Tag 1
Der Wasserplanet

Wir waren noch einmal davon gekommen.

Wir, das waren die fünf Personen des direkt dem Generalstab unterstellten Datenanalyse-Teams. Der Begriff »Datenanalyse« hörte sich zunächst einmal recht langweilig an, er war es dann aber gar nicht, da wir eng ins Kriegsgeschehen mit einem außerirdischen Gegner eingebunden waren und diese Aufgabe teilweise mit viel Stress und wenig Schlaf einher ging. Wir hatten nämlich die Entschlüsselung der Kommunikation des Gegners geknackt und so war es unsere Aufgabe geworden, alle aufgezeichneten gegnerischen Nachrichten zu analysieren, manchmal sogar in einem Raumschiff in unmittelbarer Nähe der Front.

Die Koalition der Erdstaaten befand sich im Krieg mit einer außerirdischen Zivilisation, wir wurden aber gezwungen, uns von allen Außenposten in der Nähe des gegnerischen Gebiets zurückzuziehen. Da der Gegner und dicht auf den Fersen war und jederzeit zuschlagen konnte, war es aber ein ziemlich chaotischer und überhasteter Rückzug gewesen. Alles, was irgendwie noch durch den Weltraum fliegen konnte, wurde eingesetzt. Auf allen aufgegebenen Stützpunkten wurden außerdem irgendwelche Selbstzerstörungsmechanismen in Betrieb gesetzt, um dem Gegner nichts zurück zu lassen, das Gleiche wurde auch mit nicht mehr einsatzfähigen Schiffen gemacht. Wir befanden uns zum Glück schon auf einem einsatzfähigen Raumschiff, als der generelle Befehl zum Rückzug gegeben worden war.

Das Personal aller Außenposten wurde auf einen Stützpunkt auf einem erdähnlichen Planeten ausgeflogen, der früher einmal Territorium der Außerirdischen war, den wir ihnen aber wieder abgenommen hatten. Der Gegner war uns gefolgt, hatte sich aber erst einmal mit seinen verbliebenen Schiffen hinter einen weiter außen im Sonnensystem liegenden Planeten zurückgezogen.

Durch die überraschend stark angestiegene Aktivität eines Pulsars in unmittelbarer Nähe waren aber beide Seiten, der Gegner und wir, von ihren Heimatwelten abgeschnitten, da weder Hyperraum-Kommunikation noch Hyperraum-Flüge möglich waren. Es entstand also eine Art Patt-Situation, und eine Seite wartete auf den ersten Schritt der anderen.

Wir waren unversehrt auf dem Flugfeld des Stützpunkts angekommen und saßen oder lagen auf unserem Gepäck, da wir warten mussten, bis uns jemand abholen kam. Die Evakuierung der schwer beschädigten großen Schiffe in der Umlaufbahn lief auf vollen Touren. Überall auf dem Flugfeld landeten kleine Schiffe oder Fähren, die dann Soldaten ausspuckten, welche anschließend im Gleichschritt weg marschierten. Andere Schiffe brachten wiederum Behälter in allen Größen bis hin zum großen Vierzig-Fuß-Container. Alle Behälter wurden erst einmal am Rande des Flugfelds zwischengelagert, bis Nachschubeinheiten diese in Empfang nehmen konnten.

Manche der landenden Schiffe sahen nach vielen Monaten Kampf ziemlich mitgenommen aus. Bei einigen war es ein Wunder, dass sie überhaupt noch unfallfrei und mit funktionierenden Lebenserhaltungssystemen hier hatten landen können. Die Landung eines Schiffs fast direkt neben uns wirbelte viel Staub und Sand auf, so dass es begann, mir zwischen den Zähnen zu knirschen.

Noch immer aber schien sich niemand für uns zu interessieren. Auch als direkt neben uns große Hektik auszubrechen schien, so war diese doch nicht auf uns bezogen. Nachschubeinheiten brachten stapelweise Paletten heran und Pioniereinheiten – zumindest sahen dieser der Uniform nach zu urteilen so aus – begannen, die Paletten zu einem großen Turm aufeinanderzuschichten. Noch lauter und hektischer wurde es, als die Pioniere begannen, Löcher in den Betonboden zu bohren, um darin große Ösen zu verschrauben. An diesen Ösen wurde Stahlseile befestigt, mit denen der Palettenturm abgespannt wurde.

Dann landeten die Japaner.

Zwei mittelgroße und offensichtlich atmosphärentaugliche Schiffe näherten sich und setzten zur Landung an, wobei das eine Schiff in ein paar Metern Höhe wartete, bis das andere gelandet war. Nun wurde mir auch klar, warum der Palettenturm gebraucht wurde, denn das erste Schiff – »Kyushu Maru« der Aufschrift und der aufgebrachten Flagge nach zu urteilen – hatte ein großes Loch im Rumpf an der Stelle, an der sich eigentlich eine Landestütze hätte befinden sollen. Der Pilot schien ein wirklicher Könner seines Fachs zu sein, denn er setzte das Schiff so auf den Palettenturm auf, dass es fast waagerecht zum Stehen kam.

Nun landete auch das andere, offenbar baugleiche, Schiff namens Honshu Maru direkt daneben. Erst im direkten Vergleich wurde deutlich, wie stark die Kyushu Maru beschädigt worden war, da auch beispielsweise eines der Atmosphärentriebwerke vollkommen fehlte. Es war ein Wunder, dass es überhaupt noch bis auf das Flugfeld gekommen war. Luken öffneten sich, Gangways wurden herausgefahren und viele Soldaten stiegen aus.

Wieder einmal waren wir die einzigen Zivilisten, soweit ich es überblicken konnte. Ich atmete tief durch und blinzelte in die Sonne. Endlich einmal waren wir wieder auf einem richtigen Planeten mit richtiger Gravitation, wenn auch etwa fünfzehn Prozent stärker als auf der Erde, und richtiger Atmosphäre, nicht dieser tausendmal gefilterten Raumschiffs-Luft. Ich schaute in die Ferne. In einiger Entfernung vom Stützpunkt wurde das Sonnenlicht von in langen Reihen stehenden Gewächshäusern reflektiert. Wenn es sich wirklich um Gewächshäuser handelte, so rückte die Aussicht näher, demnächst vielleicht frisches Obst und Gemüse zu bekommen. Neben den Gewächshäusern befand sich ein Luftabwehrturm, dessen Geschütz nach oben in den Himmel gerichtet war und jedes anfliegende Schiff ins Visier nahm und verfolgte. Auf dem dahinter liegenden Bergrücken sah ich das Geothermie-Kraftwerk kleine Dampfwolken ausstoßen, die sich mit über dem Bergrücken hängenden Wolken vereinigten. Auf dem Dach des Kraftwerks befanden sich zwei Flugabwehrgeschütze, die ein über den Bergrücken anfliegendes Schiff verfolgten.

Die Luft war sogar recht erdähnlich, die Anteile der einzelnen Gase variierten erstaunlicherweise nur im einstelligen Prozentbereich. Ich überlegte, wie und wo ohne wirklich vorhandene Vegetation auf der kleinen Landmasse dieses Planeten überhaupt der Sauerstoff in der Luft herkam. Ich hatte irgendwo im Hinterkopf, dass der Sauerstoff von einer gewaltigen Menge Phytoplankton im Meer erzeugt wurde.

Neben uns waren weitere Pioniere eingetroffen, die begannen, beide japanischen Schiffe einzurüsten. Unablässig brachte der Nachschub neue Gerüstteile heran, die sofort eingebaut wurden.

Ich betrachtete das geschäftige Treiben, da wurde ich unterbrochen.

»Warst du schon einmal auf dem ›Wasserplaneten‹?«, wollte Paula wissen.

Meine kleine Italienerin Paula war eine ehemalige Studentin von mir, die ich nach dem Tod ihrer Eltern unter meine Fittiche genommen hatte. Nur etwas halb so alt wie ich, konnte sie meine Tochter sein, was sie seit einiger Zeit im Prinzip ja auch war. Sie war unsere Datenbeschafferin und konnte sich an die tausend Zugangskennungen und Passworte für alle möglichen Anwendungen merken. Sie konnte auch nahezu perfekte Berichte und Protokolle schreiben, was bei unser Tätigkeit sich mehr als ein Mal als äußerst hilfreich erwiesen hatte.

Der Wasserplanet war etwas kleiner als die Erde und dafür aber zu etwa neunzig Prozent mit Wasser bedeckt. Er besaß Dreißig-Stunden-Tage, was mir als Langschläfer natürlich zugute kam. Die drei Monde kneteten die Wasserflächen ordentlich durch, was in extremen Strömungen und gigantischen Gezeitenunterschieden von bis zu einhundertfünfzig Metern mündete und einen Schiffsverkehr daher unmöglich machte. Nach der Eroberung des Planeten stellten die Wissenschaftler überraschend fest, dass es in den Ozeanen hochentwickeltes intelligentes Leben gab, welches sich während der Fremdherrschaft durch unseren heutigen Gegner einerseits dumm gestellt und andererseits in die tiefst möglichen Wasserschichten zurück gezogen hatte. Der Alpha-Spezies der Wasserwesen konnten glücklicherweise unsere friedlichen Absichten glaubhaft dargelegt werden – woran mein Team nicht ganz unschuldig war, hatten wir doch ihre Sprache erforscht. Daher durften wir einen Stützpunkt auf einer Hochebene des größten Kontinents errichten, der aber nur etwa halb so groß wie Australien war. Als Gegenleistung erhielten die Wasserwesen alle unsere Kenntnisse zur Nutzung geothermaler Energiequellen, zu Strömungslehre sowie zum Bau von Unterwasserfahrzeugen. Auf einer dem Kontinent vorgelagerten Insel wurde ein gemeinsames Forschungszentrum errichtet, in dem auch gelegentliche politische Treffen zwischen Menschen und Wasserwesen stattfanden. In der Sprache der Wasserwesen hatte der Planet einen für Menschen vollkommen unaussprechlichen Namen, so dass wir ihn weiterhin nur den »Wasserplaneten« nannten.

Ich stellt fest: »Nein, der Planet ist eigentlich Sperrgebiet für Zivilisten, auch dieser Stützpunkt.« 

»Ich war auch noch nicht hier«, bestätigte sie.

Auch nachdem mit unserer Hilfe die Sprache der Wasserwesen nahezu vollständig erforscht worden war, hatte mein Team und ich es doch nie geschafft, diesen Planeten persönlich zu besuchen, auch weil dieser dann vorübergehend an den Gegner gefallen war.

Um die Langeweile zu bekämpfen, zählte ich, wie viele schiffe von welchen Ländern ich erkennen konnte. Neben ein paar Japanern, einem britischen, zwei US-amerikanischen konnte ich auch ein französisches Schiff erkennen und eins, dessen Flagge ich nicht genau identifizieren konnte. Gerade landete eine kleine Fähre oder Ähnliches mit einer britischen Flagge und der Aufschrift HMS Birmingham, Tender XIV auf der Seite.

Gegnerische Jagdbomber hatten eine charakteristische Form, und so schaute ich öfters in den Himmel, ob sie uns vielleicht nicht doch angreiften. In der ganzen Unordnung hier waren wir zur Zeit wirklich nicht vollständig abwehrbereit.

Paula schaute das neben ihr auf seinem Gepäck liegende Teammitglied an und meinte: »Der schläft natürlich schon wieder!« 

»Der« hieß Dmitri (»ohne das dritte ›i‹«), hatte eine Schirmmütze tief in sein Gesicht gezogen und gab trotz des Trubels um uns herum gleichmäßige Atemgeräusche von sich. Dmitri war unser Russe und unser Software-Experte und Datenvisualisierer. Er konnte Berge von Rohdaten in wunderschön bunte Grafiken umwandeln und er war in der Lage, mit ein wenig Programmieraufwand nahezu jedes Datenformat in ein anderes umzuwandeln. Eine weitere Eigenschaft von ihm war, dass er an den unmöglichsten Stellen und unter den widrigsten Bedingungen schlafen konnte, wofür wir anderen ihn alle ein wenig beneideten. Gerade wieder landete ein Schiff fast direkt neben uns, aber Dmitri blieb davon fast vollkommen unbeeindruckt und gab nur ein leises Grunzen von sich.

»Hoffentlich sind unsere Geräte nicht verloren gegangen«, maulte Eric.

Eric war unser Techniker und der Herrscher über alles, was in irgendeiner Form Elektrik und Elektronik enthielt. Im Laufe des Rückzugs hatten wir unsere Geräte aus den Augen verloren, und es wäre äußerst schade gewesen, wenn sie auf einem Schiff gewesen wären, welches in einem der kleineren Kämpfe zerstört wurde.

Ich beruhigte ihn: »Die bekommen wir sicherlich noch«.

Tatsächlich hatten sich unsere Geräte, wenn auch mit einigem Schwund, bei unseren vielen Umzügen immer wieder eingefunden.

Neben Eric saß Pepe und sortierte gedankenversunken kleine Steinchen der Größe nach.

Pepe zeigte leichte autistische Züge, war aber gerade deswegen unser unentbehrlicher Helfer bei der Datenauswertung, Er konnte Muster, Gemeinsamkeiten oder Ausreißer in großen Datenmengen schneller als jeder Rechner erkennen und auch irgend welche Dinge in Rekordzeit sortieren. Darüber hinaus hatte er ein fotografisches Gedächtnis und er merkte sich alles, aber auch wirklich alles. Daher war er unsere wandelnde Datenbank, was mir zugute kam, da ich ein furchtbar schlechtes Namensgedächtnis hatte.

Und dann war da natürlich ich, der Leiter des Teams zur Datenanalyse, Professor Doktor Maximilian van Eych. Der Professor ist nur ehrenhalber, aber der Doktor ist echt. Wir hatten in der Vergangenheit einige Erfolge zu verzeichnen und standen somit unter bevorzugter Behandlung des Generalstabs. Da wir hier immer noch ausharren mussten, merkte ich davon gerade aber nichts. Also hieß es weiter warten, während alles um uns herum in Bewegung schien.

Viele Soldatengruppen, die an uns vorbeimarschierten, schauten uns interessiert an, da wir wohl wirklich die einzigen Zivilisten weit und breit waren. Teilweise wurden die Soldaten so abgelenkt, dass öfters einmal »Augen geradeaus!« gebrüllt werden musste.

Uhrzeit: 1832 WPCT

Meine Uhr piepste und meldete, dass sie sich auf die örtliche Uhrzeit umgestellt hatte. Ich schaute auf die Anzeige, sie zeigte 2032 WPCT, abends halb neun, Water Planet Central Time. Die Sonne zog sich hinter einen Bergrücken zurück und es begann zu dämmern, aber es war immer noch angenehm warm.

»Alle ’mal herhören«, verkündete ich, »wir haben wieder einmal eine neue Uhrzeit. Denkt bitte daran, dass hier der Tag dreißig Stunden hat und daher auch die Stunden vierundzwanzig bis neunundzwanzig…« 

Ich konnte den Satz nicht beenden, da in einer Soldatengruppe neben uns die Bewegung plötzlich ins Hektische wechselte. Der Trupp hatte einen Soldaten von der Gruppe separiert. Ein Sergeant zog seine Elektroschockwaffe, einen so genannten Taser, und feuerte die Nadelelektroden auf den Soldaten ab, der mit einem schrillen Heulen zusammenbrach. Sie hatten also wieder einmal einen Klon unschädlich gemacht, was offiziell verharmlosend als Klon-Vorfall bezeichnet wurde. Ein großes Problem stellte dar, dass die Klone fast immun gegen normale Schusswaffenprojektile waren. Durch Zufall wurde aber eine wesentliche Schwäche der Klone entdeckt. Dies war ihre starke Verwundbarkeit durch Elektroschockwaffen – wahrscheinlich ein Designfehler, der unglücklicherweise schon in einer verbesserten Version behoben sein könnte. Was bei einem Menschen nur starke Schmerzen verursachte und vielleicht zu lange anhaltenden Kopfschmerzen führen konnte, war für Klone fast tödlich. Daher waren viele, die keine richtigen Waffen tragen konnten oder durften, mit Tasern ausgerüstet worden, wie ich auch.

Klone waren der Versuch des Gegners, uns zu infiltrieren, indem er identische Kopien von Menschen herstellte. Es wurden entweder Personen entführt, die dann auf wundersame Weise wieder auftauchten, oder die Informationen für die Herstellung eines Klons wurden aus DNS-Proben gewonnen. Da der Gegner aber von seiner Heimatwelt abgeschnitten war, hatten sie zumindest auch keinen Klon-Nachschub mehr. Somit stellte sich die Frage Bist du es wirklich? nicht mehr so oft.

Niemand von uns hatte aber damit gerechnet, auch hier auf dem Stützpunkt Klone direkt anzutreffen, diese waren wohl zusammen mit den sich zurückziehenden Truppen eingesickert. Ich schaute mich um und fragte mich, wie viele von den Soldaten um uns herum wohl Klone waren, die aber noch nicht entdeckt worden waren. Auch konnte sich niemand vorstellen, wo die »Originale« geblieben waren, denn niemand hatte bisher einen Klon und sein »Original« zusammen gesehen. Gerüchte von großen Internierungslagern auf gegnerischen Planeten machten die Runde oder dass womöglich alle für den Gegner als Nahrungsquelle gedient hatten.

»Verdammt nochmal, ein Klon so nahe bei uns!«, fluchte Eric und steckte seine gezogene Waffe wieder ins Halfter zurück.

Ich steckte ebenfalls meinen Taser wieder zurück in die Jackentasche. Dmitri war durch den Tumult aufgewacht und hatte die Schirmkappe aus dem Gesicht genommen. Einen Klon-Vorfall so nahe mitzuerleben, war auch für mich etwas Neues. Schon sah ich gelbe Uniformen näher kommen, die Klonpolizei rückte an. Sie wurde aber von allen nur »Die Gelben« wegen der Uniformfarbe genannt. Die Klonpolizisten luden den am Boden liegenden und leblosen Klon in einen Gitterkäfig und transportierten ihn ab.

Noch waren die Klone auf diese Weise recht einfach auszuschalten, aber diese Schwäche betraf wohl nur die aktuelle Generation. Es war aber nur eine Frage der Zeit, bis Klone sowohl gegen Schuss- als auch gegen Elektroschockwaffen immun werden könnten. Da man Klone nicht von »normalen« Menschen unterscheiden konnte, schien dies auf ein ernsthaftes Problem hinauszulaufen. Leider hatte bisher niemand eine Möglichkeit gefunden, Klone eindeutig identifizieren zu können.

Die »Gelben« zogen wieder ab und auch die Pioniere setzten wieder ihren Gerüstbau fort. Mittlerweile war auch ein großer mobiler Kran zwischen den japanischen Schiffen aufgebaut worden – es war immer wieder interessant, was für Gerätschaften die Pioniere auch hier fernab der Erde in ihrem Bestand hatten.

Ein Trupp Soldaten brachte und den anderen wartenden Gruppen ein paar Wasserflaschen und Energieriegel. Das war zwar kein richtiges Essen, aber immerhin etwas, da mir schon der Magen knurrte. Das war für mich aber ein Zeichen, dass wir so schnell nicht von hier weg kamen. Auch Eric schätzte die Situation so ein.

»Das dauert hier wohl noch länger«, meinte er.

Ich entgegnete: »Wenigstens ist die Luft hier ordentlich, wenn es manchmal aber bloß nicht so stauben würde.« 

Beim Soldatentrupp konnten wir den Funk mithören. Ein Schiff im Orbit war außer Kontrolle geraden und in das Gravitationsfeld des Wasserplaneten gekommen. Wir sahen es auch bald in der Atmosphäre verglühen. Glühende Teile schlugen zum Glück weit vom Stützpunkt entfernt auf dem Boden auf, zum Teil waren auch noch recht große Brocken dabei. Kurz danach kamen weitere Objekte an Fallschirmen heruntergeschwebt, die wie Rettungskapseln aussahen. Mehrere kleinere Schiffe starteten sofort und nahmen Kurs auf die Rettungskapseln und ein anderes Schiff flog in Richtung der niedergegangenen Trümmer. Das Ganze schien immer mehr außer Kontrolle zu geraten und ich war froh, dass zumindest wir heil auf dem Stützpunkt angekommen waren. Zum Glück waren aber die Gewächshäuser nicht betroffen.

Uhrzeit: 2005 WPCT

Ein kleiner Soldatentrupp fuhr mit einer Art Gulaschkanone umher und verteilte eine überraschend wohlschmeckende Suppe und reichte dazu jedem etwas Brot. Auch Dmitri war mittlerweile wach geworden und gierte geradezu nach etwas Essen.

Weitere Pioniere begannen, große Zelte aufzubauen, auf den Zeltplanen angebrachte große rote Kreuze deuteten auf ein Feldlazarett hin, offenbar hatte es beim Rückzug viele Verletzte gegeben, die von der Medizinstation des Stützpunkts nicht mehr aufgenommen werden konnten.

Neben den Lazarettzelten bauten die Pioniere weitere Zelte auf, diese hatten aber keine Markierungen. Dafür waren dort viele gelbe Uniformen unterwegs, die auch die charakteristischen Käfige auf Rollen in das Zelt schoben. Soweit ich es erkennen konnte, wurde dort wohl ein Klongefängnis aufgebaut. Auch der direkt neben uns unschädlich gemachte Klon wurde von der Klonpolizei dort hingebracht. Wahrscheinlich waren die Arrestzellen des Stützpunktes schnell belegt gewesen, so dass für Ersatz gesorgt werden musste. Mich beunruhigte nur die Größe des Aufbaus, rechnete die Klonpolizei offenbar mit einer erheblichen Anzahl enttarnter Klone.

So wurde es zumindest nicht langweilig, wenn es auch nach und nach es aber etwas weniger hektisch wurde. Ab und zu wurde ein Klon ins Gefängnis gebracht, noch immer aber hatte sich niemand um uns gekümmert und ich war kurz davor, den nächstbesten Transport anzuhalten und und mitnehmen zu lassen. Langsam dämmerte es und ich hätte eigentlich gerne noch vor Einbruch der Dunkelheit ein Dach über dem Kopf gehabt.

Nun konnte man auch zwei der drei Monde erkennen, die sich als kleiner Sichelmond und als großer Halbmond zeigten.

Uhrzeit: 2215 WPCT

Nachdem sich auf dem Flugfeld fast nichts mehr bewegte, kam ein Stabsoffizier auf uns zu. Endlich waren wir an der Reihe.

»Gruppe van Eych?«, fragte er.

Die Frage war eigentlich recht einfach zu beantworten, waren wir mittlerweile die einzigen, die noch nicht untergebracht worden waren, und auch doch immer noch die einzigen Zivilisten auf dem Flugfeld, soweit ich es überblicken konnte. Ich stand auf, nickte und hielt dem Offizier ein Elektronisches Papier, kurz »EP« genannt, mit unserer vom Generalstab unterzeichneten Legitimation entgegen.

Unser Gepäck wurde auf einen Lastwagen verladen und wir kletterten auf die Ladefläche. Wir wurden über das Flugfeld zu einem großen Gebäudekomplex gefahren. Vor einem Eingang hielt der Lastwagen an und der Stabsoffizier erläuterte, dass es das Stabsgebäude war. Er führte uns durch mehrere Kontrollen hindurch in einen recht großen Konferenzraum, der ab sofort für unbestimmte Zeit unser neuer Arbeitsplatz sein sollte. Auf Erics Nachfrage hin bekamen wir die Auskunft, dass unsere Geräte noch heute Nacht oder spätestens morgen früh geliefert werden sollten.

»Nicht schlecht«, meinte Dmitri. »So nobel waren wir schon lange nicht mehr untergebracht.« 

»Brauchen wir hier eigentlich keinen Ausweis oder sowas?«, wollte Eric wissen.

Der Stabsoffizier verneinte, da wir sowieso die einzigen Zivilisten auf dem Stützpunkt waren. Somit war es auch sozusagen offiziell bestätigt.

Der Konferenzraum besaß noch einen gleich großen Nachbarraum, der durch eine mobile Zwischenwand abgetrennt war. Um einen großen rechteckigen Konferenztisch herum in der Mitte des Raums waren einige Stühle gruppiert. An den Seitenwänden gab es verschiedene Sitzgruppen mit recht bequem aussehenden Sesseln und Sofas und niedrigeren kleinen Tischen. An einer Wand befand sich ein Kühlschrank und ein Tisch mit Getränken, Geschirr, Besteck und Gläsern. Immerhin gab es auch ein Tablett mit Sandwiches, so das wir an diesem Tag neben Energieriegeln und Suppe noch etwas in den Magen bekamen.

Es hatte uns aber noch niemand mitgeteilt, wer die andere Hälfte des Konferenzraums bekommen sollte. Es konnte aber wohl nur jemand aus dem Generalstab sein, der hier arbeiten sollte, denn Schlafquartiere gab es nach Aussage des Stabsoffiziers eigentlich genug.

Bevor wir unsere Arbeitsplätze einrichteten, gab es erst einmal das Abendessen. Endlich konnten wir an einem Tisch sitzen und nicht irgendwie beengt zwischen Geräten.

Eric wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und stellte fest: »Das ist ja schon ’mal ein guter Anfang.« 

Auch ich fand zumindest den neuen Arbeitsplatz recht ansprechend. Am Besten gefiel mir aber der große Waschraumbereich neben dem Konferenzraum. Endlich gab es wieder richtige Toiletten, nicht diese komischen Vakuum-Dinger auf den Raumschiffen. Noch hatten wir aber die Quartiere noch nicht gesehen.

Nach dem Essen zog mich erst einmal auf die Toilette zurück und genoss eine intensive »Sitzung«.

Gerade als ich zurück in den Konferenzraum gehen wollte, erschien erneut der Stabsoffizier, der uns auch in den Konferenzraum gebracht hatte. Er hatte einen Stapel EP in der Hand und wies uns nun die Quartiere zu. Da der Stützpunkt viele Personen zusätzlich aufnehmen musste, wurden wir in den Zweier-Quartieren untergebracht, die normalerweise Unteroffizieren vorbehalten waren. Wir mussten uns den Raum zwar mit jemand anderem teilen, was aber immer noch besser war, als die teilweise äußerst beengten Verhältnisse, in denen wir auf den Raumschiffen untergebracht waren.

Leider war dem Stützpunkt bei der Quartierszuweisung ein Fehler unterlaufen, und so wurde mein Team nicht in nebeneinanderliegenden Quartieren zusammen untergebracht. Ich zum Beispiel hatte einen Major der Raumflotte als Zimmernachbarn zugeteilt bekommen. Auf mein Bitten hin konnten wenigstens Pepe und Dmitri zusammen untergebracht werden.

Leider war auch die Küche dem zusätzlichen Ansturm noch nicht gewachsen, so dass nicht in den Kasinos, sondern in den Quartieren zu Abend gegessen und gefrühstückt werden musste. Immerhin hatten wir als direkt dem Generalstab unterstellte zivile Mitarbeiter das Privileg, in Offiziersquartieren untergebracht zu werden.

Da es schon spät war, beschloss ich, dass alle ihr Quartier beziehen, zu Abend essen und sich dann eine ausreichende Nachtruhe gönnen sollten. Am nächsten Tag um 0800 WPCT sollten sich alle wieder im Konferenzraum einfinden.

Ich griff mein Gepäck und begab mich zu dem auf dem EP angegebenen Raum. Er lag am Ende eines langen Korridors. Das war schon einmal positiv; es würde dort also recht ruhig sein. Ich stellte mein Gepäck ab und las mir noch einmal das EP genauer durch, da hörte ich eine recht tiefe weibliche Stimme.

»Ist das hier Trakt vier, Quartier vier-null-neun?«, fragte die Stimme.

Ich schaute in Richtung der Stimme und erblickte eine dunkelhäutige und recht große Frau, die einen dunkelblauen Uniformoverall der Raumflotte mit den Rangabzeichen eines Majors trug, auf dem der aufgestickte Name Bakersfield prangte.

Ich muss einen furchtbar dämlichen Gesichtsausdruck gemacht haben, denn der weibliche Major lächelte mich an, zeigte blendend weiße Zähne und sehr entzückende Lachgrübchen auf den Wangen.

»Ich bin auch etwas irritiert«, meinte sie. »Irgend etwas ist hier schief gelaufen.« 

Der Stabsoffizier hatte vorhin erst erzählt, es wäre gegen die Richtlinien, wenn ein Mann und eine Frau gemeinsam in einem Quartier untergebracht wären. Nun war aber genau so ein Fall eingetreten. Major Bakersfield schaute auf das EP in ihrer Hand.

»Kim T. Bakersfield! Oh nein, diese Bürokratenpappnasen haben mich schon wieder falsch geschrieben!«, schimpfte sie.

Bürokratenpappnasen fand ich als Begriff nicht schlecht, die Frau begann mir zu gefallen.

»Das ist ein Fehler in Ihren Stammdaten«, erläuterte ich.

»Stammdaten?« 

»Name, Vorname, Rang undsoweiter. Wenn das einmal falsch im System ist, bekommt man das nur schwer wieder heraus. Ich hätte allerdings da jemanden in meinem Team, der das korrigieren könnte.« 

»Ihr Team?« 

»Ja, das Datenauswertungsteam des Generalstabs.« 

Sie sage nichts mehr und schaute mich nur an.

»Major Bakersfield, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Van Eych, Max van Eych.« 

Sie schaute mich weiterhin mit viel zu großen und viel zu dunkelbraunen Augen an, was tief in mir ein völlig unerwartetes Kribbeln auslöste.

»Van Eych? Der berühmte Professor van Eych?« 

Der berühmte Professor sogar; mein Ruf eilte mir wohl voraus. Als Taktikoffizier mussten ihr wohl schon einmal meine Datenauswertungen oder mein Name über den Weg gelaufen sein.

»Ja, Professor Doktor Maximilian Vincent van Eych. Ich bevorzuge aber ›Max‹ als Anrede.« 

»Major Tanya Kimberley Bakersfield, so ist es richtig herum, Taktikoffizierin der Raumflotte, vormals HMS Birmingham, jetzt abkommandiert auf diesen Stützpunkt. Nennen Sie mich Tanya.« 

»Soll ich wieder gehen?«, fragte ich.

Sie antwortete: »Nein, nein! Lassen Sie uns doch erst einmal das Quartier ansehen.« 

Das war natürlich ein Angebot, welches ich nicht ablehnen konnte.

Ich öffnete daher mit meiner Codekarte die Tür. Das Quartier war recht geräumig und besaß ein großes Badezimmer mit einer richtigen Dusche, nicht diese auch für Schwerelosigkeit tauglichen Teile auf einem Raumschiff, die entfernt an eine Autowaschanlage erinnerten. Der Raum war in der Mitte durch Schränke und Regale in zwei Hälften geteilt. Es gab je Hälfte ein – richtiges! – Bett und einen Schreibtisch mit Stuhl. Neben dem Eingang gab es einen gemeinsamen Bereich mit einem kleinen Kühlschrank, einem Tisch und zwei Stühlen. Auf dem Tisch lagen die Lunchpakete für Abendessen und Frühstück.

Ich war begeistert. Das alles war nach der Enge auf den Raumschiffen viel zu nobel, um wahr zu sein, obwohl es sich lediglich um einen Militärstützpunkt handelte. Und das waren erst die Unteroffiziersquartiere… 

Ich stellte mein Gepäck ab und fasste einen kühnen Entschluss.

»Liebe Frau Major«, begann ich, »ich möchte gerne wenigstens diese Nacht hier schlafen. Sie dürfen mich auch gerne herauswerfen; ich kann auch auf dem Gang oder sonstwo nächtigen. Ich bin vielleicht ein zerstreuter Professor, aber stubenrein, ich nehme keine Rauschmittel zu mir und seit meiner Scheidung ist mein Sexualleben auf Null. Nach einer Nasenoperation vor einigen Jahren schnarche ich nicht mehr und ich feiere keine ausufernden Parties und komme auch nicht spätnachts grölend zurück.« 

Sie kicherte leicht.

»Vor einem muss ich Sie dann aber noch warnen«, fuhr ich fort. »Ich bin bekennender Morgenmuffel und es ist das Beste, wenn man mich möglichst nicht anspricht. Wahrscheinlich werde ich sowieso den ganzen Tag arbeiten und nur zum Schlafen hierher kommen. Ich bin fix und fertig von der Evakuiererei und kann daher auch keine endlosen Diskussionen mit irgendwelchen Bürokraten zur Quartierszuteilung mehr anfangen. Nur diese eine Nacht. Deal?« 

Wieder zeigte sie ihre Grübchen.

»Lieber Herr Professor, ich bin ein braves Mädchen und habe schon von meinem Rang her kein ausuferndes Sexualleben. Ich habe kurze Haare und Makeup ist beim Militär sowieso nicht exzessiv erlaubt, daher bin ich auch keine Badezimmerdauerblockiererin. Ich schnarche ebenfalls nicht und werde voraussichtlich auch den ganzen Tag unterwegs sein. Auch ich könnte ein paar Stunden Schlaf am Stück vertragen. Das mit dem Morgenmuffel werden wir schon in den Griff bekommen, ich bin so etwas Ähnliches, nämlich überhaupt kein ›Frühstückstyp‹« 

Sie streckte mir die Hand aus und meinte: »Ich nehme die rechte Seite. Deal!« 

Ich nahm ihre Hand. Sie fühlte sich warm und weich an. Frau Major hatte aber dennoch einen recht kräftigen Händedruck. Leider konnte ich es nicht vermeiden, dass sie mir wieder viel zu tief in die Augen schaute.

»Deal!«, bestätigte ich.

Uhrzeit: 2605 WPCT

Wir verstauten unsere Sachen in den Schränken, gingen nacheinander duschen und saßen dann noch kurz am Tisch neben dem Kühlschrank zusammen. Wir stellten dabei fest, dass wir beide am nächsten Morgen um 0800 mit der Arbeit beginnen sollten und einigten uns darauf, meinen Wecker auf 0630 WPCT und zur Sicherheit ihren auf 0635 WPCT zu stellen.

Ich reinigte noch kurz meine Zähne und fiel dann todmüde ins Bett.

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