»Die Rechenpower reicht für beide Gruppen locker aus«, stellte er fest.

Gerade wollte ich Eric nach ihrer Exkursion zum Nachschub fragen, aber die Geschichte sprudelte von selbst aus ihm heraus.

»Pepe ist bei denen jetzt so etwas wie ein Volksheld, die wollten ihn gleich bei sich behalten.« 

Er zeichnete ein EP ab, gab es einem Nachschubsoldaten zurück und fuhr fort.

»Er hat dort mal wieder eine seiner Sortier-Nummern abgezogen und in zwei Stunden hatten wir das Chaos im Lagerzelt gelichtet. Pepe hat zwar nicht genau nach dem System des Nachschubs gearbeitet, aber das war denen erst einmal egal. Max, die fressen uns jetzt aus der Hand!« 

Es konnte tatsächlich nicht schaden, neben dem Generalstab auch noch andere Einheiten auf unserer Seite zu haben.

Der fast den ganzen Raum füllende Konferenztisch entpuppte sich beim näheren Hinsehen als eine clevere Konstruktion aus mehreren fünfeckigen und trapezförmigen Segmenten, die man in nahezu beliebiger Art kombinieren konnte. Nachdem Eric herausgefunden hatte, welche Klammern wie zu lösen waren, ging das Trennen der Tischsegmente ganz einfach. Flugs hatte Pepe in seiner unnachahmlichen Art auf ein EP aufgezeichnet, wie die Segmente wieder zusammenzusetzen waren, um einen großen und einen kleinen Tisch für unsere Technik zu bekommen. Es blieben sogar noch ein paar Segmente übrig, aus denen wir noch einen separaten Tisch für weitere Arbeitsplätze oder Ähnliches zusammenstellen konnten.

Der Aufbau der elektronischen Geräte war für uns schon Routine und so verbrachten wir zwar einige Stunden damit, um die Geräte in Betrieb zu nehmen, kamen aber zügig voran. Auch half es, dass bei der Lieferung des Nachschubs teilweise recht neue Geräte dabei waren, die laut Eric nicht so viel »Zicken« machten, wie die schon seit Beginn der Datenauswertungen direkt vor Ort sich im Einsatz befindlichen.

Zuerst wurden die Servereinheiten auf die separaten Tische gestellt und angeschlossen. Die Energieversorgung und die Anbindung an das Netzwerk des Stützpunkts stellten kein Problem dar, da die Erbauer des Konferenzraums unter großen Klappen im Fußboden ausreichende Anschlussmöglichkeiten vorgesehen hatten. Wenn ich es damit verglich, was wir auf Raumschiffen teilweise mit sehr langen Kabelbäumen hantieren mussten, war schon ein gewisser Komfort festzustellen.

Immer wenn einige Geräte von Eric und mir fertig aufgestellt, verkabelt und einem ersten Funktionstest unterzogen wurden waren, kümmerten sich Dmitri und Paula um das Aufspielen der Software. Anschließend beschäftigte sich Pepe mit intensiven Tests der gesamten Gerätschaften, die immer mehr ausgeweitet wurden, je mehr Geräte in Betrieb gingen. Das war die über jetzt viele Monate eingespielte Vorgehensweise, wenn wir unsere Geräte neu aufbauen mussten. Das Ganze bedeutete zwar etwas Mehraufand gegenüber rein drahtlosen Verbindungen, aber zumindest war unser Aufbau damit halbwegs immun gegen störende elektromagnetische Strahlungen, was sich auf Raumschiffen schon mehrfach als sehr hilfreich erwiesen hatte.

Uhrzeit: 1530 WPCT

Durch den dreißig-Stunden-Tag befand sich die Mittagszeit erst um 1500 WPCT, und eine halbe Stunde später wurde dann das Mittagessen in den Konferenzraum geliefert. Beim Essen nahm ich einen Platz maximal entfernt von der mittlerweile wieder zurückgekehrten Tanya ein, schon um Paulas Blicken entgehen zu können. Wieder gab es nur etwas aus der Gulschkanone auf Einweggeschirr, so wie es schien, aber es war versprochen worden, die Essensqualität zu heben, wenn die Küche auf vollen Betrieb gehen sollte. Und ich wollte auch endlich einmal Tomaten aus dem Gewächshaus probieren, falls es diese hier tatsächlich gab.

Nun wurde der gerade aus den übriggebliebenen Segmenten aufgebaute Tisch auch gleich zum Mittagessen eingesetzt. An einem richtigen Tisch zu sitzen, war schon ein erheblicher Komfortgewinn gegenüber der beengten Nahrungsaufnahme auf den Raumschiffen, die auf oder zwischen den Geräten erfolgen musste. Eric hatte sich dann immer lautstark beschwert, wenn jemand etwas auf die Technik gekleckert hatte – was sich bei spontanen Kurswechseln eines Schiffs manchmal einfach nicht vermeiden ließ. Zum meiner Überraschung schmeckte es eigentlich ganz gut, und erinnerte mich in Aussehen und Geschmack ein wenig nach Irish Stew.

Nach dem Essen ging es zügig weiter, hatten wir jetzt doch die doppelte Arbeit zu erledigen. Nachdem der Tisch in unserem Raum vollständig aufgebaut und die Software erfolgreich in voller Funktionalität zum Laufen gebracht wurden, war der Tisch in Tanyas Raum an der Reihe. Beide Hälften waren im Prinzip genau gleich aufgebaut, wenn auch spiegelverkehrt. Nachdem wir jetzt wusste, wie es funktionierte, konnten wir den Konferenztisch zügig zerlegen und nach dem gleichen Muster wie in der anderen Hälfte neu zusammenstellen.

Tanya bot ihre Hilfe an, und so wies ich sie in den Aufbau der Pad-Rechner-Matrix auf dem Konferenztisch ein. Sie hatte es bestimmt mit Absicht gemacht, denn so ergab es sich, dass wir beide mit Kabelbündeln in der Hand eher auf- als nebeneinander auf dem Tisch zu liegen kamen. Zum Glück waren alle anderen so in ihre Arbeit vertieft, dass sie es hoffentlich nicht mitbekommen hatten.

Wir schauten uns wieder tief in die Augen und mein gerade mit den Mittagessen gut gefüllte Magen versetzte sich in Rotationen. Ich spürte etwas, was ich spätestens seit meiner Scheidung nicht mehr gespürt hatte: Ich hatte mich verliebt! Verliebt! Jetzt, hier, Lichtjahre von der Erde entfernt und mitten in einer Kriegspause, von der keiner wusste, wie lange sie noch andauern konnte. Und mit dieser Frau teilte ich auch noch ein Quartier. Ich musste mich zwingen, mich auf die Arbeit zu konzentrieren.

Nach etwa einer Stunde steckte ich das letzte Kabel ein, streckte mich und betrachtete das Werk. Tanya trat ein paar Schritte vom Konferenztisch zurück und schaute ebenfalls den Aufbau an. Auf dem Tisch lagen jetzt drei mal fünf, also fünfzehn mittelgroße miteinander verbundene Pad-Rechner.

Auch um erst einmal erneuten Körperkontakt mit Tanya zu vermeiden, ging ich um den Tisch herum und schaute sie lieber aus einiger Entfernung an.

Ich fragte sie: »Und was haben wir jetzt Schönes gebaut?« 

»Ich hatte ja schon eine Ahnung, aber jetzt erkenne ich es: Ihr habt einen ›Tisch‹ nachgebaut! Nein, eigentlich zwei, einen für jedes Team«, stellte sie nach einer kurzen Pause fest.

»Sehr richtig erkannt. Dieser Aufbau ist sozusagen das Äquivalent zu den Taktiktischen, die man sonst nur im Generalstab oder auf der Brücke von Schiffen findet. Aber…« 

»…er ist mobil«, unterbrach sie mich. »Und wenn ein Teil vom Display ausfällt, kann man den jeweiligen Pad-Rechner einfach ersetzen. Bei einem großen und fest eingebauten Tisch geht das nicht so einfach.« 

Ich zeigte auf den kleinen Zwischenraum zwischen zwei aneinander liegenden Pad-Rechnern und erklärte: »So meinte ich das nicht mit dem ›aber‹. Es gibt nämlich einen kleinen Nachteil: Einen echten Tisch kann man beliebig in einzelne Segmente teilen, bei unseren Tischen sind wir an die Größe der Pads gebunden.« 

»Das ist trotzdem genial!«, meinte sie. »Was ist mit der Software? Habe ich alle Funktionen, die ich auch an einem ›normalen‹ Taktiktisch habe?« 

Unsere Tische besaßen selbstverständlich alle Funktionen ihrer fest installierten Brüder. Dank Dmitri hatten wir sogar den Funktionsumfang erweitern können, zum Beispiel hatten unsere Tische meiner Meinung nach eine deutlich klarere dreidimensionale Darstellung. Dmitris Softwareverbesserungen flossen nach Prüfung durch den IT-Bereich der Flotte auch in die fest installierten Tische ein. Das waren immer wieder einmal kleine Beiträge, um unsere Akzeptanz im Generalstab weiter zu erhöhen.

Wieder einmal strahlte sie über das ganze Gesicht. Verdammt, die Lachgrübchen waren wirklich unglaublich unwiderstehlich. Meine Gedanken wanderten von den Grübchen zur Unterwäsche weiter, zum Glück lenkte sie mich gleich wieder davon ab.

»Mit so einem schönen Tisch möchte ich gerne gleich arbeiten!«, rief sie. »Und ich hab’ jetzt einen für mich alleine und muss ihn nicht mit anderen teilen, wie auf der Schiffsbrücke.« 

Ich holte Dmitri zu uns. Er ging gleich in den vollen »Marketingmodus« und führte Tanya nacheinander alle Softwarefunktionen vor. Mit besonderem Elan zeigte er ihr die von ihm weiterentwickelten Verbesserungen in der dreidimensionalen Darstellung.

»Major Bakersfield«, schlug Dmitri vor, »probieren Sie jetzt doch gleich ’mal selbst das aus, was Sie an einem normalen Tisch machen würden!« 

Das ließ sich Tanya natürlich nicht zwei Mal sagen. Sie stellte sich an den Tisch, nahm mehrere EP und übertrug nacheinander einige ihrer Taktikdaten in den Speicher des Tisches. Sie startete ein paar Standardsimulationen und stellte fest, dass es sich nicht von der Bedienung eines normalen Taktiktisches unterschied, allerdings mit »deutlich schönerer Darstellung«, wie sie anmerkte.

So verging die Zeit, da Tanya nach ersten positiv verlaufenen Versuchen jetzt ihre gesamten taktischen Analysen des Rückzugs nachstellen wollte, die sie auf der Brücke der HMS Birmingham durchgeführt hatte. Wir mussten ihr als virtuose Bedienerin eines normalen Taktiktisches mittlerweile auch nicht mehr viel erklären.

Als eines der letzten Schiffe hatte es sich von einem weit entfernten Außenposten mit dem Gegner dicht auf den Fersen zurückgezogen. Tanya als Taktikoffizier musste immer wieder gegnerische Angriffe analysieren und Gegenmaßnahmen einleiten, wobei sie fast ununterbrochen am Taktiktisch stand. Die Angriffe konnten aber immer wieder abgewehrt werden, und so kam das Schiff nach dem Rückzug durch mehrere Sonnensysteme zwar leicht beschädigt, aber ohne Verluste hier im Orbit des Wasserplaneten an.

Nach und nach baute sich über den Pad-Rechnern eine dreidimensionale Route auf, die an einigen Stellen Schleifen und Haken aufwies, wann immer das Schiff in einen Kampf verwickelt worden war. Tanya vergrößerte diese Kampfbereiche und konnte dann sogar eine Art »Film« der Kampfhandlungen ablaufen lassen. Auch konnte sie nach kurzer Einweisung Zeitlupe oder Zeitraffer einstellen oder auch einzelne Kampfverbände ausblenden und wieder anzeigen lassen.

»Sehr schön«, musste sie anerkennen, »und das alles nur aus den Daten hier von den EP! Was kann der Tisch denn noch?« 

Mit Dmitri ging nun der Spieltrieb durch und er zeigte Tanya immer ausgefallenere, aber noch in der Entwicklung befindliche Funktionen. Ich konnte ihr deutlich ansehen, dass ihr es recht viel Spaß machte. — , so dass die Abendstunden wie im Flug vergingen.

Irgendwann schaute ich doch einmal auf die Uhr.

Uhrzeit: 2955 WPCT

»Schon so spät! Wir machen jetzt aber Feierabend«, schlug ich vor, »eigentlich funktioniert ja alles – und den zweiten Tisch haben wir nun wirklich ausgiebig getestet.« 

Auch Tanya war einverstanden und wir setzten uns noch kurz in einer Sitzgruppe zu einer kleinen Manöverkritik zusammen.

»Nun wird mir langsam klar, warum ihr ’was beim Generalstab gut habt«, musste Tanya anerkennen.

Die gesamte Mannschaft hatte auch wirklich wieder einmal eine sehr gute Arbeit abgeliefert.

Die Tische funktionierten, die Server funktionierten, wir hatten sogar fast neuwertige Geräte bekommen, der Aufbau war der mechanisch und elektrisch stabilste, den wir jemals zustande gebracht hatten, so reibungslos wünschte ich mir die Einrichtung unser Arbeitsumgebung eigentlich immer.

Eric und Dmitri hatten den Auftrag bekommen, die Software so zu erweitern, dass die beiden Tische direkt miteinander kommunizieren konnten. Dies war etwas, was wir bislang noch nie benötigt hatten, weil wir ja immer nur einen Tisch besaßen.

Nun fehlten eigentlich noch die passenden Daten. Ich stellte allen vor, was Tanya, Paula und ich am Vormittag auf die Liste der möglichen Datenquellen geschrieben hatten. Tanya schlug vor, dass alle sich Quellen für weitere Informationen zu taktischen Manövern von gegnerischen Jägereinheiten überlegten.

Mit diesen »Hausaufgaben« im Kopf machten wir uns auf den Weg in die wohlverdiente Nachtruhe.

Als alle außer Tanya und mir in die Korridore abgebogen waren, die zu ihren Quartieren führten, waren wir wieder alleine. Prompt kam noch einmal die unvermeidliche Frage.

»So spät am Tag bekommen wir jetzt auch keinen Wechsel mehr hin, also bleibt es beim gemeinsamen Quartier, oder?«, fragte Tanya.

Der Korridor war um diese Zeit zum Glück lediglich durch die Notfallbeleuchtung und damit sehr spärlich beleuchtet, so dass sie meine rot gewordenen Ohren hoffentlich nicht sehen konnte.

Die Umgewöhnung an den Dreißig-Stunden-Tag, der natürlich auch längere Arbeitszeiten zur Folge hatte, zehrte doch sehr an den Kräften. Ich mochte jetzt auch nicht mehr irgendeinen Aufwand treiben. Nein, ein Wechsel musste zumindest diese Nacht nicht mehr sein.

Wieder saßen wir auch noch kurz am Tisch neben dem Kühlschrank zusammen. Der Tag war – neben Tanya in Unterwäsche gesehen zu haben, was ich ihr natürlich nicht sagte – recht gut verlaufen. Wir hatten alles fertig aufbauen können und konnten am nächsten Tag sofort mit unserer eigentlichen Arbeit beginnen.

Bald verschwand sie mit einem gehauchten »Gute Nacht, Max« in ihre Quartiershälfte. Auch ich ging zu Bett.

Eigentlich war ich todmüde, aber das Gute Nacht, Max geisterte noch lange in meinem Kopf herum.

© TOPCTEH