Kapitel 6
Kabinett

1 Stützpunkt | 2 Minister | 56%

Das Ziel der Fähre war zwar ein nach Kriegsende stillgelegter, aber vom DMS noch weiter benutzter Militärstützpunkt in einer Wüste. Meine drei Damen, die zuvor am oder auf dem Wasser gelebt hatten, waren beeindruckt von der riesigen wasserlosen Fläche. Mehrere langgestreckte und flache Gebäude gruppierten sich um zwei große Hangars. Alle Gebäude hatten durch den Wüstenstaub mittlerweile die gleiche hellbraune Farbe wie die Umgebung angenommen.

Die Fähre schwebte langsam in einen der Hangars hinein und direkt hinter ihr wurden sofort die Tore geschlossen. Als wir aus der klimatisierten Fähre ausstiegen, traf uns die heiße und stickige Luft im Hangar wie ein Schlag ins Gesicht. Obwohl ich durch meine Implantate weniger empfindlich war, merkte ich doch den Temperaturunterschied deutlich.

Die Soldaten nahmen Haltung an, als sie den General erkannten, der mit uns aus der Fähre gestiegen war.

Der wachhabende Sergeant nahm Haltung an, salutierte und begrüßte ihn mit: »Willkommen in Camp Echo, Sir!« 

Der General verabschiedete sich gleich wieder von uns und ging auf ein Luftauto zu, das im Hangar schon schwebend auf ihn wartete.

»Machen Sie unseren Gästen hier den Aufenthalt so angenehm wie möglich«, gab er dem Sergeant zu verstehen.

»Aber selbstverständlich, Sir!« 

Der General bestieg das Luftauto, das Hangartor öffnete sich ein wenig und das Auto flog davon.

Wir wurden in ein an den Hangar anschließendes Gebäude geführt. Uns wurden zwei aneinander grenzende und durch einen gemeinsam benutzten Sanitärbereich verbundene Quartiere als vorübergehenden Aufenthaltsort zugewiesen. Das Gebäude und auch die Quartiere waren wieder klimatisiert und die Luft war deutlich angenehmer. Ich bezog mit Marijke einen Raum und die beiden Mädchen bekamen den anderen. Nach Angaben des wachhabenden Sergeants sollten wir für die folgende Nacht dort untergebracht und dann am Folgetag zu ein Haus gebracht werden, das dem DMS von der Zeugenschutzabteilung des Innenministeriums zur Verfügung gestellt worden war.

Eine Soldatin vermaß uns mit einem tragbaren Scanner und brachte uns dann wenig später Waschzeug, Handtücher und passende frische Kleidung. Sie entschuldigte sich, dass es nur dunkelblaue Militäroveralls waren, aber der DMS-Stützpunkt war auf einen derartigen Spontanbesuch nicht unbedingt eingerichtet gewesen. Mir war das eigentlich egal, da ich schon seit einiger Zeit die Kleidung nicht mehr hatte wechseln können. Am schönsten war jedoch die Dusche. Ich hatte zwar hinter unserer Hütte im Piratendorf eine Art Dusche installiert, aber das war nicht wirklich ein Ersatz für ein richtiges Badezimmer mit fließend warmen und kaltem Wasser. Außerdem gab es – endlich – wieder eine richtige Toilette.

Als uns am nächsten Morgen das Frühstück serviert wurde, schaute Beatrix einmal zu viel auf eine attraktive Soldatin und wurde von Carmen zurechtgewiesen. Bereits direkt nach dem Frühstück wurden wir dann in das Haus verlegt. Wir saßen in einem Kleinbus mit getönten Scheiben und uns begleiteten zwei Luftautos von DMS als Eskorte. Der Konvoi verließ die Wüste und wir flogen in Richtung einer am Horizont auftauchenden Großstadt. Die Augen meiner drei Damen wurden immer größer, je näher die ersten Häuser kamen. Sie hatten ja bisher nur die Wüste um den Militärstützpunkt herum sowie Dörfer oder vielleicht auch einige Städte des sechzehnten Jahrhunderts kennengelernt. Durch den starken Bevölkerungszuwachs seit dieser Zeit waren aber sehr viele sehr große Städte entstanden. Das Elektronengehirn präzisierte, mal wieder ungefragt, diese Aussage.

Vor allem durch die Erschließung interstellarer Kolonien konnte das Bevölkerungswachstum auf der Erde Anfang des zweiundzwanzigsten Jahrhundert eingedämmt werden.

Das war mir bekannt. Was das Elektronengehirn aber unterschlagen hatte, waren die Bevölkerungsverluste aufgrund der Interstellaren Kriege. Dennoch waren die Städte meiner Ansicht nach immer noch viel zu sehr bevölkert; ich mochte nun einmal einfach keine großen Menschenansammlungen, da mir dort immer äußerst unwohl wurde. Ob und wie diese leichte Agoraphobie durch meinen Umbau zum Hybriden jetzt endlich verschwunden war, konnte ich noch nicht nachprüfen, da ich sowohl während meines Krankenhausaufenthalts als auch im sechzehnten Jahrhundert noch keinen größeren Menschenansammlungen begegnet war.

Ich versuchte meinen Mitreisenden erläutern, dass zur Zeit etwa zwanzig Milliarden humanoide Lebensformen auf der Erde lebten. Dies entsprach in etwa dem vierzigfachen der Gesamtbevölkerung Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Davon waren etwa achtundneunzig Prozent Menschen und der Rest teilte sich in diverse außerirdische humanoide Lebensformen auf, ähnlich dem I’avêrésen, dem wir auf der Raumstation begegnet waren. Marijke, die ein gewisses mathematisches Verständnis und damit auch ein Verständnis für große Zahlen hatte, zeigte sich beeindruckt und konnte die Größe der Städte jetzt besser verstehen.

Wir flogen über eine ausgedehnte Vorstadtsiedlung mit vielen gleich aussehenden Einfamilienhäusern hinweg. Die Häuser gruppierten sich in gleichmäßigen geometrischen Mustern um eine große Shopping-Mall herum, was aus der Luft durchaus seine ästhetischen Reize hatte. Der Kleinbus und die Begleitfahrzeuge schwebten in das größte Parkhaus dieser Shopping-Mall hinein. Nachdem eine Art Schleuse durchquert wurde, stoppten wir in einem abgetrennten Bereich mit privaten Parkplätzen. Wir stiegen aus und die Mitarbeiter des Zeugenschutzes führten uns durch mehrere Türen und Treppenhäuser in einen langen Tunnel. Ein DMS-Soldat erläuterte, dass dieser und auch andere Tunnel speziell für den Zeugenschutz angelegt worden waren. Der Tunnel, den wir durchquerten, mündete in einen Keller eines Einfamilienhauses, so konnte man unbemerkt das Haus betreten oder verlassen.

Das nicht allzu große, aber für uns vier Personen vollkommen ausreichende Haus war vollständig eingerichtet. Auch Kleidung in allen Größen war vorhanden, was helle Begeisterung bei den Mädchen hervorrief und schlussendlich in eine hübsche Modenschau mündete. Die beiden sahen in der aktuellen Mode gar nicht einmal so schlecht aus.

Mit dem in jedem Raum installierten Informations-System konnten sich alle über aktuelle Ereignisse informieren. Der Vorfall auf der Raumstation wurde aber in keiner Nachrichtensendung erwähnt, was dafür sprach, dass alles sehr gut geheim gehalten werden konnte.

Alle drei Frauen waren ebenfalls über die Küche sehr begeistert, obwohl ich als bekennender Junkfood-Junkie (meine Implantate verarbeiteten jetzt nämlich auch ohne mir groß zu schaden das ungesundeste Essen, was mir sehr entgegen kam) zunächst eigentlich nicht vorhatte, frisch zu kochen. Daher wurden wasserentzogene Fertiggerichte im Ofen in etwa fünf Minuten hydriert und gebacken, was den dreien die erste Pizza ihres Lebens bescherte. Alle drei fanden den Komfort des Hauses äußerst beeindruckend. Verwundert reagierten sie aber darauf, als ich darlegte, dass dies eher der unterste Standard war und dass es noch wesentlich komfortablere Häuser gab. Den Mädchen gefiel nach anfänglicher Skepsis besonders das Herumkommandieren der diversen Hausroboter.

Für die nächste Zeit war dies nun unser Zuhause.

In der ersten Woche bekamen wir dann noch einmal Besuch vom DMS-Medizinbereich. Medizin-Nano-Roboter, die teilweise auf Molekularebene arbeiteten und auch beim »Einbau« meiner Implantate mitgewirkt hatten, immunisierten die Körper meiner drei Damen vollständig, da in der Medizinstation der Raumstation nur ein vorübergehender Schutz verabreicht werden konnte. Die Roboter bekamen darüber hinaus noch andere Aufgaben zugewiesen. So gab es eine komplette Porenreinigung des Körpers mit Kopfhaarpflege und kompletter Körperhaarentfernung sowie der Entfernung einiger großer Leberflecke. Die Roboter reinigten, richteten oder besserten Zähne aus und Beatrix’ leicht schief stehende Wirbelsäule wurde entsprechend korrigiert (»meine Rückenschmerzen sind ja weg!«, meinte sie, als sie aus der Narkose aufwachte und auf Anweisung des Arztes ein paar Schritte hin und her gehen musste). Als heimlich von mir veranlassten Bonus bekam Marijke noch eine Bruststraffung, was aber unter uns blieb. In dieser Form »überarbeitet« und in aktueller Mode gekleidet waren alle drei nicht mehr von Frauen aus dem vierundzwanzigsten Jahrhundert zu unterscheiden.

Auch mich unterzogen die Roboter einer gründlichen Untersuchung, die ergab, dass ich den Ausflug in das sechzehnte Jahrhundert unbeschadet überstanden hatte. Weiterhin wollte ich mich aber von den Update-Servern abgekoppelt lassen.

Auch wenn jetzt die schönen Momente mit meiner Familie die Oberhand gewonnen hatten, so wohnten wir doch immer noch in einem Haus der Zeugenschutzabteilung und wir waren eigentlich immer noch in Gefahr. Ich war einer der Zeugen, wenn nicht der wichtigste, die über das Zeitreise-Projekt genauestens Bescheid wussten und entsprechend wertvoll waren, um diverse Leuten endlich einmal grundsätzlich in die Schranken verweisen zu können.

Währenddessen hatte das Parlament aufgrund der Vorfälle auf der Raumstation mit recht großer Mehrheit der Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zugestimmt. Der Premierminister war sichtlich verärgert darüber, dass auch Abgeordnete aus seiner Regierungskoalition für die Einrichtung des Ausschusses gestimmt hatten. Es waren mehrere Anhörungstermine im Untersuchungsausschuss unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen in einem Nebentrakt des Parlamentsgebäudes angesetzt worden. An mindestens zwei dieser Termine sollte ich teilnehmen, mich einer Befragung unterziehen und meine Aussagen machen.

Zu diesen Terminen wurde ich unter schwer bewaffneter Begleitung von Mitarbeitern des Zeugenschutzes den üblichen Weg durch den Tunnel in das Parkhaus der Shopping-Mall gebracht, nicht ohne jedes Mal mich ausgiebig von meiner Familie zu verabschieden. Von dort ging es mit Luftautos auf immer wechselnden Routen in das Untergeschoss eines Gebäudes im Regierungsviertel, von dem aus durch lange unterirdische Gänge und Treppenhäuser der Nebentrakt des Parlamentsgebäudes erreicht wurde.

Durch (nicht nur meine) Aussagen sowie die allgemeine Beweisaufnahme im Untersuchungsausschuss konnten bereits mehrere Razzien und Festnahmen erfolgreich durchgeführt werden, wobei auch einiges an zusätzlichen Beweismitteln sichergestellt wurde. Unter den Festgenommenen befanden sich auch drei Hybride, die dank meiner Hilfe unter Deaktivierung ihrer Elektronengehirne ohne Gegenwehr in Gewahrsam genommen werden konnten. Durch diese, teilweise spektakulären und teilweise in aller Öffentlichkeit stattgefundenen, Aktionen ließen sich die Tätigkeiten des Untersuchungsausschusses nicht mehr unbedingt vollständig geheim halten. Dies hatte zur Folge, dass immer abstrusere Spekulationen und Verschwörungstheorien in der Presse auftauchten. Das Thema »Zeitreisen« hatte aber, glücklicherweise, bisher noch niemand angerissen. Der General sagte nach der Sitzung zu mir, dass sie im Generalstab gerade eine glaubwürdige Geschichte zusammenstellen und den Medien zuspielen wollten, um auch weiterhin davon ablenken zu können.

Die sichergestellten Beweise und die »Befragungen« der Hybride (wobei es sich eher um das Extrahieren von Daten aus ihren Elektronengehirnen handelte), deuteten immer mehr darauf hin, dass die Drahtzieher »ganz oben« in der Regierung beschäftigt sein mussten. Meiner Ansicht nach kamen als Hauptverdächtige eigentlich nur der Wissenschafts- und der Verteidigungsminister in Frage.

Die Taktik des von der größten Oppositionspartei gestellten Ausschussvorsitzenden war, diese Hauptverdächtigen zu einer unvorsichtigen Äußerung hinreißen zu lassen. Und dann machte der Wissenschaftsminister, welcher der zweitgrößten Regierungspartei angehörte, genau diesen entscheidenden Fehler. In einer Fragerunde untermauerte der Oberste Befehlshaber des DMS, der mir schon bekannte General, seine Aussagen mit diversen Projektunterlagen, die ich im Elektronengehirn des von mir im sechzehnten Jahrhundert überwältigten Hybriden gefunden hatte.

»Stop!«, unterbrach der Wissenschaftsminister den General wirsch.

Sofort wurde er seinerseits unterbrochen, und zwar vom Ausschussvorsitzenden. Dieser fragte mit einem genau passenden süßlichen Unterton: »Herr Minister, Sie sind eigentlich noch gar nicht an der Reihe; Ihre Sprechzeit ist sowieso schon fast aufgebraucht. Möchten Sie trotzdem unverzüglich eine Wortmeldung zum Thema abgeben?« 

»Ja, diese Unterlagen sind strengstens vertraulich!«, polterte er. »Herr General, wo haben Sie diese her? Sie dürfen sie gar nicht besitzen!« 

Der General klipste seinen am Uniformjackenrevers hängenden Dienstausweis ab, drehte ihn mit demonstrativer Langsamkeit um (was die Gesichtsfarbe des Ministers ein paar Rotschattierungen dunkler werden ließ), schaute ihn an und erwiderte trocken: »Also hier steht, dass ich der Oberste Befehlshaber des DMS bin. Es sei mir daher sicherlich gestattet, dass ich Einsicht in jegliche die Militärsicherheit betreffenden Projektunterlagen haben sollte – oder?« 

Das Protokoll notierte später eine »leichte Unruhe im Saal«.

Der Ausschussvorsitzende und ich schauten uns an. Ich konnte mir ein breites Grinsen nur mühsam verkneifen. Die Taktik, auf die Arroganzkarte zu setzen, war voll aufgegangen. Der Wissenschaftsminister hatte somit indirekt die Echtheit der Projektunterlagen bestätigt, vor allem meine im Elektronengehirn gesammelten Beweise waren nun nicht mehr wegzudiskutieren.

Ich schaute hinüber zum Verteidigungsminister, der fast vollständig seine Gesichtsfarbe verloren hatte, dafür tendierte die Gesichtsfarbe des Wissenschaftsministers ins Violette. Dieser hatte wohl jetzt bemerkt, dass er sich gerade ganz furchtbar ungeschickt verplappert hatte. Er versuchte sich zwar noch herauszureden, aber der Ausschussvorsitzende bestand auf einer wahrheitsgemäßen Aussage, da alle am Untersuchungsausschuss Beteiligten unter Eid standen – und nicht nur die gerade befragte Person.

»Eigentlich müssten Sie als Minister die entsprechende Geschäftsordnung doch kennen«, legte der Ausschussvorsitzende nach, dem es offensichtlich Spaß zu machen schien, seinem politischen Gegner eins auszuwischen.

Auf einen schon am Boden Liegenden sollte man zwar nicht noch einmal nachtreten, aber der in den bisherigen Sitzungen ausschließlich durch arrogante Überheblichkeit aufgefallene Minister hatte es wahrlich verdient. Schade, dass diese Sitzung des Ausschusses nicht in den Medien übertragen wurde, es hätte sensationelle Einschaltquoten gegeben.

Um ihrer Amtsenthebung zuvorzukommen, traten beide Minister innerhalb der nächsten zwei Stunden zurück. Die Oppositionsführer verlangten daraufhin eine Sondersitzung des Parlaments und dass die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses öffentlich gemacht werden sollten. Weiterhin wurden an die Medien aber nur möglichst unverfängliche Informationen weitergegeben. Das Thema »Zeitreisen« war daher in der Öffentlichkeit auch weiterhin kein Diskussionsgegenstand.

Nach noch zwei Sitzungstagen hatte dann der Untersuchungsausschuss genug Beweise für einen anschließenden Prozess gesammelt Der Prozess sollte vor dem obersten Staatsgerichtshof und nicht als Militärgerichtsprozess stattfinden, so hatte es die Opposition durchgesetzt. Er fand trotzdem unter Ausschluss der Öffentlichkeit hinter verschlossenen Türen statt, vor allem auch, um den Friedensvertrag des Zweiten Interstellaren Krieges nicht zu gefährden.

Ich war nun vollkommen in der Gegenwart angekommen und auch noch mitten drin in der Politik, obwohl ich Politik eigentlich abgrundtief verabscheute. Schon alleine wenn ich diese aalglatten Berufspolitiker sehen musste, wurde mir übel. Viel lieber hätte ich entweder Piratenschiffe modernisiert oder andere Segelschiffe konstruiert.

Der Rücktritt der zwei Minister löste eine Regierungskrise aus und es wurde im Parlament von der Opposition die Vertrauensfrage gestellt. Im Parlament kam es zu tumultartigen Szenen, nachdem der Premierminister die Wahl äußerst knapp mit 56 Prozent Gegenstimmen verloren hatte. Da er keine tragfähige Mehrheiten mehr hatte, wurden unter Umständen sogar Parlamentsneuwahlen in Aussicht gestellt.

Ich hatte diese Lawine losgetreten, was mir schon sehr unangenehm war. Wer aber konnte von sich schon behaupten, im Prinzip ganz alleine eine Regierungskrise mit Neuwahlen ausgelöst zu haben? Hier und heute in der Zukunft oder Gegenwart, also auf jeden Fall nicht mehr in der Vergangenheit, galt die mir selbst auferlegte »Oberste Direktive« nicht mehr, was allerdings nicht unbedingt bedeuten sollte, dass ich jetzt gleich auf diese Art und Weise massiv in das Zeitgeschehen hätte eingreifen müssen… 

Im anschließenden Prozess wurde alles noch einmal aufgerollt, aber da die Beweise schon lückenlos vorlagen, dauerte der Prozess nur vier Verhandlungstage und ich musste nur noch einmal kurz aussagen.

Das Ergebnis fiel eindeutig aus. Wegen Hochverrats zur Vorbereitung eines Angriffskrieges, Verstoß gegen das Friedensabkommen des Zweiten Interstellaren Krieges sowie gegen andere Gesetze wurden diverse Personen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Hauptbeteiligten bekamen aufgrund der Schwere ihrer Taten teilweise sehr verschärfte Haftbedingungen. Die Minister kamen in verschiedene Haftanstalten in Einzelhaft, die Hybriden wurden in einem Schwerelosigkeitsgefängnis in der Umlaufbahn eines nicht näher benannten Planeten ruhig gestellt.

Mein Name wurde zwar erwähnt – was sich leider nicht vermeiden ließ –, aber nur in meiner Rolle als Lieutenant und nicht als Hybrid.

Es war endlich vorbei! Dankend nahm ich das Angebot an, mit allen Ehren vorzeitig aus dem Militärdienst ausscheiden zu können. Wieder eher peinlich war mir die Tatsache, dass mir noch der höchste Tapferkeitsorden verliehen wurde, so dass ich wiederum im Rampenlicht stehen musste. Aber auch hier wurde der Begriff »Hybrid« mit keiner Silbe erwähnt. Mir wurde außerdem ein recht hoher Geldbetrag als Abfindung und Schmerzensgeld zugesprochen, so dass ich zusammen mit meinen drei Damen ein neues und finanziell abgesichertes Leben beginnen konnte. Dieses bestand aus einem schönes Haus in einer landschaftlich schönen Gegend und es blieb auch noch ein wenig Startkapital für die Naturmodeherstellung der beiden Mädchen übrig. Den Segelschiffbau behielt ich aber noch weiterhin im Hinterkopf.

Um eines konnte ich mich auch endlich kümmern, nämlich nachzusehen, was genau für Änderungen ich eigentlich in der Zukunft verursacht hatte. Ich ließ mein Elektronengehirn aktuelle politische Landkarten mit denen vergleichen, die ich aus der ursprünglichen Zeitlinie gespeichert hatte.

Vorschlag: Von der Insel Coche, »Inseln unter dem Winde«, Kleine Antillen, Karibik aus beginnen und dann Suchradius erweitern.

Vorschlag akzeptiert! In den Kleinen Antillen selbst gab es keine Änderungen. Ich beschloss daher, es weiter südlich zu versuchen. Die erste große Änderung war dann auf dem südamerikanischen Festland zu verzeichnen: Ein separates Land namens »Venezuela« gab es nicht, statt dessen war Britisch-Guyana deutlich größer und schloss das Gebiet von Venezuela mit ein. Ich wertete das als Indiz dafür, dass dort die Spanier nicht Fuß fassen konnten und dafür die Briten die Oberhand bekommen hatten.

Die nächste Änderung noch etwas weiter südlich verursachte in mir einen kleinen Schock. Brasilien war offensichtlich vor der Unabhängigkeit britisch und nicht portugiesisch gewesen. Guyana hatte einen britischen Brückenkopf bei der Eroberung des Amazonasgebiets gebildet und so konnten die Portugiesen zurückgedrängt werden. Ich bemerkte das schon anhand der englischen Städtenamen, als ich die Landkarte anschaute. São Paulo hieß jetzt »St. Paul« und Rio de Janiero hatte den Namen »Jane Bay« bekommen. Unbeabsichtigt hatte ich somit einen historischen Fehler korrigiert, da der erste Portugiese, der dort an Land ging, die Bucht ursprünglich für eine Flussmündung gehalten hatte.

Die Mitnahme meiner drei Damen in die Zukunft hatte aber offensichtlich keine weiteren Auswirkungen gehabt; zumindest konnte ich in diversen Ahnenlinien nichts finden. Auch spontane Entwicklungssprünge in Bezug auf den niederländischen Schiffbau im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert waren nicht festzustellen. Es war wohl tatsächlich so gewesen, dass alle drei wahrscheinlich getötet worden wären, wenn ich sie nicht gerettet hätte. Auch konnte ich nichts über eine Piratenlegende eines großen blonden Kämpfers finden, was mich doch in gewisser Weise erleichterte. Glücklicherweise wurde auch nirgends ein Forschungsreisender namens Martin von Eysenbruch erwähnt. Es fehlten ebenfalls Hinweise darauf, dass irgendwann einmal merkwürdige und offensichtlich »aus der Zukunft« stammende Raumschiffteile auf dem Meeresgrund vor einer Karibikinsel gefunden worden waren. Wahrscheinlich waren die einzelnen Teile über die Jahrhunderte von Korallen, Seeanemonen oder Ähnlichem besiedelt worden und so praktisch nicht mehr von anderen Bereichen des Meeresgrunds zu unterscheiden.

Ein Unsicherheitsfaktor blieben allerdings die im Ersten Interstellaren Krieg vernichteten Daten, aber daran konnte ich jetzt auch nichts mehr ändern.

Aber lediglich ein Mensch aus der Zukunft hatte lediglich eine Piratengruppe in der Karibik technisch leicht modernisiert und dies hatte so gravierende politische Auswirkungen gehabt! Es beruhigte mich nur leicht, dass es wenigstens den Begriff »Lateinamerika« noch gab.

Der »Schmetterlingseffekt«! Nicht ohne Grund waren Zeitreisen in die Vergangenheit strengstens untersagt… 

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