Kapitel 5
Kampflegende

1 General | 0,00812 Jahre | 4 Angreifer

Das Abwracken eines weiteren gekaperten und im Kampf schwer beschädigten spanischen Schiffes machte Fortschritte. Einige Familien des Dorfes konnten mit weiterem Hausrat und mit neuer Kleidung versorgt werden. Mit einer recht großen Anzahl erbeuteter Silber- und Goldmünzen ließ sich auch wieder vortrefflich Handel treiben und so auch Waren beschaffen, die sonst nicht verfügbar waren. Es war auch noch ausreichend Material zur Erweiterung von ein paar Hütten vorhanden – und sogar für den Bau mindestens eines weiteren Katamarans. Ich war gerade dabei, weitere Teile der Ladung des Spaniers zu entladen, da meldete mein Elektronengehirn etwas, auf das ich schon so lange gewartet hatte, nämlich ein in die Atmosphäre eintretendes Raumschiff mit Kurs auf diesen Standort.

War das mein ersehntes Rettungsteam? Etwas verunsichert wurde ich davon, dass der Transponder des Schiffs deaktiviert war. Wenn es ein Rettungsteam war, dann sollte es doch ein Interesse daran haben, dass ich wusste, wer sie waren und wie sie mich finden konnten. Sie hatten offenbar den Transponder meines Elektronengehirns angepeilt und waren auf dem Weg zu mir. Die nächste Meldung des Elektronengehirns änderte die Unsicherheit dann allerdings in einen leichten Schockzustand.

Warnung: Waffe abgefeuert! Ziel: dieser Standort.

Schon hörte ich ein mir vollkommen unbekanntes Sirren und kurz darauf den Einschlag. Irgend jemand wollte mich also nicht etwa retten, sondern feuerte statt dessen auf mich! Kurz darauf schlug die nächste abgefeuerte Ladung ein. Im Dorf brach Panik aus.

»Wir werden angegriffen! Evakuieren! Evakuieren! Lauft zu den Höhlen!«, brüllte ich.

Vor einiger Zeit hatte ich in meiner Eigenschaft als neuer Kapitän zusammen mit den Ältesten mehrere Alternativpläne zur Evakuierung des Dorfes ausgearbeitet, abhängig davon, von wo und wie wir angegriffen werden. Mit einem Luftangriff hatte ich aber – logischerweise – nicht gerechnet, so dass der berühmte »Plan B« zum Einsatz kam, der mehr oder weniger aus »weglaufen, so schnell man konnte« bestand. Wieder traf ein Einschlag und das Dach einer Hütte sackte an einer Ecke ab. Ich begann, in die entgegen gesetzte Richtung, also Richtung Meer, zu laufen.

»Du kommst nicht mit?«, fragte jemand.

Ich antwortete: »Nein, die haben es ausschließlich auf mich abgesehen!« 

Dann erfasste mein Augenimplantat das Schiff, wie es in einem großen Bogen über die Nordseite der Insel flog. Von Weitem sah es wie ein Klasse-9- oder -9A-Schiff aus, also war es eines von unseren. Es blieb aber die Frage offen, warum es auf mich feuerte. Zunächst jedoch drängte sich eine viel wichtigere Frage in den Vordergrund, denn das Elektronengehirn hatte den Waffentyp identifiziert.

Anhand akustischen Verhaltens und Art der Zerstörungen wurde mit einer fünfundneunzigprozentigen Wahrscheinlichkeit ein MBE ermittelt.

Es feuerte also jemand mit einer Waffe auf mich, die es eigentlich nicht – oder nicht mehr – geben sollte.

Ein »Molecular Bond Evaporator«, kurz MBE genannt, war meiner Ansicht nach eine ganz heimtückische Waffe. Alle Objekte, also Flüssigkeiten, Festkörper und auch Lebensformen, bestehen ja grundsätzlich aus Molekülen, die durch mehr oder weniger starke Bindungskräfte zusammen gehalten werden. Ein MBE löst nun schlagartig diese Bindungen auf, indem er einen negativen Energieimpuls aussendet, der die Bindungsenergie des getroffenen Objekts neutralisiert. Das Objekt – oder Teile davon, je nach Größe – wird dadurch in seine Grundelemente zerlegt, also bei einem Menschen beispielsweise wären das dann Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff, Eisen undsoweiter. Die Trefferstelle oder das ganze getroffene Objekt lösten sich sozusagen in Dampf auf, daher kam auch der Name. Ursprünglich für den luftleeren Raum entwickelt, hatten diese Waffen in Atmosphären aber keine allzu große Reichweite, da der Energiestoß auf seinem Weg zum Ziel die Atmosphärenmoleküle, auf die er traf, ebenfalls auftrennte und dadurch immer schwächer wurde. Auf diese Weise kam wohl auch das Sirren zustande.

Darauf baute ich jetzt und lief weiter einen schmalen Pfad vom Dorf weg. Wieder hörte ich hinter mir ein paar Einschläge, wodurch mehrere Bäume gefällt wurden und einige Vögel panisch umher flatterten.

Ich stoppte und wies das Elektronengehirn an, meinen Transponder und die Außenkommunikationskanäle sofort zu deaktivieren. Es weigerte sich aber, da das Sicherheitsprotokoll diese Befehle nicht zuließ. Wir befanden uns schließlich in einer Kampfsituation, da auf mich gefeuert wurde, also wies ich es an, das Protokoll zu umgehen. Was hierzu offiziell empfohlen wurde oder nicht, war mir gerade jetzt, ehrlich gesagt, ziemlich egal.

Diese Maßnahme zeigte augenblicklich die erhoffte Wirkung, denn das Schiff stellte nach noch zwei kurzen Salven das Feuer ein. Es flog über den Wald hinweg und setzte in Strandnähe zur Landung an. Ich war also zunächst noch einmal davon gekommen und – was fast noch viel wichtiger war – das Dorf und seine Bewohner auch. Wer immer mich auch hier suchte, würde aber nicht eher Ruhe gegeben haben, bis ich gefunden und eliminiert worden wäre. Und diejenigen waren zu allem entschlossen, sonst hätten sie nicht eine an sich illegale Waffe eingesetzt. Ich ging vorsichtig weiter Richtung Ufer.

Zwei unbekannte Personen identifiziert. Ein Mensch und ein Hybrid.

Ein Hybrid also. Noch einer.

Warum überraschte mich dies nicht wirklich? Ich war wohl doch nicht das einzige Exemplar geblieben. Hatten mich etwa alle belogen? Es war abzusehen, dass nicht irgend ein x-beliebiger Soldat gesandt worden würde, um mich ausfindig zu machen und um mich zu beseitigen, sondern jemand, der mir ebenbürtig war.

Ich erreichte den Strand und sah die beiden Soldaten mit gezogenen Waffen in meine Richtung gehen. Als sie mich erblickten, eröffneten sie sofort das Feuer auf mich. Der neben mir stehende Baum wurde getroffen und ein Stück des Stamms löste sich förmlich auf, so dass der Baum umzustürzen begann. Sie hatten also auch MBE-Handfeuerwaffen im Einsatz.

Den Taktikvorschlag des Elektronengehirn, mit dem umstürzendem Baum eine Verwundung vorzutäuschen, nahm ich gerne an. Ich fing daher mit beiden Händen den Baum auf und ging mit ihm zu Boden, kam aber neben ihm zu liegen. Durch das dichte Unterholz konnten die Soldaten aber nicht genau sehen, ob und wie ich vom Baum getroffen wurde. Auf dem Boden liegend registrierte ich, wie die beiden Soldaten langsam näher kamen.

Ich konnte auch hören, wie die Soldaten sich stritten.

»Nein! Ich kann ihn noch nicht vollständig evaporieren«, sagte der eine Soldat. »Ich muss erst seinen Datenspeicher auslesen. Weil er alle Zugriffe von außen gesperrt hat, bin ich gezwungen, eine direkte Hybrid-zu-Hybrid-Verbindung herzustellen.« 

Damit war dann auch eindeutig geklärt, welcher von beiden der Hybrid war. Der Hybrid kam näher, beugte sich über mich und plötzlich hörte ich einen Schuss, den das Elektronengehirn als aus einer Büchse angefeuert identifizierte.

Der andere Soldat sackte zusammen und Blut strömte aus einer Halswunde. Der über mich gebeugte Hybrid war von diesem Schuss ebenso überrascht worden wie ich, aber diese Gelegenheit musste ich einfach nutzen. Mit einer schnellen Rollbewegung trat ich ihm die Waffe aus der Hand. Mit einem weiteren Tritt aus dem Liegen traf ich sein Gesicht, so dass er begann, rückwärts zu torkeln. Ich rollte noch weiter zur Seite, griff seine am Boden liegende Waffe und drückte ab. Augenblicklich lösten sich sein Hals und der überwiegende Teil seines Oberkörpers auf. Der Kopf rollte davon und der Rest seines Körpers ging zu Boden. Ich hatte noch nie eine MBE-Handfeuerwaffe in Aktion erlebt; den Ruf einer heimtückischen Waffe hatte sie vollkommen zu Recht! Aus dem verstümmelten Körper tropften Blut und Hydraulikflüssigkeit heraus und sickerten in den feinen Sand.

Ich sah, wie ein kleiner Fuß den Kopf stoppte, bevor er in das Wasser rollen konnte. Überrascht schaute ich nach oben. Es war Carmen, welche die noch rauchende Büchse in ihrer rechten Hand hielt. In ihrer mittlerweile erworbenen Unerschrockenheit war sie mir gefolgt und nicht mit den anderen Dorfbewohnern zu den Höhlen gegangen. Sie war nun wirklich nicht mehr das kleine verängstigte Mädchen, las das ich sie kennengelernt hatte. Ich war mir gar nicht bewusst, dass sie so gut schießen konnte. Im Vergleich zu den Waffen aus meinem Jahrhundert war eine Büchse nämlich deutlich komplizierter zu handhaben.

»Netter Schuss!«, stellte ich fest.

Sie erwiderte: »Danke, gleichfalls!« 

Auf meine Frage, wer ihr das Schießen beigebracht hatte, antwortete sie, dass es die Gegenleistung eines Piraten für ein Kleid aus besonders feiner Seide gewesen war.

Ich musste mich sputen. Hybride haben zwar eine autarke Energieversorgung ihrer Gehirne, aber diese war nicht unbegrenzt. Da der Hybrid außerdem beschädigt war, konnte ich nicht voraussehen, wie lange ich noch Zugriff auf seine Daten haben konnte. Wenn ich seine Daten auslesen wollte, so wie er es bei mir vorhatte, musste es bald geschehen. Ich hob den Kopf auf.

Unter Umgehung sämtlicher Sicherheitsprotokolle verschaffte ich mir einen Datenzugriff auf das Elektronengehirn des anderen Hybriden. Die Protokolle waren jetzt nicht wichtig, da der andere Hybrid mich schließlich töten wollte. Ich überspielte die Daten des anderen Hybriden in einen geschützten Bereich meines Elektronengehirns, um sie später in Ruhe analysieren zu können.

»War das so eine Mensch-Maschine wie du?«, fragte Carmen.

»Ja, es gibt noch ein paar mehr von meiner Sorte.« 

Ich war erstaunt, wie viel Selbstvertrauen sie gewonnen hatte. Nun mussten wir uns allerdings weiter beeilen, denn wenn sich seit meiner Abwesenheit nichts Wesentliches verändert hatte, dann sah das übliche Protokoll der Raumflotte bei einem Außeneinsatz vor, dass unter bestimmten Umständen die Selbstzerstörung des Schiffes eingeleitet wurde. Diese Umstände waren ein Kriegseinsatz – und ich musste zunächst einmal davon ausgehen, dass es sich um einen Kriegseinsatz handelte – und dass die Besatzung nach einer festgelegten Zeit sich nicht beim Schiff zurückmeldete oder zum Schiff zurückkehrte.

Sie hatten zwar den Transponder deaktiviert, aber das Schiff durfte trotzdem genügend elektromagnetische Strahlung aussenden, um es orten zu können. Das Raumschiff wurde daher auch prompt vom Elektronengehirn eine halbe Seemeile nordöstlich lokalisiert.

Ich deutete auf die getöteten Soldaten und sagte zu Carmen: »Die holen wir nachher ab. Komm’ mit!« 

Ich entwaffnete den zweiten Soldaten und steckte mir die zweite MBE-Handfeuerwaffe in den Hosenbund. Carmen und ich gingen am Strand entlang und nach wenigen Minuten sah ich das Schiff. Sie waren an einer Stelle gelandet, an welcher der Strand etwas breiter war. Das Schiff sah zwar irgendwie bekannt aus, aber es wurden augenscheinlich einige Modifikationen vorgenommen.

Identifiziert: Klasse 9A, wurmlochfähig. Modifikationen: MBE-Kanone vorne, kastenförmiger nicht bekannter Aufbau achtern in Höhe des Atmosphärenantriebs.

Der Kasten könnte eventuell die »Zeitmaschine« sein.

Vom Elektronengehirn ließ ich mir unter Umgehung der Sicherheitsprotokolle einen Zugang zu den Schiffssystemen gewähren. Langsam wurde es zur Routine und das Elektronengehirn ließ mich auch gewähren. Ich musste aber irgendwann wieder in einen »sicheren Arbeitsmodus« kommen, damit ich nicht mich und andere gefährde.

Als erstes überprüfte ich, ob tatsächlich die Selbstzerstörung aktiviert war. Sie war es nicht, wofür es theoretisch zwei Gründe gegeben haben konnte: Erstens hatten die zwei Soldaten wohl fest damit gerechnet, mich schnellstens unschädlich machen zu können. Und zweitens folgte der Einsatz wohl nicht den üblichen Protokollen. Es war offensichtlich eine geheime Mission mit einem nach offiziellen Maßstäben illegal modifizierten Schiff. So etwas machte man nicht einfach so, das konnte nur von recht weit oben gedeckt worden sein – und irgendwoher mussten ja auch die finanziellen Mittel dafür kommen. Ich war eigentlich überhaupt kein Anhänger von Verschwörungstheorien, aber diese ganze Situation hier war ein wenig zu viel des Guten.

Langsam dämmerte mir, war hier vor sich ging: Offenbar war ich ein Versuchskaninchen für illegale Zeitreisentestflüge gewesen, ohne es gemerkt zu haben. Es war aber irgend etwas schiefgegangen, so dass man mich jetzt eliminieren wollte, damit ich nicht auspackte. Ich hatte ja immer noch die latente Angst in mir schlummern, dass ich mich nicht doch in der nächsten Sekunde in einem Paradoxon auflösen würde. Genau aus diesem Grund waren Zeitreisen ja eigentlich auch verboten worden.

Ich bemerkte, wie Carmen mit offenem Mund dastand und das Schiff anstarrte.

»Das ist ein ›Raumschiff‹, wie du es nennst?«, fragte sie.

Ich zeigte nach oben in den Himmel und antwortete: »Ja, das ist eines der Schiffe, mit denen wir zwischen den Sternen umher fliegen.« 

Die Zugangscodes, die ich im Elektronengehirn des anderen Hybriden gefunden hatte, wurden anstandslos akzeptiert. Es öffnete sich eine Luke des Schiffes und Trittstufen fuhren aus dem Rumpf heraus. Ich bat Carmen, mir zu folgen und wir betraten das Schiffsinnere.

Licht einschalten. Fensterschilde hochfahren.

Schiff antwortet: »Befehl wird ausgeführt«.

Die Innenbeleuchtung schaltete sich ein. Gleichzeitig wurden die metallenen Schutzschilde vor den Fenstern hochgefahren, so dass auch natürliches Licht in den Innenraum fiel.

»Das hat nicht mehr viel mit einem Segelschiff gemein, nicht wahr?«, sagte ich zu Carmen, die weiterhin alles mit weit aufgerissenen Augen betrachtete.

Ich deutete auf den Copilotensitz. »Setz’ dich dort hin. Und nichts anfassen, bitte!« 

Carmen setzte sich folgsam auf den Copilotensitz und ich konnte mich jetzt um wichtigere Dinge kümmern, als einem Teenager aus dem sechzehnten Jahrhundert das Cockpit eines achthundert Jahre älteren Raumschiffs erklären zu müssen. Es musste ein Missionsprotokoll geben, und genau das brauchte ich als zusätzliches Beweisstück neben den toten Soldaten. Das Schiff führte nämlich automatisch ein Logbuch, in dem alle wichtigen Sensorwerte, wie Kurs, Geschwindigkeit undsoweiter protokolliert wurden.

Logbuch sichern; eine Kopie in meinen geschützten Speicherbereich und eine Kopie in den geschützten Speicherbereich des Schiffshauptrechners.

Schiff antwortet: »Befehl wird ausgeführt«.

Ich hatte mir deswegen eine Kopie in mein Elektronengehirn abgelegt, um das Logbuch und den Speicherinhalt des anderen Hybriden in Ruhe analysieren und vergleichen zu können. Ich überprüfte einige Anzeigewerte und setzte mich neben die immer noch sprachlose Carmen in den Pilotensitz. Über das Elektronengehirn schaltete ich das Display ein.

Schiff antwortet: »Befehl wird ausgeführt«.

Diese Meldungen gingen mir jetzt aber auf die Nerven. Ich wies mein Elektronengehirn an, Meldungen vom Schiff nur dann weiterzuleiten, wenn ein Hinweis erfolgte oder wenn ein Fehler vorlag. Auf die reinen Quittierungsmeldungen konnte ich gerne verzichten.

Auf dem Frontfenster wurde jetzt das Head-Up-Display eingeblendet. Neben der Anzeige diverser Sensorenwerte zeichneten dünne grüne oder violette Linien den Uferverlauf und die neben dem Schiff stehenden Bäume nach. Carmen schaute alles aufmerksam an, gab aber weiterhin keinen Ton von sich. Ihr hatte es wohl gründlich die Sprache verschlagen. Um sie nicht vollkommen zu verwirren, ließ ich die dreidimensionale Anzeige ausgeschaltet. Ich fragte mich, wie ich wohl reagiert hätte, wenn ich urplötzlich mit achthundert Jahre älterer Technik konfrontiert gewesen wäre.

Dann hieß es »Manuelle Steuerung einschalten, Luke schließen, Triebwerke für Schwebeflug vorbereiten« und das Elektronengehirn blieb erwartungsgemäß stumm.

Carmen rief erschrocken »Huch!«, als aus den Lehnen des Pilotensitzes zwei Steuerknüppel herausfuhren. Nach allem, was bisher geschehen war, traute ich zur Zeit irgendeiner Art von Automatik überhaupt nicht mehr und steuerte lieber manuell.

Die Luke schloss sich und das Schiff begann zu schweben, was Carmen mit einem erneuten »Huch!« quittierte. Ich bewegte die Steuerknüppel leicht nach vorne und das Schiff setzte sich langsam in Bewegung. Auf dem Display wurde ein ganz leichter Wind von etwa drei Knoten von Backbord voraus angezeigt so dass der Navigationsrechner vorschlug, zum Kurs halten etwas vorzuhalten. Langsam schwebten wir an der Uferlinie entlang und nach kurzer Zeit hatten wir die Stelle erreicht, an der wir die Angreifer überwältigt hatten. Direkt neben den Soldaten und einige Seevögel aufscheuchend, die sich bereits an den Leichen zu schaffen machten, setzte ich das Schiff auf dem Sand auf.

An Bord befand sich eine kleine Kühlkammer, in der normalerweise Lebensmittel für längere Flüge gelagert wurden; dort wollte ich die toten Soldaten zwischenlagern. Ich brauchte ja halbwegs brauchbare Beweise.

Während ich die Leiche des Soldaten sowie Kopf und Körper des Hybriden in das Schiff trug, überlegte ich mir die nächsten Schritte. Ich konnte auf jeden Fall für die Dorfbewohner Entwarnung geben; die Bedrohungslage bestand ja nicht mehr. Es stand dann die unendlich viel schwierigere Entscheidung an, ob ich oder andere Personen in meine Zeitebene zurückkehren oder hier bleiben sollten. Vom rein wissenschaftlichen Standpunkt betrachtet, also vollkommen leidenschaftslos, gehörten meine drei Damen nicht oder nicht mehr in diese Zeitlinie, da alle drei eigentlich tot sein müssten. Es würde nicht absehbare Effekte in der Raum-Zeit-Kontinuität hervorrufen, wenn alle drei hier bleiben würden. Unabhängig davon sah ich das Ganze natürlich keinesfalls vollkommen leidenschaftslos. Im Gegenteil, mir war meine kleine Familie richtig ans Herz gewachsen. Sie hier einem ungewissen Schicksal überlassen zu wollen, kam nicht als Alternative in Betracht. Meine drei Damen mussten einfach mitkommen! Sie nicht mitzunehmen, würde vielleicht gerade das Raum-Zeit-Paradoxon hervorrufen, vor dem ich mich immer noch fürchtete.

Das Elektronengehirn wollte sich einmischen, aber ich ließ mir doch von einer Maschine so eine sehr persönliche Entscheidung nicht nach irgendwelchen Statistikmodellen optimiert vorgeben! So etwas entschied immer noch ich selbst – mit meinem eigenen Gehirn! Ich hatte mich zwar im Prinzip mit ihm halbwegs arrangiert, aber in manchen Situationen war ich einfach stinksauer auf mein Elektronengehirn.

Carmen hatte wohl meinen wütenden Gesichtsausdruck bemerkt und fragte, was los gewesen war.

»Wir alle haben demnächst eine sehr weitreichende Entscheidung zu treffen.« 

»Ich kann es mir denken«, stellte sie fest und überraschte mich erneut. »Wir müssen entscheiden, ob wir mit dir in diesem Schiff in die Zukunft reisen wollen oder nicht.« 

Auch aufgrund dieser Aussage war ich der Ansicht, dass sich dieses hochintelligente Mädchen sehr schnell in meiner Zeitepoche akklimatisieren würde. Daher würde sie wahrscheinlich jetzt auch nicht von einem Stück Technik aus dieser Zeit zurückschrecken. Dem Soldaten hatte ich seinen Kommunikator abgenommen, mit meinem Elektronengehirn neu kalibriert und auf seine Funktionsfähigkeit getestet. Ich gab Carmen den Kommunikator – der für sie nur wie ein seltsam geformtes Schmuckstück aussehen musste – und half ihr, diesen an ihrem linken Ohr zu befestigen.

»Damit kannst du mit mir sprechen, auch wenn du mich nicht sehen kannst«, erläuterte ich ihr das Gerät. »Außerdem kann es dir sämtliche Sprachen übersetzen.« 

Naja, »sämtlich« stimmte nicht so ganz, denn eigentlich war die Übersetzung gewisser Dialekte vom Planeten Wanaq’o noch sehr holprig, aber für Englisch, Spanisch, Niederländisch sowie alle kreolischen Mischformen dazwischen reichte es auf jeden Fall.

Ich sprach einen Satz in I’avêrésisch, was für Carmen wohl eher wie Klicken, Summen und Gurgeln geklungen haben musste. Sie schaute mich fragend an.

»Du hast nichts verstanden, nicht wahr?«, sagte ich zu ihr wieder in einer ihr verständlichen Sprache. »Jetzt drücke bitte kurz auf das Teil, bis es leise piepst.« 

Den auf I’avêrésisch gesprochenen Satz »Wir müssen zu den Höhlen gehen und können Entwarnung geben.« verstand sie dann vollständig. Der nächste Test verlief ebenfalls erfolgreich, da sie auch mit mir kommunizieren konnte, wenn ich mich außerhalb des Schiffes befand.

Ich startete das Schiff erneut und flog in Richtung der Höhlen. Der Navigationsrechner des Schiffes wurde angewiesen, einen passenden Landeplatz ungefähr in der Mitte zwischen dem Dorf und den Höhlen zu finden. Carmen blickte mit erneut weit aufgerissenen Augen aus Front- und Seitenfenstern. Mir war ja gar nicht bewusst gewesen, dass sie eine ihrer Inseln noch nie aus der Vogelperspektive hatte betrachten können. Nach wenigen Minuten erreichten wir den für geeignet befundenen Landeplatz. Ich setzte das Schiff sanft in der Mitte einer Waldlichtung auf und registrierte Carmens Enttäuschung darüber, dass der Flug schon wieder beendet war. Carmen und ich stiegen aus und wir begaben uns auf den Fußmarsch zu den Höhlen.

An den Höhlen angekommen, kam Beatrix auf uns zugerannt und schloss Carmen in ihre Arme. Marÿke folgte in kurzem Abstand und umarmte mich ebenfalls.

Beatrix flüsterte Carmen etwas ins Ohr. »Mach’ so etwas nie wieder! Versprochen?«, hörte ich über den Kommunikator.

Ich gab die offizielle Entwarnung und wir gingen gemeinsam zum Dorf zurück.

Die Aufräumarbeiten, die Reparatur der zum Glück nicht schwer beschädigten Hütten und das Ausladen des spanischen Schiffes, welches ebenfalls einen Treffer abbekommen hatte und nun langsam voll Wasser lief, zogen sich bis weit in die Nacht hinein. Erst dann und als meine drei Damen sich schlafen gelegt hatten, war ausreichend Ruhe vorhanden, um mich ausführlich um die Analyse der in mein Elektronengehirn geladenen Daten kümmern zu können.

Aus dem Schiffslogbuch konnte ich Kurs und Geschwindigkeit bis zum Start in einer bestimmten Raumbasis zurückverfolgen. An einem gewissen Zeitpunkt brach die Aufzeichnung einiger Daten ab, so lieferte zum Beispiel die Positionsbestimmung durch das so genannte »Stellar Positioning Systems«, kurz SPS genannt, keine Daten mehr. Ich konnte mir das nur so erklären, dass genau dann der Zeitsprung erfolgt sein musste. Die Gegenprobe aus im Elektronengehirn vorhandenen Beispieldaten eines Schiffslogbuchs ergab, dass bei einem Wurmlochein- und -austritt andere Daten aufgezeichnet beziehungsweise nicht aufgezeichnet worden wären. Obwohl ich das ganze Logbuch durchsucht hatte, waren doch nirgends Werte von der Zeitmaschine protokolliert worden. Auch meine erste Prüfung der Schiffssysteme, als ich die Kommandohoheit über das Schiff vom anderen Hybriden übernehmen konnte, ergab keine Hinweise, die auf eine Steuerung der Zeitmaschine durch den Schiffsrechner hingedeutet hätten. Ich musste also den Speicher des anderen Hybriden durchforsten.

Mein erster Eindruck war, dass der andere Hybrid ein furchtbar arroganter und besserwisserischer Schnösel gewesen sein musste, der sich aufgrund seiner Fähigkeiten für etwas viel Besseres gehalten hatte und auf »normale« Menschen nur herablassend reagierte. Mir dagegen war die Zurschaustellung meiner Fähigkeiten eher unangenehm und peinlich, da ich nicht jemand war, der unbedingt im Rampenlicht stehen musste. Carmens Rettung war hierbei eine den Umständen geschuldete und, wie ich hoffte, einmalige Ausnahme gewesen. Die Rettung von Marÿke und Beatrix verlief dagegen »normaler«, wenn man meine derzeitige Situation überhaupt als »normal« ansehen konnte.

Nach langem Suchen fand ich schließlich die gewünschten Daten. Es sah so aus, als dass die Zeitmaschine direkt vom Elektronengehirn des Hybriden gesteuert wurde. Dies lieferte auch die Erklärung dafür, dass nichts darüber im Schiffslogbuch aufgezeichnet worden war. Die Zeitmaschine schien auch eine offizielle Bezeichnung zu haben, nämlich »Time Manipulation Unit«, kurz TMU genannt. Suche nach Steuerung für Time Manipulation Unit.

Zum gesuchten Begriff sind keine Einträge verzeichnet.

Es war abzusehen, dass ich von mir aus nicht direkt auf die Steuerung zugreifen konnte, es musste sich also um ein Geheimprojekt gehandelt haben. Sofort meldete sich der Verschwörungstheroretiker in mir zu Wort. Sollten wir Hybride einzig und allein zu dem Zweck geschaffen worden sein, eine TMU bedienen zu können? Waren zur Bedienung derart komplexe Steuerungsbefehle notwendig, die handelsübliche Schiffsrechner mangels ausreichender »Intelligenz« nicht oder nicht schnell genug ausführen konnten, so dass dazu das Elektronengehirn eines Hybriden erforderlich war?

Zumindest eine offene Frage klärte sich nach der weiteren Datenanalyse auf: Ich war tatsächlich der erste Hybrid gewesen, der testweise auf eine Zeitreise gesandt worden war. Es war aber offenbar etwas gewaltig schief gegangen. Laut der ursprünglichen Planung sollte ich 0,00812 Jahre, also etwa drei Tage, in die Vergangenheit befördert und dann nach wenigen Minuten wieder zurückgeholt werden.

Ich hielt inne, da mir die Zahl 812 bekannt vorkam.

Und dann sah ich es: Ein Kommafehler! Sie hatten sich um den Faktor Einhunderttausend vertan!

Es war also ein simpler Kommafehler gewesen und niemand hatte etwas bemerkt. Im Projekt gab es offensichtlich niemanden, der die erfassten Daten noch einmal gegengeprüft hatte. Das Projekt war wohl darüber hinaus unter strengster Geheimhaltung durchgeführt worden – und wahrscheinlich mit sehr geringer Personalstärke –, so dass einfach niemand für diese Aufgabe vorgesehen war. Ich ging davon aus, dass auch nach dem »es wird ja schon gutgehen«-Prinzip verfahren wurde und die Daten als korrekt angesehen wurden. Unter Umständen würde also ein schwerwiegendes Zeitparadoxon durch einen trivialen Kommafehler ausgelöst werden. Mir kam der »Schmetterlingseffekt« wieder in den Sinn.

Wenn der andere Hybrid die TMU steuern konnte, so musste ich es doch ebenfalls können, da ich ja auch in der Zeit gereist war. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert. Ich versuchte, den Zugriff auf die TMU-Steuerfunktionen herzustellen.

Funktionen nicht bekannt.

Das war abzusehen. Da ich anhand der Daten des anderen Hybriden aber genau wusste, in welchem Bereich meines Elektronengehirns sich diese Funktionen befinden mussten, versuchte ich es erneut. Dieses Mal kam ich immerhin bis zu einer Zugriff nicht gestattet!-Meldung, also schien ich an der richtigen Stelle zu bohren.

Natürlich hatten »sie« es zugriffsgeschützt. Diese Tatsache verursachte in mir nur noch weiteres Unbehagen. Welche weiteren Ostereier waren wohl noch in meinem Elektronengehirn versteckt, wie zum Beispiel Funktionen, die ohne mein Wissen und Zutun ferngesteuert ausgeführt werden könnten? Der andere Hybrid hatte allerdings in seiner Arroganz die Zugangskennwörter leicht auffindbar abgelegt, so dass ich die vorhandenen Sicherungsebenen problemlos überwinden konnte. Endlich hatte ich Zugriff auf die TMU und konnte mich mit den Steuerungsfunktionen vertraut machen.

Weiteres Stöbern in meinem Elektronengehirn und der Vergleich mit dem Speicherinhalt des anderen Hybriden brachten noch weitere versteckte Bereiche zu Tage, die ich untersuchte und dann wieder mit mehreren Schutzvorkehrungen gegen unbefugte Zugriffe sperrte. Dabei kamen unter anderem so interessante Dinge, wie etwa eine so genannte »Remote-Shutdown-Funktion« zu Tage, also eine Funktion, mit der man einen Hybriden aus der Ferne unschädlich machen konnte. Das konnte wahrscheinlich der Grund für meine Ohnmacht gewesen sein, denn eigentlich konnten Hybride ja gar nicht ohnmächtig werden.

Nicht nur aus diesem Grund beschloss ich, mich erst einmal von den Update-Servern und damit von den automatischen Systemaktualisierungen abzukoppeln. Hier, achthundert Jahre in der Vergangenheit, funktionierten diese sowieso nicht. Aber sobald ich wieder in »meinem« Jahrhundert war, würden diese Aktualisierungen sofort anlaufen. Wer weiß, was mir dann womöglich untergeschoben worden wäre.

In Summe war alles mittlerweile keine Verschwörungstheorie mehr, sondern es hatte sich zu einer greifbaren Bedrohung entwickelt.

Nachdem alle mir zur Verfügung gestandenen Sicherheitsmaßnahmen ergriffen worden waren, konnte ich mich jetzt endlich auch um das Thema »Rückkehr« kümmern. Die Auswertung der Daten des anderen Hybriden zu den diversen im Projekt durchgeführten Zeitreisen-Testflügen hatte ergeben, dass die Zeitsprungfähigkeit sehr stark von der Aktivität der jeweiligen Sonne abhing. Wichtige Einflussfaktoren waren Sonnenfleckenhäufigkeit sowie Art und Stärke der Protuberanzen. Anhand der Einsatzbefehle und basierend auf der derzeitigen Sonnenaktivität ergab sich dadurch ein verbleibendes Zeitfenster von etwa drei Tagen.

Drei Tage. Ich war jetzt zum Zweckoptimismus übergegangen und aufgrund dessen hatte ich also noch volle drei Tage Zeit, die Rückkehr vorzubereiten, und musste nicht Hals über Kopf aufbrechen. Drei Tage hatte ich außerdem Zeit, um meinen drei Damen eine Entscheidung über ihr Mitkommen abzuringen. Diese drei Tage sollten auch ausreichen, um mich vollständig mit der TMU vertraut machen und diese sicher bedienen zu können. Es erwies sich in dieser Situation als sehr hilfreich, als Hybrid mit nur wenig oder gar keinem Schlaf auskommen zu können.

Mit dem ersten Tageslicht wurden die Aufräum- und Reparaturarbeiten fortgeführt. Das spanische Schiff sank am späten Vormittag auf den Grund, so dass nur noch das oberste Deck aus dem Wasser ragte. Dank der nächtlichen Arbeiten konnte aber trotzdem noch der überwiegende Teil der Ladung geborgen werden, darunter auch weitere Goldmünzen.

Natürlich hatte Carmen ihrer Freundin in dieser Nacht alles über das aufregende Raumschiff aus der Zukunft erzählt, und so wollten beide am Nachmittag das Schiff besichtigen. Ich hatte mir für diesen Tag sowieso vorgenommen, einen kompletten Check aller Systeme des Schiffes durchzuführen. Daher erklärte ich mich damit einverstanden, dass das Schiff dabei auch besichtigt werden könnte. Das Schiff hatte zwar keine gravierenden Fehler in seinen Protokolldateien aufgelistet, aber ich wollte mich trotzdem mit einem vollen Systemcheck davon selbst überzeugen. Eine zentrale Frage musste dabei auch noch zu klären sein, nämlich wie viel Energie noch vorhanden war und ob diese für einen erneuten Zeitsprung ausreichen würde. Da die beiden Soldaten auch wieder hätten in ihre Zeit zurückkehren wollen, ging ich zwar davon aus, dass ausreichend Energie vorhanden sein musste, aber auch dieses wollte ich lieber noch einmal persönlich überprüft haben.

Wir machten uns auf den Weg und dabei stelle sich heraus, dass die beiden Mädchen sofort einverstanden gewesen waren, mit mir in die Zukunft reisen zu wollen. Auch Marÿke hatte sich schon dafür entschieden. Ich musste der allgemeinen Euphorie allerdings einen leichten Dämpfer verpassen, da ich zunächst ja überprüfen musste, ob und wie der Zeitsprung überhaupt technisch möglich war. Darüber hinaus warf ich ein, dass es sehr gefährlich werden könnte. Dennoch marschierten die beiden Mädchen fröhlich lachend durch den Wald. Damit war also dieser Punkt schon geklärt und ich musste niemandem mehr die latenten Gefahren einer gravierenden Änderung der Zukunft erläutern.

»Unser Schiff ist von spanischen Soldaten versenkt worden, meine Tochter und ich sind von spanischen Soldaten entführt und missbraucht worden. Mein Ehemann und unsere gesamte Besatzung sind von spanischen Soldaten gefoltert und getötet worden. Wir sind als Sklaven an den Kapitän eines Kauffahrers verkauft worden«, sagte Marÿke. »Ich bin Gefahr gewohnt.« 

Ich nahm sie in den Arm und bestätigte ihr, dass ich sie immer beschützen würde.

Mir blieben noch etwa zwei Tage Zeit, um mich weiter mit der TMU-Steuerung vertraut machen zu können. Außerdem musste ich die Übergabe meiner Tätigkeiten als Interims-Kapitän an meinen – noch zu bestimmenden – Nachfolger vorbereiten.

Auf der Lichtung angekommen, gingen Marÿke und Beatrix mehrmals um das Schiff herum und musterten es ausgiebig von allen Seiten. Ich öffnete die Luke, die Trittstufen fuhren heraus und wir begaben uns in das Schiffsinnere. Ich erläuterte die verschiedenen Sektionen des Schiffes, die Pantry, die Nasszelle und ein paar Geräte.

Der Schiffscheck ergab keine besonderen Fehler oder Auffälligkeiten. Es war noch genügend Energie vorhanden, das Schiff war nicht beschädigt und hatte tatsächlich alle Waffenmagazine voll bestückt. Da die MBE-Kanone kein Standard-Ausrüstungsteil darstellte, war sie auch nicht im Schiffsrechner erfasst. Allerdings fand ich im Speicher des anderen Hybriden eine entsprechende Auflistung. Bis auf die MBE-Salven, die auf das Dorf und mich abgefeuert wurden, war auch hier noch ausreichend Energie (Munition im eigentlichen Sinne gab es ja nicht) vorhanden. Wie ich schon festgestellt hatte, war das Schiff außerdem ein deutlich neueres Modell als das Schiff, welches ich im Ozean versenkt hatte, so dass sich unsere Reise in die Zukunft etwas komfortabler darstellen würde.

Wesentlich schwieriger gestaltete sich dagegen die Übergabe meines Kapitänspostens. Voraussehbar wurde erheblicher Unmut darüber geäußert, dass ich gerade zu dem Zeitpunkt, an dem sich der leichte technische Vorteil gegenüber den Spaniern langsam auch in barer Münze auszuzahlen begann, die Gruppe verlassen wollte. Auch mein Argument »Wenn es am Schönsten ist, sollte man aufhören.« trug nicht unbedingt dazu bei, den Unmut zu mindern. Ich war allerdings der Ansicht, alle ausreichend in die Bedienung meiner technischen Modifikationen eingewiesen zu haben. Diese Modifikationen waren darüber hinaus auch nicht so komplex, als dass sie nicht auch von jemanden aus dem sechzehnten Jahrhundert hätte bedient und repariert werden könnten. Ich versuchte außerdem klarzustellen, dass ich als Forschungsreisender nicht allzu lange an einem Ort verweilen wollte oder konnte.

Nach doch relativ kurzer Diskussion gaben sich die anderen Piraten zähneknirschend geschlagen und der bisherige Maat wurde einstimmig zum neuen Kapitän gewählt.

Nun stand noch der Abschied von der Piratengruppe bevor. Carmen war natürlich der Liebling aller Frauen und Mädchen geworden, da sie mittlerweile das ganze Dorf mit – meiner Ansicht nach durchaus ansehnlicher – Kleidung versorgte. Es gab einige Tränen und lange Umarmungen. Die männlichen Dorfbewohner waren, wie immer, deutlich beherrschter und ich musste nur viele Hände schütteln. Alles in allem ging der Abschied aber deutlich glatter über die Bühne, als ich ursprünglich befürchtet hatte.

Anhand der aufgezeichneten Daten hatte ich in Erfahrung bringen können, dass der Zeitsprung nicht im Erdorbit, sondern in Sonnennähe vollzogen werden musste. Es waren laut der vorgefundenen Einsatzplanung ein Tag Flugzeit bis in die Nähe der Sonne, dann der Zeitsprung und danach eineinhalb weitere Tage Flugzeit bis zu einer Raumbasis im Marsorbit eingeplant worden. Das Schiff hatte tatsächlich genügend Energie für diese Manöver gespeichert, wie ich zu meiner Erleichterung feststellen konnte. Die Dorfbewohner hatten uns noch etwas Proviant mitgegeben. Ich brauchte zwar nicht viel, da ich mich jetzt ja von der Schiffsenergie »ernähren« konnte, aber meine drei Mitreisenden brauchten richtige Nahrung für die voraussichtlichen drei Tage Gesamtreisedauer.

Ich hatte die Dorfbewohner ausdrücklich darum ersucht, uns nicht zum Schiff zu folgen. Außerdem hatte ich den Abflugtermin auf den frühen Abend gelegt, so dass wir auf jeden Fall im Dunkeln starten konnten. Ich wollte nämlich auf jeden Fall vermeiden, dass irgendjemand das Schiff zu sehen bekam. Immer noch war mein erklärtes Ziel, so wenig wie möglich in die aktuellen Zeitläufe einzugreifen – was mir aber nicht unbedingt gelungen war –, um so ein Zeitparadoxon vermeiden zu können.

Mit Einsetzen der Dämmerung hatten wir das Schiff erreicht. Marÿke verstaute den Proviant in der Pantry und setzte sich dann auf meine Anweisung hin auf den Copilotensitz, die beiden Mädchen nahmen in der zweiten Sitzreihe Platz. Aus einem Fach im hinteren Teil des Schiffs hatte ich zwei Kommunikatoren geholt. Einen befestigte ich an Marÿkes Ohr und den anderen gab ich Carmen, so dass sie ihn an Beatrix’ Ohr befestigen konnte. Ich zeigte allen, wie sie sich anschnallen konnten, und setzte mich danach in den Pilotensitz.

»Dann können wir jetzt starten«, stellte ich fest. »Letzte Möglichkeit, dass jemand aussteigen kann!« 

Es ertönte daraufhin ein lauter dreistimmiger Protest; niemand wollte aussteigen.

Ich lachte und aktivierte anhand der Start-Checkliste die Flugsysteme. Die Fensterschilde fuhren wieder herunter und das Head-Up-Display wurde aktiviert, allerdings wieder nur zweidimensional. Auch im Dunkeln sah man wegen der nachgezeichneten Linien jedes Detail der Aussicht aus dem Frontfenster.

Beatrix war begeistert: »Damit kann man ja sogar im Dunkeln sehen!« 

Der Navigationsrechner wurde angewiesen, einen Kurs Richtung Osten weit auf das offene Meer hinaus zu ermitteln. Ich wollte immer noch auf jeden Fall vermeiden, dass jemand aus dem Dorf uns zu sehen bekam, und daher ließ ich die Außenscheinwerfer sowie die Positionsleuchten und die Antikollisions-Blitzleuchten ausgeschaltet. Außerdem wollte ich möglichst tief über den Baumwipfeln in Richtung Küste und dann ebenfalls möglichst tief über der Wasseroberfläche mich von der Insel entfernen. Mein Ziel war, erst weit hinter dem von der Insel aus sichtbaren Horizont in den Steigflug zu gehen.

Schiff antwortet: »Warnung: Geringer Abstand zu Vegetation und Gewässern wird nicht empfohlen!«

Zur Kenntnis genommen! Es konnten aber immer noch unliebsame Zeugen auf unserem Weg auftauchen, was meiner Ansicht nach das größere Problem war. Suche nach Schiffen auf dem Meer um die Insel herum und in Kursrichtung.

Schiff antwortet: »Drei Schiffe dreißig Seemeilen südlich, Kurs Südsüdwest. Fünf Schiffe einhundertfünfundzwanzig Seemeilen nordöstlich, Kurs Nordwest.«

Der Weg war also frei von möglichen »Zaungästen«. So konnte ich wieder die Steuerknüppel aus den Lehnen ausfahren, leicht nach oben ziehen und damit das Schiff langsam an Höhe gewinnen lassen. Ein paar Meter oberhalb der Baumwipfel angekommen, beendete ich den Steigflug und ging in den Horizontalflug über. Die in der fast sternenklaren Nacht schwach erkennbaren Umrisse der Bäume wurden jeweils durch das Head-Up-Display nachgezeichnet. In der Ferne glitzerte das Meer im Mondlicht.

»Ist das schön!«, entfuhr es Beatrix.

Ich schwenkte leicht nach Südost ab und die Anzeigen passten sich entsprechend auf den Display an. Marÿke zeigte auf eine bestimmte Displayanzeige, in der die Zahlen 80 – 90 – 100 durchliefen.

Sie fragte: »Ist das da ein Kompass?« 

»Ja«, antwortete ich. »Du siehst, in diesem Punkt hat sich zu den Schiffen in deiner Zeit nicht unbedingt viel geändert.« 

Im Bereich des Ufers angekommen, ließ ich das Schiff leicht sinken, bis wir ein paar Meter über dem Strand schwebten. Ich wies den Autopiloten an, auf Kurs Einhundertundfünf Grad knapp über der Wasseroberfläche zu gehen, und konnte die Steuerknüppel wieder in die Armlehnen zurückfahren lassen. Jetzt konnte ich es riskieren, nicht mehr manuell zu steuern.

Die Trägheitsdämpfer wurden aktiviert und ich beschleunigte stark bis knapp unter Mach 1, so dass kein Überschallknall zu hören sein konnte. In etwas mehr als fünfhundert Seemeilen Entfernung ging ich dann in den Steigflug. Der Ionenantrieb wurde auf volle Leistung geschaltet und das Schiff beschleunigte nun noch stärker, um der Erdanziehungskraft entkommen zu können. Ein Ionenantrieb würde zwar Spuren hinterlassen, aber diese würden sich im Laufe der Jahrhunderte bis unter die Nachweisbarkeitsgrenze verflüchtigt haben.

Als wir die letzte Cirruswolkenschicht durchstoßen hatten, waren die Sterne jetzt äußerst klar zu erkennen. Auf den Display wurde zu einigen dieser Lichtpunkte in einer Art Sprechblase Informationen angezeigt. In gelb wurden Sonnen markiert und die von unser Position sichtbaren Planeten Mars, Venus und Jupiter in blau. Rote oder orange Markierungen waren keine zu sehen, da diese für Weltraumschrott beziehungsweise Satelliten, Raumschiffe oder Raumstationen standen. Rund dreihundertundfünfzig Jahre vor Aufnahme der Raumfahrt war der Erdorbit, dem wir uns jetzt näherten, schön leer.

Je weiter wir uns aus der Erdanziehung lösten, desto stärker erfolgte die Kompensation durch das Schwerkraftaggregat. Ich hatte das Aggregat eingeschaltet gelassen und war somit einer Diskussion über die Schwerkraft aus dem Weg gegangen. Mit vollständigem Verlassen der Erdgravitation konnte ich den Schub ganz zurücknehmen und gleichzeitig wendete ich das Schiff um einhundertachtzig Grad. Im fast gravitationsfreien und luftleeren Raum flogen wir trotzdem weiter von der Erde weg. Ich wollte meinen Mitreisenden diesen Ausblick nicht vorenthalten. Die Erde zeigte sich als eine zu zwei Dritteln dunkelgraue und zu einem Drittel bläulich-weiße Kugel. Wir waren ja am frühen Abend gestartet und jetzt sah man deutlich die Tag-Nacht-Grenze. Carmen hatte als erste die Sprache wiedergefunden.

»Das ist die Erde?« 

Ich antwortete: »Ja. Grau ist Nacht. Blau ist Wasser und Weiß sind Wolken am Tag.« 

»Ist das schön!«, stellte Beatrix erneut fest.

Ich drehte den Bug wieder auf den ursprünglichen Kurs und brachte uns auf die vorgesehene Endgeschwindigkeit. Nach etwa zehn Minuten konnten die Triebwerke dann vollständig abgeschaltet werden.

»So, ihr dürft euch jetzt abschnallen. Wir haben jetzt etwa einen Tag Flugzeit bis zur nächsten Kurskorrektur vor uns. Ich würde empfehlen, dass wir uns alle etwas schlafen legen.« 

Dass die »nächste Kurskorrektur« den Zeitsprung darstellen würde, wollte ich noch nicht unbedingt ausplaudern. Nachdem ich ihnen gezeigt hatte, wie man die Sitzgruppen im hinteren Schiffsbereich in Schlafkojen umbauen konnte und wo sich die Bettwäsche befand, bauten die Mädchen mit Begeisterung ihre Koje. Marÿke kam auf mich zu, umarmte mich und gab mir einen langen Kuss.

»Das ist wirklich eine ganz aufregende Reise«, hauchte sie mir ins Ohr. »Ich habe meine Töchter noch nie so glücklich gesehen.« 

Sie hatte tatsächlich meine Töchter gesagt. Auch ich hatte Carmen schon vollständig in unsere neue Familie aufgenommen und sah sie mittlerweile als festen Bestandteil an.

Die beiden Mädchen waren so zuvorkommend gewesen und hatten für Marÿke und mich ebenfalls eine Koje hergerichtet. Ich überprüfte noch einmal alle Systeme, legte mich neben Marÿke in die Koje und gönnte mir dann ein paar Stunden lang einen Erholungsschlaf im Hibernationsmodus.

Am nächsten Morgen – wir hatten die Schiffszeit auf karibischer Zeit beibehalten – wurde von den Mädchen ein kleines Frühstück zubereitet und wir nahmen dieses in der Pantry ein. Das Schiff bewegte sich weiterhin auf seinem vorgegebenen Kurs Richtung Sonne. In etwa neun Stunden würde dann der kritische Teil unseres Fluges bevorstehen, nämlich der Zeitsprung. Diese neun Stunden lang verbrachten meine drei Mitreisenden damit, sich über die neuesten Entwicklungen in Technik, Kultur und Gesellschaft zu informieren. Besonders Carmen sah schon für sich ein gewisses Potential als gelernte Schneiderin, die individuelle Kleidung in ihr bekannten »klassischen« Stilen schaffen wollte. Von technischen Entwicklungen, wie Plasmalasercuttern oder auch computergesteuerten Nähmaschinen, war sie äußerst angetan. Marÿke zeigte sich erst verwundert darüber, dass keine Segelschiffe mehr zu Transportzwecken eingesetzt wurden, war dann aber erleichtert darüber, Segelschiffe entdeckt zu haben, die weiterhin im Freizeitbereich Verwendung fanden. Ich musste viele Fragen beantworten und fand dies aber durchaus in meinem Interesse, denn auf diese Weise würden meine drei Damen aus der Vergangenheit nicht völlig unvorbereitet auf eine achthundert Jahre später stattfindendes Lebensumgebung treffen müssen. Nachdem sie sich einige Stunden lang mit der Entwicklung niederländischer Geschichte und Sprache befasst hatte, bestand Marÿke zudem darauf, nicht mehr die altniederländische Schreibweise Marÿke, sondern das jetzt aktuelle Marijke zu verwenden.

So widmeten wir uns die nächsten Stunden, Vergangenheit und Zukunft miteinander zu vergleichen, bis es dann ernst wurde. Ich bat alle, sich wieder ins Cockpit zu setzen und sich anzuschnallen. Laut Flugplan war demnächst der Zeitpunkt gekommen, um den Zeitsprung durchzuführen.

Die Time Manipulation Unit wurde aktiviert und der Selbsttest ergab keine Fehler.

Bei Flügen in ein Wurmloch hinein oder aus einem heraus gab es immer eine gewisse Lichtflut. Ich wusste nicht, ob dies bei einem Zeitsprung auch der Fall sein würde, da sich die Daten vom anderen Hybriden und vom Schiff darüber ausschwiegen. Zur Sicherheit schloss ich trotzdem wieder die Schilde vor den Fenstern und somit nur lieferte jetzt noch das Head-Up-Display die Sicht nach außen. Wir bewegten uns weiter auf die berechnete Position für den Zeitsprung vor.

Kurz vor Erreichen der Position übernahm mein Elektronengehirn vollständig die Steuerung. Ich bereitete derweil meine Mitreisenden auf das bevorstehende Manöver vor.

»Gleich könnte es etwas holprig werden«, warnte ich.

Zeitsprung in drei…zwei…eins

Das Schiff beschleunigte mit einem so starken Ruck, dass dieser trotz der auf voller Leistung arbeitenden Trägheitsdämpfer spürbar war. Wie erwartet, war die – wahrscheinlich durch die »zusammengestauchte« Zeit verursachte – Lichtflut so stark, dass sich diese an den Außenseiten der an sich sehr lichtdicht schließenden Schilde als lange und gleißend helle Streifen bemerkbar machte.

Der Zeitsprung war schon nach etwas zwanzig Sekunden abgeschlossen. Wieder in der »richtigen« Zeit angekommen, aktivierten sich alle bisher dunkel gebliebenen Anzeigen des Schiffes und auch das Head-Up-Display wurde schlagartig voller und bunter. Nach Kontaktaufnahme mit dem SPS und der anschließend erfolgten Zeitaktualisierung konnte ich feststellen, dass ich genau vierhundertundfünf Tage später wieder dort angekommen, von wo ich abgereist war. Ich hatte mir einen Zeitsprung über mehrere Jahrhunderte jetzt irgendwie spektakulärer vorgestellt und war sogar ein wenig enttäuscht. Dieser Zustand hielt aber nicht lange an.

Als der Navigationsrechner – und zeitgleich mein Elektronengehirn – den Kollisionsalarm auslösten, war es schon zu spät. Trotz eines sofort eingeleiteten Ausweichmanövers kollidierte das Schiff mit einem kleinen Felsbrocken, der aber groß genug war, um noch einen Teil des Steuerbord-Triebwerks abzureißen. Das Schiff begann zu trudeln und die drei Frauen stießen spitze Schreie aus. Das tat mir jetzt wirklich leid, da ich doch Marijkes Hang zur Seekrankheit kannte. Aus einer durchtrennten Treibstoffleitung strömten Plasma und Ionen aus und bildeten einen glitzernden Schweif, der den Schlangenlinien des trudelnden Schiffs folgte. Der Schweif brach aber abrupt ab, als die Leitung vom Steuerungsrechner abgesperrt wurde und somit ein weiterer Treibstoffabfluss vermieden werden konnte. Durch den wechselweisen Einsatz der Manövrierdüsen und des noch funktionsfähigen Backbord-Triebwerks konnte das Trudeln eingedämmt und das Schiff wieder in eine einigermaßen stabile Fluglage gebracht werden. Gerade, als ich gedacht hatte, dass wir es überstanden hätten, kam schon die nächste Hiobsbotschaft.

Schiff meldet: »Hüllenbruch Steuerbord achtern steht bevor. Schotten werden geschlossen.«

Dies betraf aber dann zum Glück nur den von uns nicht benutzten Steuerbord-Lagerraum; der viel wichtigere Kühlraum auf der Backbordseite war noch intakt und zugänglich. Marijke schaute mich mit einem angsterfüllten Gesichtsausdruck an.

»Wir wurden von einem Felsbrocken getroffen«, erläuterte ich die Situation und verbreitete etwas Optimismus. »Wie ihr bemerkt habt, ist aber alles wieder im Griff.« 

Schiff meldet: »Notsignal-Aussendung automatisch aktiviert. Nächste Landemöglichkeit: Raumbasis im Venus-Orbit.«

Ich wollte zwar ursprünglich vermeiden, beim Wiedereintritt in »meine« Zeit in irgendeiner Form übertrieben auf uns aufmerksam zu machen, aber das Notsignal konnte ich jetzt nicht mehr abschalten. Da ich nicht vollständig beurteilen konnte, wie schwer die Schäden am Schiff tatsächlich waren und wie lange die Hülle noch intakt bleiben würde, setzte ich direkten Kurs auf diese Raumbasis. Gerade als sich meine drei Fluggäste wieder etwas beruhigt zu haben schienen, kam die nächste Warnmeldung. Da alle drei Kommunikatoren trugen, bekamen sie diese natürlich mit. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht und ärgerte mich im Nachhinein, die Kommunikatoren ausgegeben oder nicht direkt nach der Kollision mit dem Felsbrocken deaktiviert zu haben.

Schiff meldet: »Warnung: Abfall des Kabinendrucks!«

Der Bruch in der Außenhülle war wohl doch gravierender, als ich ursprünglich angenommen hatte. Ich zeigte meinen Mitreisenden, wie sie die Sauerstoffmasken anlegen konnten. Je mehr ich nachdachte, umso mehr dämmerte es mir, dass der gefährlichste Teil einer Zeitreise wohl der Austritt aus dem Zeitsprung sein musste, da man dort unter Umständen auf Unvorhergesehenes treffen konnte, wie eben ein Kontakt mit einem Felsbrocken. Dies würde auch erklären, warum mein erster Zeitsprung direkt auf dem Meeresgrund geendet hatte: Aufgrund des dummen Kommafehlers bei der Dateneingabe wurde die Position der Erde nicht korrekt berücksichtigt, so dass ich förmlich in sie hinein geflogen war. Ich hatte dabei allerdings einen sehr aufmerksamen Schutzengel gehabt. Wenn nämlich der Zeitsprungausgang nur wenige tausend Kilometer weiter – das war fast nichts in stellaren Dimensionen betrachtet – erfolgt wäre, dann wäre das Schiff auf der Stelle im über dreitausend Grad heißen Erdkern zerschmolzen.

Ich war also wieder einmal knapp davongekommen, aber ich wollte mir darüber jetzt keine weiteren Gedanken machen, da ich Prioritäten setzen musste. Das zweitwichtigste Problem nach dem Hüllenbruch war der immer noch stattfindende Energieverlust. Ich musste daher überflüssige Verbraucher abschalten. Die Kühlkammer kam nicht in Frage, weil ich in ihr meine Beweise transportierte. Urspünglich wollte ich zwar vermeiden, das Schwerkraftaggregat abzuschalten, aber es war jetzt aus meiner Sicht ein überflüssiger Verbraucher. Auch um unnötigen Erklärungen und Diskussionen aus dem Weg zu gehen, hatte ich eigentlich nicht vor, meine Fluggäste der Schwerelosigkeit auszusetzen, aber ich konnte jetzt nicht anders, als sie schonend darauf vorzubereiten. Vorher kam mir jedoch mein Elektronengehirn in die Quere.

Schiff meldet: »ETA Station Venus Eins in etwa zwei Stunden.«

Zwei Stunden mussten wir also in diesem Zustand noch durchhalten. Die Schätzungen der Schiffsrechner für die Aufrechterhaltung des Systembetriebs und der Lebenserhaltung ergaben, dass der Energievorrat noch ganz knapp die avisierten zwei Stunden ausreichen würde. Mit der Abschaltung der künstlichen Schwerkraft konnte ich uns daher etwas Spielraum verschaffen. Ich ließ das Elektronengehirn das Schwerkraftaggregat des Schiffs abschalten. Wir befanden uns in einer Notsituation und mussten irgendwie Energie einsparen. Ich warnte meine Mitreisenden vor, die mich dank der Kommunikatoren und der in die Sauerstoffmasken integrierten Mikrofone verstehen konnten.

»Achtung, jetzt wird alles ganz leicht!« 

Das Schwerkraftaggregat wurde ausgeschaltet und wären wir nicht an unseren Sitzen festgeschnallt gewesen, würden wir jetzt durch das Cockpit schweben. Die neben Beatrix auf der Armlehne ihres Sitzes gelegene Banane erhob sich und schwebte langsam Richtung Cockpitdecke. Beatrix schaute der Banane mit großen Augen nach, streckte ihre Hand aus und fing sie wieder ein. Carmens lange Haare standen in alle Richtungen von ihren Kopf ab und sie versuchte vergeblich, die Haare wieder aus ihrem Gesicht zu bekommen. Was die Schwerelosigkeit darüber hinaus mit Marijkes Dekolletee anstellte, war nur aufgrund der durch die Notsituation zwangsweisen Deaktivierung meines Sexualtriebs zu ertragen.

Über Funk hatte die Station zwar schon angekündigt, ein Rettungsteam schicken zu wollen, aber dieses befand sich zur Zeit nicht auf der Station, sondern war auf dem Rückflug von einem anderen Einsatz gewesen. Ob und wann sie uns rechtzeitig erreichen konnten, war daher noch völlig offen. Ich ließ daher die Schiffsrechner ein Bremsszenario ausarbeiten, so dass wir von der jetzigen Geschwindigkeit nur mit dem Backbord-Triebwerk und den Manövrierdüsen auf eine Geschwindigkeit heruntergehen konnten, welche das unfallfreie Andocken an der Station gestattete. Außerdem durfte ich die verbleibende Energie nicht zu früh verbrauchen. Vor allem aber durften wir nicht an der Raumstation vorbeifliegen oder womöglich an ihr zerschellen.

Die nächsten neunzig Minuten verbrachte das Schiff damit, in wilden Schlangenlinien heruntergebremst zu werden. Die Leitstelle der Raumstation hatte unseren Kurs großzügig freiräumen lassen, so dass wir nicht der Gefahr ausgesetzt waren, bei den ausladenden Manövern mit anderen Schiffen zu kollidieren. Mir als Hybrid machte es zwar nicht aus, aber da ich ja wusste, wie wenig »seefest« zumindest eine Mitreisende war, hatte ich die Trägheitsdämpfer nicht ausgeschaltet.

Obwohl ich als Hybrid die Zeit teilweise anders wahrnahm als ein Nicht-Hybrid, waren dies doch die längsten neunzig Minuten meines Lebens gewesen. Immer wieder ließ ich die Schiffsrechner und zur Kontrolle das Elektronengehirn Hochrechnungen anfertigen, um Geschwindigkeit, Energieverbrauch, Restenergie, Restsauerstoff und voraussichtliche Ankunftszeit zu bestimmen. Sollte die Energie nicht gereicht haben, konnte ich als letzte Möglichkeit doch die Trägheitsdämpfer ausschalten. »Spucktüten« waren laut Inventarverzeichnis des Schiffs ausreichend vorhanden.

Dann war der Zeitpunkt erreicht, an dem die Raumstation zum ersten Mal auf dem Head-Up-Display angezeigt wurde; ein Ende war also abzusehen. Das Bremsmanöver war erfolgreich gewesen und die Geschwindigkeit lag im noch tolerierbaren Rahmen. Von der Leitstelle bekamen wir eine bestimmte Andockposition zugewiesen. Ich stutzte und schaute auf den auf einem Monitor neben dem Frontfenster angezeigten Plan der Raumstation.

»Hat das Notsignal denn nicht schon alles mitgeteilt?«, brüllte ich ins Mikrofon. »Wir haben einen Hüllenbruch und verlieren Kabinendruck! Wir brauchen keinen Platz draußen, sondern drinnen!« 

Der diensthabende Flugdispatcher stammelte eine Entschuldigung und wies uns dann einen Kurs auf eine der Dockschleusen zu. Schon öffnete sich das Schleusentor; jemand hatte also doch eine richtige Entscheidung getroffen. Dank irgendwelcher Ignoranten wäre das Manöver aber auf den letzten Metern noch fast gescheitert!

Mit buchstäblich dem letzten Tropfen Treibstoff konnte ich den letzten Bremsschub geben und ich setzte das Schiff mit halb ausgefahrenen Landestützen nicht gerade weich auf dem Boden der Dockschleuse auf. Ich spürte, wie die künstliche Schwerkraft der Raumstation das Schiff auf den Boden zog und damit zusätzlich bremste. Im Heckbereich mit herunterhängenden Teilen des zerstörten Triebwerks leicht auf dem Boden schleifend und außerdem eine kleine Funkenspur von einer Landestütze hinter sich herziehend, kam das Schiff kurz vor dem inneren Schleusentor zum Stehen. Das äußere Tor schloss sich und der Druckausgleich wurde hergestellt. Nun war ich in der Lage, der Kabine wieder Außenluft zuzuführen, und wir konnten endlich die Sauerstoffmasken abnehmen.

Leicht nach Steuerbord achtern geneigt, schwebte das Schiff langsam aus der Schleuse heraus zur zugewiesenen Parkposition. Einen vom Dispatcher angebotenen Bodenschlepper hatte ich dankend abgelehnt. Mit dem letzten verbliebenen Restschub manövrierte ich das Schiff in den Stellplatz, fuhr die Landestützen voll aus und schaltete den Antrieb auf Standby-Betrieb. Über eine Außenkamera sah ich, wie jemand vom Bodenpersonal die so genannte »Nabelschnur« zur externen Energieversorgung in eine im Rumpf dafür vorgesehene Buchse steckte. Sofort wechselten einige Anzeigen von rot oder orange auf grün und das Schiff wurde wieder ausreichend mit Energie versorgt.

Meinen drei Mitreisenden half ich, die Sicherheitsgurte abzulegen, ich öffnete die Luke und wir gingen langsam in die Dockhalle hinaus. Die Mädchen schauten alles aufmerksam an. Gelbe Linien auf dem Boden wiesen den Weg zum nächsten Ausgang. Während wir uns auf den Ausgang zu bewegten, kamen uns auch schon vier Soldaten entgegen gelaufen, die anhand ihrer Uniformen eindeutig der Militärsicherheit, dem Department of Military Security, kurz DMS genannt, zuzuordnen waren. Die Soldaten hoben ihre Waffen und forderten uns auf, stehenzubleiben. Obwohl ich eigentlich verabscheute, nach den Prinzipien »Frechheit siegt« und »Ober sticht Unter« zu handeln, blieb mir nichts anderes übrig, als so zu verfahren, auch um uns heil aus dieser Situation herauszubringen.

»Schauen Sie sich anhand der Schiffsnummer den Geheimhaltungsstatus und die Prioritätseinstufung des Fluges an! Dann lassen Sie uns sofort durch und bringen uns zum Leiter der hiesigen DMS-Abteilung!«, blaffte ich den Sergeant an, der die Soldaten anführte.

Die DMS-Soldaten machten zunächst aber keine Anstalten, der Anweisung Folge zu leisten, was wohl auch mit meiner Kleidung aus dem sechzehnten Jahrhundert zu tun haben konnte.

Ich schaltete ein paar Dezibel höher: »Wird’s bald?!« 

Einer der Soldaten holte eher widerwillig einen Mobilrechner aus seiner Jackentasche und tippte darauf herum. Er nahm den Rechner und zeigte diesen dem Sergeant. Der Sergeant schaute auf den Bildschirm und wurde schlagartig vollkommen unterwürfig. Mit Salutieren und viel »Sir!«-Gestammel begleitete uns der Trupp aus der Dockhalle heraus.

»Soldaten sind doch alle gleich«, flüsterte ich Marijke ins Ohr.

Sie meinte: »Etwas, das sich auch in achthundert Jahren nicht geändert hat.« 

Frechheit siegt! Der Bluff war also gelungen. Ich hatte nämlich in den analysierten Daten nichts gefunden, was auf eine mögliche Geheimhaltungseinstufung hingedeutet hatte. Dem gegenüber war aber das gesamte Zeitreise-Projekt unter allerhöchster Geheimhaltung durchgeführt worden. Somit hatte ich vollkommen richtig vermutet, dass auch die entsprechenden Testflüge – oder in diesem Fall die mich betreffende Liquidierungsmission – als geheim eingestuft und mit entsprechender Priorisierung versehen worden waren.

Der Sergeant zeigte beim Vorbeigehen auf das beschädigte Triebwerk und bemerkte: »Da ham’se ja ganz schön ’was abbekommen, Sir!« 

»Ja, wir hatten Glück. Sergeant, sorgen Sie dafür, dass das Schiff abgeriegelt wird und sich niemand sich dem Schiff nähert – auch nicht das Wartungspersonal!«, befahl ich.

Der Sergeant nickte, bestätigte mit »Aye, aye, Sir« und drückte auf seinem Kommunikator.

Wir gingen unter dem Schutz der DMS-Soldaten durch die langen Korridore der Raumstation zum Büro des Leiters des hiesigen DMS. Im Nachhinein war ich doch froh darüber gewesen, dass wir nun auf dieser Raumstation und nicht auf einer anderen gelandet waren. Wer weiß, was uns am ursprünglichen Ziel erwartet hätte; vielleicht hätten »sie« dort uns entsprechend in Empfang genommen. Das Elektronengehirn erinnerte mich umgehend daran, dass ich ihm die Ermittlung von Alternativszenarien untersagt hatte.

In dieser Beziehung musste ich meinem Elektronengehirn tatsächlich einmal Recht geben. Vielleicht sollte ich doch öfters einmal auf mein »zweites Gewissen« hören.

Der Leiter der Sicherheit ging dann ebenfalls erst einmal auf Konfrontationskurs. Leider war sein Rang höher als meiner, so dass ich nicht wirklich etwas gegen ihn ausrichten konnte. Das war sehr ärgerlich, da die Zeit drängte, denn »sie« waren immer noch hinter uns her.

Er schrie mich an: »Es kann doch nicht einfach jeder dahergelaufene Lieutenant einen Sicherheitsvorfall der Stufe Eins ausrufen und meine ganze Station abriegeln!« 

»Doch, kann er«, sagte plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund. »Also ich kann das auf jeden Fall.« 

Der DMS-Leiter stand auf und salutierte. Ich drehte mich um. Den Mann kannte ich nur von Bildern. Seine Rangabzeichen wiesen ihn als General aus.

Identifiziert als: Oberster Befehlshaber der Militärsicherheit.

»Wir haben Sie schon erwartet, Lieutenant Fox«, sagte der General zu mir und streckte mir die Hand aus. »Schön, dass Sie wieder heil zurückgekommen sind.« 

Zum DMS-Leiter sagte er, während er meine Hand schüttelte: »Rufen Sie einen Sicherheitsvorfall der Stufe Eins aus! Niemand betritt das Schiff des Lieutenants hier! Niemand kommt in die Station rein, außer meinen Leuten! Niemand kommt aus der Station raus, außer meinen Leuten! Kein Schiff startet und alle ankommenden Schiffe werden abgewiesen! Verstanden?« 

»Betrachten Sie es als erledigt, Sir!« 

Gegenüber seinem höchsten Vorgesetzten spurte der DMS-Leiter plötzlich. Ober sticht immer Unter!

Der General nahm mich ein wenig zur Seite. Noch immer war mir nicht klar, auf welcher Seite er stand, und daher war ich noch recht misstrauisch ihm gegenüber. Wer so ein Projekt durchgezogen hatte, hatte unter Umständen auch Freunde »ganz oben«.

Er sah wohl meinen kritischen Blick – ich musste auf jeden Fall noch intensiver an meinem Pokerface arbeiten – und meinte: »Ich sehe mit Freude, dass Sie nicht getötet wurden, Lieutenant. Und Sie haben auch offenbar jemanden aus der Vergangenheit mitgebracht.« 

Bevor ich jedoch antworten wollte, musste ich erst die Vertrauenswürdigkeit des Generals überprüft haben. Mit Hilfe der Passwörter des anderen Hybriden bekam ich Zugriff auf fast alle Daten des Zeitreise-Projekts. Zumindest war der General dort nicht als Mitarbeiter oder Unterstützer des Projekts aufgeführt. Ich ließ mein Elektronengehirn noch ein wenig tiefer in den Projektunterlagen stöbern und hatte schließlich einen Erfolg zu verzeichnen. Es waren über bestimmte Gegner des Projekts Dossiers zusammengetragen worden. Auch für den obersten Befehlshaber der Militärsicherheit, den hier anwesenden General, gab es so ein Dossier.

Nach Abwägung aller Risiken kann der General als vertrauenswürdig eingestuft werden.

War der Feind meines Feindes also mein Freund, wie es immer so schön hieß? Von dieser Raumstation kamen meine Familie und ich sowieso nicht ohne fremde Hilfe weg, also musste ich jemandem vertrauen können.

»Darf ich Ihnen meine neue Familie vorstellen, Sir: Marijke, Carmen, Beatrix.« 

Der General schüttelte allen die Hand. Für meine drei Damen musste das alles ein großer Kulturschock sein. Sie nahmen es aber alles sehr gelassen, obwohl sie von der Vielfalt der Eindrücke überwältigt gewesen sein mussten. Ich teilte dem General noch weitere Informationen mit.

»Sir, da wären noch zwei Dinge«, sagte ich. »In der Kühlkammer des Schiffs sind die zwei Soldaten, die mich töten wollten; beide sind leider nicht mehr am Leben. Und im Schiffstresor befinden sich zwei MBE-Handfeuerwaffen. Die Safe-Kombination habe ich Ihnen soeben auf Ihren Kommunikator übertragen. Das Schiff selbst ist außerdem modifiziert worden: Zum einen gibt es eine MBE-Kanone und zum anderen die so genannte ›Time Manipulation Unit‹, die Zeitmaschine.« 

Der General drückte auf seinen Kommunikator und befahl: »Riegeln Sie das Schiff mit Ihren Leuten ab und organisieren Sie einen ausreichend großen Transporter, um das Schiff in unser Labor bringen zu können. Machen Sie eine Fähre fertig, um den Lieutenant von hier wegzubringen.« Er schaute Marijke an. »Und seine Familie auch. Sorgen Sie für eine sichere Unterkunft für vier Personen.« 

»Danke, Sir«, sagte ich.

Der DMS-Leiter meinte: »Wir müssen Sie als Neuankömmlinge aber alle noch auf der Medizinstation untersuchen.« 

»Und meine drei Mitreisenden hier müssen noch gegen alles Gängige geimpft werden«, ergänzte ich.

Der General wies den DMS-Leiter an, dieses zu organisieren.

»Wird nicht jemand wieder in die Vergangenheit reisen, um die Beweise zu vernichten?«, fragte Carmen, die ihre Scheu endgültig abgelegt zu haben schien.

»Unwahrscheinlich«, sagte plötzlich der DMS-Leiter.

Alle im Raum Anwesenden schauten ihn fragend an.

»Ich merke schon, dass dies alles hier der allerallerhöchsten Geheimhaltung unterliegt, auch weil es sehr ungewöhnlich ist, dass sich der allerallerhöchste Chef persönlich um die Angelegenheit kümmert.« 

Der General ermahnte ihn: »Kommen Sie zur Sache!« 

Nach der Meinung des DMS-Leiters konnte jemand nicht unbegrenzt immer wieder in die Vergangenheit zurück reisen, bis die Veränderungen wie gewünscht »passten«. Der Theorie nach war zwar eine unendliche Anzahl von Paralleluniversen auf unterschiedlichen Zeitlinien vorhanden, wobei diese sich aufgrund von Entscheidungen in immer weiteren Knoten unendlich oft verzweigten. Das Zeitkontinuum würde sich dabei aber immer nur in »Vorwärtsrichtung«, also in die Zukunft gerichtet, verzweigen. Zeitreisen in die Vergangenheit würden Rückbezüge und damit kreisförmige Strukturen der Zeitlinien verursachen. Wenn nun jemand immer wieder an die selbe Stelle und an den selben Zeitpunkt in die Vergangenheit zurück reisen würde, bildeten die Entscheidungsknoten und Zeitlinien an dieser Stelle im Zeitkontinuum ein Knäuel – und das war etwas, was man als »potenzielles Paradoxon« bezeichnen konnte. Mit jeder Reise stiege daher die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Paradoxons exponentiell an, und schon die pure Ankunft in der Vergangenheit konnte eines auslösen. Zeitreisen in die Vergangenheit waren deswegen aus guten Grund strengstens untersagt. Es war anzunehmen, dass der oder die Erbauer der Time Manipulation Unit dies gewusst und von weiteren Reisen abgeraten hätten.

»Aber sie hatten es doch versucht!«, warf ich ein.

Der DMS-Leiter fuhr mit seinen Erläuterungen fort: »Zwei, vielleicht auch drei Mal wären wohl gerade noch tolerierbar, danach wird’s kritisch, wegen des exponentiellen Anstiegs.« 

Der militärische Nutzen dieser Technologie war natürlich nicht von der Hand zu weisen. Wer weiß, vielleicht wollten gewisse Kreise ja den Zweiten Interstellaren Krieg doch noch nachträglich vollständig gewinnen wollen, statt ihn wie bisher in einem Patt mit leichtem Vorteil für uns enden zu lassen.

»Und die ganze Zeitreise-Theorie kennen Sie deswegen so genau, weil…?«, fragte der General.

»Meine kleine Schwester hat Quantenphysik studiert und ich habe sie immer vor Klausuren und Prüfungen abgefragt, Sir.« 

Der General grinste und meinte: »Was immer Sie bisher für eine Sicherheitsstufe hatten, betrachten Sie diese jetzt als drei Stufen höher.« 

»D–danke, Sir!«, stammelte der DMS-Leiter.

Ich griff eine der Kisten, die im Laderaum des spanischen Schiffs gestapelt waren, und fragte: »Und was ist mit meiner Sicherheitsstufe, Sir?« 

Ich stellte die Kiste wieder ab und schaute mich verwirrt um. Was zum…? War ich nicht gerade noch im Sicherheitsbüro einer Raumstation gewesen – und das rund achthundert Jahre später? Was war passiert? Ein Zeitsprung? Das konnte ich mir aber nicht so recht vorstellen, da man dafür doch einen erheblichen technischen Aufwand treiben musste. War ich einfach so in eine parallele Zeitlinie hinüber gewechselt? Dies war doch eigentlich gar nicht möglich, da nach den Ausführungen des DMS-Leiters eine Zeitlinie von Entscheidungsknoten zu Entscheidungsknoten linear verläuft und die verschiedenen Paralleluniversen in sich abgeschlossen waren. Wie konnte ich also in eine andere Zeitlinie wechseln? Die nächste, direkt daran anschließende Frage war aber: Warum konnte ich mich noch an alles erinnern, was in der anderen Zeitlinie vorgefallen war? Mein Elektronengehirn versuchte sich an einer Erklärung.

Das neuronale Netz des künstlichen Gehirns, welches mit dem biologischen Gehirn eines Hybriden über das Brain Computer Neuro Interface verbunden ist, arbeitet auf der Quantenebene. Parallele Universen sind auf Quantenebene miteinander verbunden, teilweise verschränkt, teilweise unabhängig voneinander.

Das würde aber bedeutet haben, dass mein Elektronengehirn gegen Zeitsprünge sozusagen »immun« war und ich daher noch alle Erinnerungen an die andere Zeitlinie behalten hatte. War das einer der Gründe, warum man das Elektronengehirn eines Hybriden genau so geschaffen hatte? Um bei Zeitreisen in die Vergangenheit die verschiedenen Entscheidungsknoten und Zeitlinien im Griff haben zu können? Ich war schon bei der Analyse der Daten des anderen Hybriden auf merkwürdige Systemfunktionen in einem an sich gesperrten Bereich seines Elektronengehirns gestoßen, deren genaue Arbeitsweise ich mir nicht hatte erklären können.

Dass ich mich jetzt in einer parallelen Zeitlinie befand, dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Jemand war erneut in der Zeit zurück gereist und wollte wahrscheinlich versuchen, mich jetzt endgültig zu eliminieren. Durch die Quantenverschränkung und da offenbar eine Gefahrensituation kurz bevorstand, war mein im Elektronengehirn vorhandenes Bewusstsein in diese Zeitlinie hinüber gewechselt.

Die Situation hier im Laderaum kam mir verdächtig bekannt vor. Beim letzten Mal trat nämlich genau zu diesem Zeitpunkt das andere Zeitschiff… 

Ich rannte an Deck des Schiffs, begann die Schiffsglocke zu läuten und rief: »Evakuieren! Evakuieren! Lauft zu den Höhlen!« 

»Der Ausguck hat aber garnix gemeldet«, sagte jemand.

Ich brüllte: »Macht es einfach! Evakuieren!« 

Als ich an Land sprang, kam mir Carmen entgegen gelaufen. In diesem Moment begann auch die Evakuierungsglocke des Dorfes zu läuten.

»Was ist los?«, rief sie gegen das Läuten an.

»Hol’ Marÿke und Beatrix und laufe mit den anderen zu den Höhlen!« 

»Du kommst nicht mit?« 

»Nein, die haben es ausschließlich auf mich abgesehen! Geh’ mit den anderen!« 

Mir kam dieser Dialog irgendwie bekannt vor, man konnte es auch als ein »Deja-vu« bezeichnen. Ich war in einer parallelen Zeitlinie gelandet, die viele Gemeinsamkeiten zum vor nicht allzu langer Zeit Erlebten aufwies.

Carmen nickte zustimmend. Eine von Carmens wundervollsten Eigenschaften war, dass man mit ihr nicht lange über etwas diskutieren musste. Ob das nun daran lag, dass sie homosexuell und daher keine »typische« Frau war, konnte und wollte ich hier jetzt nicht mit ihr erörtern. Carmen lief los und da registrierte mein Elektronengehirn auch schon das Schiff, welches in die Atmosphäre eintrat.

Dieses Mal aber war ich vorbereitet! Die Dorfbewohner hatten sich in Sicherheit gebracht und ich konnte das Schiff zusätzlich weit vom Dorf weglocken. Außerdem besaß ich sämtliche das Schiff betreffende Zugriffscodes. Ein kurzer Test, nämlich der Zugriff auf unkritische und nicht protokollierte Systeme, war erfolgreich. Deja-vu! Sie waren entweder unglaublich arrogant oder hatten sich wahrscheinlich nicht im Geringsten vorstellen können, dass ich als einer der ersten Hybriden – beziehungsweise mein Elektronengehirn – fast schon zu gut auf Quantenebene arbeiten und die verschiedenen Zeitlinien tatsächlich im Griff haben würde.

Wieder lief ich den schmalen Pfad vom Dorf weg und kurz darauf hörte ich die ersten Schüsse aus der MBE-Kanone. Dieses Mal allerdings schlugen die ersten Salven weit entfernt vom Dorf ein und richteten keinen nennenswerten Schaden an, von ein paar umgestürzten Bäumen abgesehen. Da das Schiff jetzt ausreichend weit vom Dorf entfernt war, konnte ich das Kommando übernehmen. Bei der Datenanalyse des anderen Hybriden hatte ich eine Fernsteuerfunktion für sein Elektronengehirn entdeckt. Ich ging davon aus, dass sie diese Funktion auch bei mir verwendet hatten, als ich mit meinem Schiff den Zeitsprung vollzogen hatte. Der andere Hybrid war jetzt in Sendereichweite, ich konnte mir also Zugriff auf ihn verschaffen und die Fernsteuerfunktion aktivieren.

So brachte ich den anderen Hybriden tatsächlich dazu, seinen Copiloten zu fesseln und zu knebeln. Anschließend ließ ich ihn das Schiff am Strand landen, mir die vollständige Schiffskontrolle übertragen und sich dann selbst vorübergehend deaktivieren. Das Ganze ging erfreulich reibungslos über die Bühne. Vorsichtig näherte ich mich dem Schiff – ich war ja schließlich nur mit einem langen Messer bewaffnet –, das meldete das Elektronengehirn eine »Bewegung auf fünf Uhr«.

Ich drehte mich um und sah Carmen auf mich zukommen, eine geladene Büchse in ihrer Hand. Diese Situation war mir ebenfalls nicht unbekannt. Deja-vu Nummer drei. Auch in dieser Zeitlinie verhielt sie sich jetzt ebenfalls sehr unerschrocken.

»Das ist dein Raumschiff?«, fragte sie.

Ich zeigte nach oben und antwortete: »Nicht direkt, mein Schiff ist ja im Meer versunken. Aber das ist eines der Schiffe, mit denen wir zwischen den Sternen umher fliegen.« 

Diesen Dialog verbuchte ich als Deja-vu Nummer vier.

Ich wies das Schiff an, die Außenluke zu öffnen, tauschte mit Carmen die Waffen und betrat vorsichtig das Schiff. Der Copilot saß tatsächlich gefesselt und geknebelt auf seinem Sitz und warf mir einen finsteren Blick zu. Wenn Blicke töten könnten… Neben ihm war der andere Hybrid zusammengesunken und ich registrierte bei ihm nur eine recht flache Atmung. Ich hob ihn auf und setzte ihn in die hinterste der drei Sitzreihen. Mittels der Fernsteuerung versetzte ich ihn in einen dauerhaften Hibernationsmodus. Ich nahm ihm seine MBE-Handfeuerwaffe ab und bat Carmen, dies ebenfalls beim Copiloten zu tun. Der Hybrid war recht einfach ruhig zu stellen gewesen, aber wie sollte ich das beim Copiloten machen? Töten wollte ich ihn ja nicht.

Vorschlag: Langfrist-Narkotikum und intravenös ernähren.

Vorschlag akzeptiert! Ich ging zu Carmen, nahm ihr zur Sicherheit das Messer und die MBE-Handfeuerwaffe ab und sagte ihr, dass sie die Fesseln des Copiloten lösen sollte. Gleichzeitig hielt ich ihn mit den beiden MBE-Handfeuerwaffen in Schach.

»Ich bin auch ein Hybrid, wie du wissen solltest«, meinte ich. »Also versuche gar nicht erst irgend etwas – ich bin sowieso schneller also du. Du setzt dich da hinten neben den anderen Hybriden!« 

Carmen löste seine Fesseln, der Copilot stand auf, ging langsam die wenigen Schritte zur hintersten Sitzreihe und setzte sich wieder hin. Das Mädchen fesselte ihn gründlich, so dass er sich kaum noch bewegen konnte. Ich steckte eine Waffe in meinen Hosenbund und gab Carmen die andere Waffe zurück, damit sie ihn bewachen konnte.

Aus der Schiffsinventarliste ermittelte ich den Lagerort der benötigten Medikamente. Ich lud eine Impfpistole mit dem Narkotikum und da man in der Schwerelosigkeit keinen Tropf verwenden konnte, nahm ich noch eine so genannte »Intravenös-Pumpe« für die Nährlösung aus dem Schrank.

Ich löste den Knebel des Copiloten und sofort begann dieser, hasserfüllt herumzubrüllen.

»Wir werden es nochmal versuchen und dich dann eliminieren! Und wenn nicht, dann nochmal und nochmal und…« 

»Ganz schlechte Entscheidung«, unterbrach ich ihn und lieferte den Grund gleich nach: »Damit steigt das Risiko eines Raum-Zeit-Paradoxons exponentiell an.« 

Gleichzeitig spritzte ich ihm das Narkotikum, er sackte augenblicklich in sich zusammen und war wieder ruhig. Ob wohl alle Projektbeteiligten gleichermaßen arrogant waren? Ich krempelte seinen rechten Ärmel hoch, legte einen intravenösen Zugang und schloss die Pumpe an. Endlich waren beide ruhig gestellt und ich konnte mich um Carmen kümmern. Es war immer wieder erstaunlich, wie gefasst sie alles aufnahm.

Sie hatte ihre Sprache wiedergefunden und stellte fest: »Das waren jetzt nicht unbedingt Freunde von dir, oder?« 

»Nicht wirklich«, musste ich zugestehen.

Wiederum nahm ich dem Copiloten seinen Kommunikator ab und befestigte ihn an Carmens Ohr. Das war jetzt Deja-vu Nummer … ich hatte aufgehört zu zählen. Etwas war aber anders in dieser Zeitlinie: Die beiden Attentäter waren noch am Leben. Lebende Beweismittel zu haben, war natürlich für mich erheblich vorteilhafter. Ein weiterer Vorteil war, dass ich nun die Einlernphase in die Steuerung des TMU überspringen konnte. Ein kritischer Punkt blieb aber auch in dieser Zeitlinie bestehen, nämlich ob sich meine drei Damen dafür entscheiden konnten, mit mir in die Zukunft reisen zu wollen. Auch ein adäquater Nachfolger für die Leitung der Piratengruppe musste noch gefunden werden.

Erneut setzte ich mich auf den Pilotensitz und Carmen nahm neben mir Platz. Das Schiff landete ich wieder auf der selben Lichtung zwischen den Höhlen und dem Dorf. Nachdem ich die Entwarnung gegeben hatte, gingen alle wieder zum Dorf zurück. Beatrix kam auf uns zugerannt und schloss Carmen in ihre Arme. Marÿke folgte in kurzem Abstand und umarmte mich ebenfalls.

»Mach’ so etwas nie wieder! Versprochen?«, hörte ich Beatrix Carmen über den Kommunikator ins Ohr flüstern.

Langsam gewöhnte ich mich an die schon einmal erlebten Dinge. Ich zog eine Zwischenbilanz, und diese Zeitlinie hatte die Nase eindeutig vorn. Es gab (noch) keine Toten und Verletzten, es gab keine Sachschäden am Dorf oder an den Schiffen und ich besaß jetzt zwei lebende und nicht zwei tote »Beweise«. Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt hatte die erneute Zeitreise aus Sicht derjenigen, die mich beseitigen wollten, genau das Gegenteil dessen bewirkt, was sie eigentlich bezwecken wollten. Dank eines ausreichend großen Zeitfensters für den erneuten Zeitsprung in die Zukunft konnte ich jetzt den Zeitpunkt der Wiedereintrittsphase ins vierundzwanzigste Jahrhundert so verschieben, dass wir dieses Mal den Felsbrocken in ausreichendem Abstand passieren konnten; auch in dieser Beziehung war ich in dieser Zeitlinie etwas besser aufgestellt.

Als dringend notwendige Sicherheitsmaßnahme ließ ich mein Elektronengehirn eine Überwachungsfunktion für potenzielle Zeitsprünge einrichten. Wenn sich die Zeit abrupt ändern sollte, wenn das SPS verschwunden und plötzlich wieder vorhanden sein sollte, wenn ein globaler Zeitdienst verschwunden und plötzlich wieder vorhanden sein sollte, wenn sich der Sonnenstand oder die Sternenkonstellation abrupt ändern sollten, dann würde ich sofort darüber in Kenntnis gesetzt werden. Noch so eine unliebsame Überraschung, wie zum Beispiel sich von einer Sekunde auf die andere in einem spanischen Schiff achthundert Jahre in der Vergangenheit wiederzufinden, wollte ich auf keinen Fall mehr unvorbereitet erleben.

Die Wahl meines Nachfolgers verlief relativ unkompliziert, auch weil mir aus der anderen Zeitlinie noch einige Argumente in der Diskussion bekannt gewesen waren. Der Abschied fiel mir dagegen wieder sehr schwer, hatte ich doch diese Piratengruppe in mein Herz geschlossen. Eine weitere Parallelität zur anderen Zeitlinie war, dass sich auch hier meine drei Damen einstimmig dafür entschieden hatten, zusammen mit mir in die Zukunft zu kommen.

Etwas Proviant tragend, machten wir uns dann auf den Weg zum Raumschiff. Erneut hatte ich allen eingeschärft, uns nicht zu folgen. Auch jetzt hatte Carmen ihrer Freundin alles über das aufregende Schiff aus der Zukunft erzählt. Beatrix war ebenfalls sehr gespannt darauf, das Schiff persönlich in Augenschein nehmen zu können.

Als ich die Luke öffnete und wir das Schiff betraten, erschraken Marÿke und Beatrix erst einmal, als sie die zwei auf der hintersten Sitzreihe festgebundenen Gefangenen sahen. Ich konnte die beiden Niederländerinnen aber schnell wieder beruhigen und ihnen versichern, dass von beiden Gefangenen keine Gefahr ausgehen könnte.

Für diesen zweiten Versuch hatte ich den Kurs des Schiffs etwas verändert. Einerseits wollte ich noch eine »Ehrenrunde« im Erdorbit fliegen, um dem Schiff noch mehr Geschwindigkeit verpassen zu können. Hiermit wollte ich die entscheidenden Minuten herausholen, um nicht wieder mit dem Felsbrocken kollidieren zu müssen und ein wenig Energie zu sparen. Andererseits hatte ich einen direkten Kurs auf die Venus-Raumstation gelegt, um dem General schneller begegnen zu können, wobei ich hoffte, dass er sich auch in dieser Zeitlinie dort schnell einfinden wird. Da ich dieses Mal nicht beabsichtigte, mit dem Felsbrocken zu kollidieren, würde darüber hinaus auch das Schiff intakt bleiben und dadurch das Bremsmanöver bis zur Station nicht so kritisch verlaufen. Ich bevorzugte eigentlich die Prämisse »Optimismus ist der Mangel an Informationen«, aber nun hatte ich ja genügend Informationen und konnte somit etwas zuversichtlicher in die Zukunft blicken. Dennoch begab ich mich zum Waffentresor des Schiffs, verstaute die MBE-Waffen und suchte mir für alle Fälle eine konventionelle Handfeuerwaffe heraus.

Marÿke und Beatrix waren auch in dieser Zeitlinie begeistert von dem Schiff aus der Zukunft. Ich startete das Schiff und flog auf dem gleichen Kurs über das offene Meer, wobei ich zu den anderen Schiffen ebenfalls wieder einen ausreichenden Sicherheitsabstand hielt. Dieses Mal war die Wolkendecke etwas dichter, und meine drei Damen bekamen dadurch die Gelegenheit, auch einmal das Innere von Wolken betrachten zu können. Zu ihrer allgemeinen Enttäuschung war aber kein wirklicher Unterschied zu Nebel festzustellen; alle hatten sich hier etwas Spektakuläreres vorgestellt. Von der Aussicht auf die Erde auf der »Ehrenrunde« waren dagegen alle sehr begeistert. Der Zeitsprung selbst sowie der Wiedereintritt verliefen reibungslos und wir passierten den Felsbrocken, der uns soviel Kummer bereitet hatte, im sicheren Abstand von einigen Seemeilen Entfernung.

Sofort nahm ich Kontakt mit dem Befehlshaber des DMS auf und verlieh der Kontaktaufnahme etwas mehr Nachdruck, indem ich der Nachricht das Dossier aus dem Zeitreisen-Projekt beilegte. Auf diese Weise erhielt ich sehr schnell eine Antwort und es wurde uns ein Schiff des DMS entgegen gesandt, um uns zur Raumstation zu eskortieren. Nachdem wir, ohne angegriffen worden zu sein, im Raumdock angekommen waren, wurde unser Landeplatz sofort von einer DMS-Einheit umstellt. Ich öffnete die Luke und der General persönlich kam mit einem Trupp Soldaten an Bord. Ein DMS-Soldat entfernte den intravenösen Zugang aus dem Arm des Copiloten und ich spritzte ein Aufwachmittel. Der Soldat löste die Fesseln und ein anderer stand schon mit Handschellen bereit. Der Copilot kam wieder zu sich und begann sofort wieder dort, wo er aufgehört hatte.

»Wir haben Freunde ganz weit oben! Und die werden…« 

»Sie haben das Recht, zu schweigen«, wurde er vom General unterbrochen. »Davon würde ich ab jetzt an Ihrer Stelle auch Gebrauch machen!« 

Der Copilot hatte ein Einsehen, dass sich die DMS-Soldaten in der Überzahl befanden, und gab seinen verbalen wie physischen Widerstand auf. Die Handschellen klickten und er wurde von zwei Soldaten abgeführt.

Etwas schwieriger gestaltete sich dies beim anderen Hybriden. Ich wollte ihn nämlich auf keinen Fall »aufwecken«, da ich darin ein zu großes Risiko sah, vor allem wegen weiterer »Ostereier« oder auch schon alleine wegen seiner physischen Stärke. Da Hybride in derartigen Situationen auf eine Art »Verteidigungsnotmodus« umschalten konnten, war eine latente Gefahr für Leib und Leben der anderen Anwesenden vorhanden. Zusammen mit zwei DMS-Soldaten lud ich daher den immer noch deaktivierten Hybriden auf eine Schwebetrage, auf dieser er sofort mit mehreren Gurten fixiert wurde. Das DMS wollte ihn zu einem geheimen Stützpunkt transportieren und dort unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen technisch analysieren beziehungsweise auch vernehmen. Falls dies zu keinem Ergebnis geführt hätte, hatte ich auch in dieser Zeitlinie von seinem Elektronengehirnspeicher eine Kopie angefertigt. Das nächste Deja-vu ließ dann nicht lange auf sich warten.

Der General meinte: »Wir müssen Sie als Neuankömmlinge aber alle noch auf der Medizinstation untersuchen.« 

»Und meine drei Mitreisenden hier müssen außerdem gegen alles Gängige geimpft werden«, ergänzte ich.

Als wir uns, geschützt von einer Eskorte aus DMS-Soldaten, durch einen langen Korridor in Richtung der Medizinstation bewegten, fiel mir auf, dass diese Eindrücke neu waren – im Gegensatz zum gerade erlebten Deja-vu. Ich war also offenbar an dem Zeitpunkt angelangt, an dem ich in der anderen Zeitlinie den Zeitsprung zurück in die Vergangenheit vollzogen haben musste. Nun rechnete ich jeden Augenblick damit, wieder ins sechzehnte Jahrhundert hinüberzuwechseln.

Marijke erschrak heftig und klammerte sich fest an meinen Arm, als uns ein in eine DMS-Uniform gekleideter I’avêrése, zu erkennen an seinem charakteristischen Echsenkopf, entgegen kam. Den Rangabzeichen nach war er in dem Rang eines Sergeant. Den früheren Feind in unsere Reihen integriert zu sehen, war auch für mich noch ein ungewohnter Anblick.

»Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Ma’am«, sagte der I’avêrése, was Marijke über ihren Kommunikator übersetzt wurde. »Folgen Sie mir bitte zur Medizinstation.« 

Die Untersuchung auf mögliche Krankheitserreger ergab zum Glück einen negativen Befund, so dass wir uns nicht in die Quarantäne begeben mussten. Die diensthabende Ärztin beschwerte sich darüber, dass wir uns nicht unmittelbar nach unser Ankunft auf der Raumstation dieser Untersuchung unterzogen hätten. Sie wurde aber von einem der uns begleitenden DMS-Soldaten darauf hingewiesen, dass es sich um einen Sondereinsatz des DMS unter höchster Geheimhaltung gehandelt hätte. Die Ärztin nahm dies murrend zur Kenntnis und beruhigte sich erst wieder, als sie beim Impfen Carmens Kleid berührte.

»Das ist aber ein wunderschöner Naturstoff«, meinte sie zu Carmen. »Wo gibt es denn so etwas zu kaufen?« 

Carmen antwortete wahrheitsgemäß: »Den Stoff habe ich von einem Händler und das Kleid habe ich selbst geschneidert.« 

Bevor die Ärztin noch weiter nachhaken konnte, unterbrach ich das Gespräch.

»Senden Sie ihr Ihre Kontaktdaten auf ihren Kommunikator. Sie meldet sich dann wieder bei Ihnen«, sagte ich zur Ärztin.

Carmen schaute mich fragend an. Wir wollten nicht gleich bei der erstbesten Gelegenheit die Geheimhaltung brechen. Nicht jeder sollte mitbekommen, dass ich drei Personen aus der Vergangenheit mitgebracht hatte. Ich war erleichtert, als mir auch noch einer der DMS-Soldaten zu Hilfe kam.

»Könnten Sie sich bitte beeilen? Wir haben keine Zeit!«, sagte dieser.

Die Ärztin kümmerte sich dann lieber um die anderen Impfungen und sprach das Thema »Kleidung« nicht mehr an. Dennoch verbrachte sie meiner Ansicht nach viel zu viel Zeit damit, auch Beatrix’ und Marijkes Kleidung zu befühlen. Glücklicherweise konnte mein Elektronengehirn auch Nachrichten direkt an Kommunikatoren versenden. Sende Nachricht an Carmen.

Nachricht »Hier spricht Martin: Sage zur Frau mit dem weißen langen Gewand: ›Wir werden uns auf jeden Fall bei Ihnen melden.‹« gesendet.

Carmen schaute mich wieder erstaunt an und drehte sich dann zur Ärztin um.

»Wir werden uns auf jeden Fall bei Ihnen melden.« 

Die Ärztin erwiderte: »Vielen Dank, das wäre sehr schön.« 

Nacheinander wurden meinen drei Damen aus der Vergangenheit verschiedene Impfstoffe und ein spezielles Vitamin-Spurenelemente-Aufbaupräparat injiziert. Ich wiederholte noch einmal, dass alles der strengsten Geheimhaltung unterlag und dass wir eigentlich gar nicht hier gewesen waren.

Dann geschah etwas, was ich insgeheim schon lange befürchtet hatte: Die von mir im Elektronengehirn eingerichtete Zeitsprung-Überwachungsfunktion schlug Alarm und schon befand ich mich an einem anderen Ort.

Die Gegenpartei hatte es tatsächlich noch einmal versucht, trotz der drohenden Gefahr eines Paradoxons.

Dieses Mal gingen sie aber etwas risikobewusster vor und waren nicht gleich wieder in das sechzehnte Jahrhundert zurückgesprungen, sondern lediglich ein paar Minuten – und ich blieb auf der Raumstation. Wie das geschehen konnte, da man für Zeitsprünge ja eigentlich ein speziell ausgerüstetes Raumschiff und eine bestimmte Sonnenfleckenaktivität benötigte, konnte ich mir jetzt nicht wirklich erklären. Auch in den sich mir im Zugriff befindlichen Unterlagen des Zeitreise-Projekts fanden sich darüber keine Informationen. Sogar das allwissende Elektronengehirn war mit seinem Latein am Ende. Vielleicht brauchte man für so kurze Zeitsprünge nur deutlich kleinere Gerätschaften und war nicht von der Sonne abhängig. Wenn solche Geräte tatsächlich existieren sollten, dann waren meine Gegenspieler aber noch gefährlicher, als ich ursprünglich vermutet hatte.

Wir befanden uns also erneut auf dem Weg zur Medizinstation. Kurz nachdem wir den Behandlungsraum betreten hatten, meldete sich das Elektronengehirn mit einer weiteren Warnmeldung.

Warnung: Schuss abgefeuert! Identifiziert: MBE.

Noch eine MBE-Waffe! Ich hörte vor der Tür auf dem Korridor einen schwachen Schrei und gleich darauf etwas zu Boden fallen. Fast zeitgleich zogen der I’avêrése und ich unsere Waffen. Er hatte wohl mit seinen großen Ohren die Geräusche ebenfalls wahrgenommen.

»Alle in Deckung!«, rief ich.

Beatrix, Marijke, die Ärztin und die Krankenschwester brachten sich hinter einem halbhohen Schrank in Sicherheit. Carmen blieb natürlich bei mir stehen und wollte wieder einmal mitkämpfen. Der I’avêrése, ein weiterer DMS-Soldat und ich nahmen neben der Tür Aufstellung. Das Elektronengehirn war meine Augen und Ohren nach draußen und registrierte vier Personen im Korridor direkt vor der Tür.

»Haben Sie eine Zweitwaffe?«, fragte ich den I’avêrésen. »Ich weiß, dass ihr alle Zweitwaffen habt.« 

Er nickte, griff in seinen rechten Kampfstiefel und holte eine kleine Waffe heraus. Ich gab Carmen, die sich zu uns gestellt hatte, meine Waffe und nahm die I’avêrésische Waffe in die Hand. Man durfte sich von der Größe nicht täuschen lassen; diese, auf Railgun-Technologie basierenden, Waffen waren zwar sehr klein, aber auch sehr wirkungsvoll.

»Das war eine MBE-Waffe«, meinte ich leise. »Das konnten nur ›sie‹ sein. Vier Angreifer draußen vor der Tür.« 

Der I’avêrése nickte leicht und drückte auf seinen Kommunikator, um Verstärkung anzufordern. In diesem Moment registrierte mein Elektronengehirn einen weiteren Schuss aus einer MBE-Waffe und fast die gesamte Tür zur Medizinstation löste sich in Rauch auf. Der erste in den Raum hereinschauende Soldat wurde vom I’avêrésen mit einem einzigen Schuss kampfunfähig gemacht.

»Einer erledigt, drei übrig«, sagte ich leise.

Wo aber blieb die Verstärkung?

ETA: Zwei Minuten.

Der nächste Schuss aus der MBE-Waffe riss ein großes Loch in die Wand neben der Tür und löste einen Teil des davor stehenden DMS-Soldaten gleich mit auf, so dass dieser schreiend und blutend zusammenbrach.

»Nochmal MBE?«, fragte der I’avêrése.

Ich antwortete: »Ja. Schon einmal einen live in Aktion gesehen?« 

»Nein. Ihr scheint aber mächtige Feinde zu haben.« 

Plötzlich gab Carmen einen Schuss in das Loch in der Wand ab und ein Körper fiel tödlich getroffen in den Raum hinein. Der I’avêrése grunzte anerkennend.

»Zwei erledigt, zwei übrig«, sagte ich leise.

Ich einigte mich mit dem I’avêrésen, auf Drei zu zählen und dann mit Dauerfeuer durch die Tür zu gehen. Carmen sollte uns vorsichtig folgen, aber möglichst nicht auf uns schießen.

Sie zog eine Grimasse und sagte trotzig: »Ich bin doch kein kleines Kind mehr.« 

Womit sie sogar Recht haben konnte. Ich zählte leise auf Drei und wir gingen zum Angriff über. Ich erledigte den ersten Soldaten sofort und Carmen wenig später den zweiten, wobei sie genau zwischen mir und dem I’avêrésen hindurch schoss. In diesem Moment kam auch schon ein Trupp DMS-Soldaten um eine Korridorecke gelaufen, im Schlepptau den General. Ich hob die Hände und gab Entwarnung.

»Das ist ja gerade noch einmal gut gegangen«, stellte der General fest. »Kommen Sie, die Fähre wartet schon. Wir müssen Sie hier schleunigst wegbringen!« 

Ich gab dem I’avêrésen seine Zweitwaffe zurück. Dann tat dieser etwas völlig Unerwartetes. Er salutierte und beugte sich zu der viel kleineren Carmen herunter.

»Es war mit eine Ehre, mit Ihnen gekämpft zu haben, junge Lady!«, wurde ihr vom Kommunikator übersetzt.

Carmen wurde leicht rot im Gesicht und stammelte ein verlegenes und kaum hörbares »Dankeschön«. In der Zeit, die wir bei den Piraten verbracht hatten, war sie tatsächlich zu einer unerschrockenen Kämpferin geworden, so dass sie jetzt sogar einen I’avêrésischen Soldaten beeindrucken konnte. Ab jetzt würde die an Kampflegenden reiche I’avêrésische Kriegerkaste eine weitere Legende haben: Die Legende vom kleinen Menschenmädchen, das furchtlos Seite an Seite mit einem I’avêrésischen Krieger gekämpft – und gesiegt – hatte. Ich war ja im Prinzip schon als Piratenlegende in die Geschichte eingegangen und nun war eben Carmen an der Reihe, eine Legende zu werden.

Der General drückte auf seinen Kommunikator und befahl: »Verhängen Sie über die ganze Station eine Ausgangssperre!« 

Wenig später hallte durch die Korridore ein Warnton und an allen Türen wechselte die Farbe der Kontrollpanels von grün auf rot. Anschließend folgte eine Durchsage, dass die Ausgangssperre in Kraft getreten war. Wir betraten erneut den Medizinbereich durch die zerstörte Tür. Ich sah, wie sich Ärztin und Krankenschwester um den schwer verletzten Soldaten kümmerten, wobei sie von Marijke assistiert wurden. Beatrix machte wieder einen sehr verärgerten Eindruck. Carmen ging auf sie zu und umarmte sie.

»Das war das letzte, das allerletzte Mal, dass du unbedingt mitkämpfen musstest, du kleine Kampfheldin!«, fauchte sie Carmen an.

Der General beugte sich über den schwer verletzten DMS-Soldaten. Die Ärztin schaute den General an und schüttelte den Kopf. Bisher war in dieser Zeitlinie alles gut gegangen, aber dieser Soldat war nun das erste schwere Opfer auf »unserer« Seite. Immerhin hatten wir dagegen vier von »ihrer« Seite erwischt; aber wir waren ja nicht im Krieg, in dem man die Verluste gegeneinander aufrechnete – oder etwa doch?

Mittlerweile hatten andere DMS-Soldaten die auf dem Korridor getöteten Angreifer in Leichensäcke verpackt. Die Ärztin hatte ihre Untersuchung abgeschlossen und mitgeteilt, dass der von der MBE-Waffe getroffene DMS-Soldat lebensbedrohliche innere Verletzungen erlitten hatte (beziehungsweise waren es eigentlich keine »klassischen« Verletzungen, sondern es fehlte ein Teil von ihm) und somit die nächste Stunde nicht überleben würde.

»Hier ist ein plastisches Beispiel dafür, warum MBE-Waffen auf der schwarzen Liste ganz vorne stehen!«, meinte der General.

Ich stimmte den General zwar im Großen und Ganzen zu, aber als ob jetzt andere Waffen irgendwie »humaner« wären… 

Ein weiterer DMS-Soldat kam aus dem Korridor in den Medizinbereich hinein und meldete, dass die Fähre jetzt bereit stehen würde. Gerade als ich aufbrechen wollte, meldete sich mein Elektronengehirn.

Warnung: Versuchter Zugriff von außen!

Versuchter Zugriff von außen? Über ein Funknetzwerk? Quelle bestimmen!

Quelle des Zugriffs: Ein Hybrid.

Ein Hybrid! Ich ließ mir von einem DMS-Sergeant eine Waffe geben. Es befand sich also noch ein anderer Hybrid an Bord der Raumstation.

In weiser Voraussicht hatte ich um mein Elektronengehirn herum noch weitere Firewall-Schichten eingerichtet, um genau diese Zugriffe unterbinden zu können oder zumindest erheblich zu erschweren. Handelte es sich um den Hybriden, den ich gefangen genommen hatte? Hatte er sich etwa befreit?

Negativ. Der Transponder ist zwar deaktiviert, aber die messbare elektromagnetische Signatur weicht ab.

Da ich vorher keine weiteren Hybriden außer mir und meinem Gefangenen hatte orten können, war er wahrscheinlich aufgrund des erneuten Zeitsprungs auf die Raumstation gelangt.

Ich rief: »Noch ein weiterer Hybrid ist an Bord und sucht mich! Bringen Sie bitte meine drei Damen in Sicherheit, Sir!« 

Der General nickte und erteilte die entsprechenden Befehle.

»Martin«, sagte Marijke, »kommst du nicht mit?« 

»Ich komme nach – versprochen!« 

Ich wählte den I’avêrésen als meine alleinige Verstärkung aus; in einer kleinen Einheit agierend erwartete ich mir mehr Flexibilität. Die anderen machten sich auf den Weg zum Raumdock und ich ging los, um den anderen Hybriden zu suchen. Bedingt durch die Ausgangssperre wirkten die Korridore wie ausgestorben.

Der anderen Hybrid wurde in Ebene fünf, Sektion achtundzwanzig lokalisiert, also ziemlich in der Nähe.

Wir wurden allerdings gleich wieder gestoppt, da ich hörte, wie Carmen von Beatrix zurückgehalten werden musste, weil diese wieder beabsichtigte, mitkämpfen zu wollen. Ich versicherte Carmen, dass ich alle im Griff haben würde. Unerwartet bekam ich Unterstützung vom I’avêrésen, da er versicherte, dass sie ihm nicht mehr ihre Tapferkeit beweisen müsste.

Langsam und vorsichtig in jede Nische spähend gingen der I’avêrése und ich den Korridor entlang. Plötzlich wechselte die Farbe aller Kontrollpanels neben den Türen wieder auf grün. Daran hätte ich eigentlich denken müssen! Der andere Hybrid hatte sich bestimmt Zugriff auf die Kontrollsysteme der Station beschafft. Der I’avêrése schien den gleichen Gedanken gehabt zu haben und drückte auf seinen Kommunikator.

»Sofort Türen wieder verriegeln! Und Zugriffscodes ändern!«, befahl er.

Eine Tür öffnete sich und eine Frau schaute heraus. Sie zuckte zusammen, als der I’avêrése und ich unsere Waffen auf sie richteten.

»Entschuldigen Sie, Ma’am«, sagte der I’avêrése. »DMS! Bitte gehen Sie in Ihr Quartier zurück; die Ausgangssperre ist noch nicht aufgehoben!« 

Die Frau schloss die Tür wieder und kurz darauf hatten die Lichter endlich wieder von grün auf rot gewechselt. Das war noch einmal glimpflich verlaufen; der andere Hybrid hatte wahrscheinlich versuchen wollen, das allgemeine Durcheinander nach Öffnung aller Türen auszunutzen, um zu uns zu gelangen. Weitere Opfer – vor allem unbeteiligte Zivilisten – konnten wir wahrlich nicht gebrauchen. Laufend unsere Position und die Position des anderen Hybriden ermitteln.

Wir: Ebene fünf, Sektion vierzehn. Hybrid: Ebene fünf, Sektion zweiundzwanzig.

Leise sagte ich zum I’avêrésen: »Er ist im Zweier-Korridor, Sektion zweiundzwanzig.« 

Weiterhin äußerst vorsichtig näherten wir uns dem Standort des Hybriden. Dann nahm ich die Schritte des Hybriden war. Ich hob eine Hand und gab das Zeichen zum Anhalten. Der I’avêrése drehte seine Ohren nach vorne.

»Ich habe die Schritte auch gehört. Für einen Menschen haben Sie aber ein außergewöhnlich gutes Gehör.« 

Bevor ich etwas erwidern konnte, gab der Hybrid einen Fernschuss auf uns ab, so dass sich ein Teil der Korridorwand im Nichts auflöste und den Blick auf Versorgungsleitungen freigab.

Der I’avêrése stieß einen vom Elektronengehirn nicht übersetzbaren Fluch aus und fragte verärgert: »Wie viele von den Waffen gibt es eigentlich?« 

Das war tatsächlich eine sehr gute Frage. Eigentlich sollten nämlich alle MBE-Waffen aufgrund des nach Kriegsende beschlossenen Abrüstungsabkommens vollständig zerstört worden sein. Es musste sich aber jemand vorher einen recht großen Bestand beiseite geschafft haben. Weil dies so unbemerkt über die Bühne gegangen war, musste jemand ganz weit oben mit daran beteiligt gewesen sein – oder dies zumindest gedeckt haben. Das Elektronengehirn lieferte laufend den Standort des anderen Hybriden.

Wir: Ebene fünf, Sektion zwanzig. Hybrid: Ebene fünf, Sektion einundzwanzig.

Er kam also immer näher. Wie aber konnte man einen Hybriden stoppen? Wir waren ja gerade für Kriegssituationen geschaffen worden, dass man uns nicht so leicht ausschalten konnte.

Vorschlag: Fernsteuerung aktivieren und dann Remote-Shutdown.

Negativ! Das hatte zwar beim Hybriden auf der Erde geklappt, aber bei diesem hier funktionierte das garantiert nicht. Der hatte bestimmt noch mehr Firewalls um seine Kernsysteme als ich. Gab es Alternativen?

Der Remote-Shutdown kann auch durch die beiden Not-Aus-Schalter in den Achselhöhlen aktiviert werden. Diese müssen exakt zur gleichen Zehntelsekunde betätigt werden.

Wieder ein interessantes »Osterei«, von dem ich noch nichts wusste! Nein, undurchführbar! Ich kam doch gar nicht dicht genug an ihn heran! Das schaffte ich nicht – konnte man auch auf die Schalter schießen?

Wenn die Schalter zur exakt gleichen Zehntelsekunde getroffen werden, dann löst dies ebenfalls den Remote-Shutdown aus.

Direkt die Achselhöhlen oder reicht auch der umliegende Bereich?

Generell reicht der Bereich aus, aber trotzdem sollte möglichst exakt getroffen werden.

Ich merkte mir, wenn ich für mich eine kugelsichere Weste hätte entwickeln müssen, dann auf jeden Fall mit einer dicken Verstärkung im Schulter- und Achselbereich.

»Geben Sie mir bitte noch einmal Ihre Zweitwaffe«, bat ich den I’avêrésen.

Mit meiner Waffe in der rechten und der kleinen Zweitwaffe des I’avêrésen in der linken Hand ging ich hinter einem Wandvorsprung in Deckung. Mein Elektronengehirn lieferte mir nun laufend die millimetergenaue Position des anderen Hybriden.

»Geben Sie mir Feuerschutz«, sagte ich zum I’avêrésen.

Ich sprang aus der Wandnische heraus und gab dann meine zwei vom Elektronengehirn genau synchronisierten Schüsse ab. Gleichzeitig feuerte der I’avêrése in Richtung des Hybriden. Der Hybrid schoss zurück und der I’avêrése sprang hoch. Er sprang aber nicht hoch genug, so dass der recht tief angesetzte MBE-Schuss noch einen Teil des Absatzes seines Kampfstiefels auflöste. Wiederum wurde eine Wand getroffen und die dahinter liegende Technik kam zum Vorschein. Der Hybrid fiel zu Boden und blieb regungslos liegen. An beiden Schultern stiegen kleine Rauchfähnchen von den Rändern der Einschusslöcher auf. Vorsichtig gingen wir auf den Hybriden zu, jederzeit bereit, sofort zu schießen. Der I’avêrése trat dem Hybriden die Waffe aus der Hand. Rein äußerlich schien keine Bewegung vom Hybriden auszugehen. Wurde noch irgendeine Aktivität registriert?

Negativ. Hybrid in Shutdown.

Es hatte tatsächlich funktioniert. Ich sah diese Möglichkeit, einen Hybriden, also auch mich, so einfach ausschalten zu können, als sehr gefährliche Schwachstelle an. Sofort beauftragte ich mein Elektronengehirn, diese Art der Deaktivierung auf der Stelle stillzulegen. Der Hybrid trug einen sehr technisch aussehenden Rucksack, den ich ihm vorsichtig abnahm. Allem Anschein nach war das die Zeitmaschine für kurze Zeitsprünge, sozusagen eine »TMU light«.

Erneut erhielt der I’avêrése seine Zweitwaffe von mir zurück. Da ihm ja ein Stück seines Stiefelabsatzes fehlte, humpelte er ein wenig, als er auf mich zuging.

Ich stellte fest: »Das war jetzt hoffentlich das letzte Mal, dass ich mir Ihre Waffe ausborgen musste.« 

»Saubere Treffer!«, lobte der I’avêrése. »Was seid ihr eigentlich für Leute?« 

»Sagen wir mal so«, antwortete ich ausweichend, »wir sind zum Glück nicht mehr eure Feinde.« 

Die uns als Verstärkung zugeordneten DMS-Soldaten, die sich aber auf meine Anordnung hin nicht direkt an der Ausschaltung des Hybriden beteiligt hatten, kamen nun auf uns zu, um uns bei der Festnahme des Hybriden zu unterstützen. Ich nahm Funkkontakt zu Marijke auf und teilte mit, dass wir Erfolg hatten und ich jetzt bereit war, zur Fähre nachzukommen. Vorher musste ich aber noch etwas erledigen. Über mein Elektronengehirn veranlasste ich eine weitere Überprüfung der Station auf weitere anwesende Hybriden, indem ich mich direkt in die Überwachungssysteme der Station einklinken konnte.

Negativ. Kein weiterer Hybrid an Bord.

Das war doch eine erfreuliche Nachricht. Vorher wollte ich mich aber vom I’avêrésen verabschieden.

Ich ging zu ihm und sagte: »Sergeant, vielen Dank für alles.« 

Der I’avêrése salutierte. »Wie schon vorher bei Ihrer Zweitfrau…« 

»Nein, nein. Tochter, Adoptivtochter, um genau zu sein«, korrigierte ich.

»Entschuldigung. Wie schon vorher bei Ihrer Tochter, war es mir auch hier eine Ehre, Sir.« 

Ich zeigte ihm meine Ehrerbietung, indem ich wie ein I’avêrése meine Hände mit den Handflächen nach außen vor der Stirn kreuzte und mich verbeugte. Er tat es mir gleich.

Die anderen DMS-Soldaten hatten den anderen Hybriden ebenfalls auf einer Schwebetrage fixiert und transportierten ihn ab. Auch die MBE-Waffe wurde von den Soldaten sichergestellt. Endlich konnte ich mich auf den Weg zum Raumdock machen.

Die Fähre war ein kleines stellares Modell für zwanzig Passagiere. Marijke begrüßte mich freudig und war sehr verwundert, dass es noch größere Schiffe als das gab, mit dem wir aus der Vergangenheit gekommen waren. Ich machte es mir auf meinem Sitz bequem und zeigte ihr, wie sie aus dem in der Sitzlehne des Vordersitzes integrierten Fluggast-Informations-System weitere Informationen und Bilder von noch größeren Schiffstypen abrufen konnte. Außerdem hatte sie noch keine großen militärisch genutzten Schiffe gesehen, wie Fregatten oder Kreuzer. Sie war natürlich sehr beeindruckt von Formen und Vielfalt der verschiedenen Raumschiffe.

Viel interessanter fand sie aber, dass es auch achthundert Jahre später noch vereinzelt Segelschiffe gab, die aber nur noch in der Freizeit genutzt wurden. Auch auf anderen Planeten mit großen Ozeanen gab es Segelschiffe. Besonders faszinierte sie die Tatsache, dass vollkommen unabhängig auf Lichtjahre voneinander entfernten Planeten ähnliche Konzepte zur Fortbewegung auf dem Wasser mittels Windkraft entwickelt wurden. Sie schaute noch auf mehrere Verkaufsseiten und kam zu dem Schluss, dass bei Freizeitbooten die Nachfrage wohl deutlich höher als das Angebot war.

»Wir könnten doch auch hier in den Schiffbau einsteigen«, meinte sie. »Das ist schließlich das Einzige, was ich halbwegs ordentlich beherrsche.« 

Mit dem bescheidenen Geldvermögen, was ich besaß, konnte ich aber keine allzu großen Sprünge machen – und ich hatte ja jetzt auch eine Familie zu ernähren. Ich versuchte Marijke zu erklären, dass außerdem jetzt nach Kriegsende der Wiederaufbau vor Freizeitaktivitäten Vorrang hätte. Prinzipiell war das mit dem Schiffbau aber gar keine so schlechte Idee, die ich auf jeden Fall nicht vollkommen aus den Augen verlieren wollte.

Die beiden Mädchen hatten ähnliche Gedanken und waren schon dabei, Mode nähen und vertreiben zu wollen, welche klassische Schnitte und Naturstoffe als Basis haben sollte. Als ich nachfragte, gab Carmen zu, dass die Ärztin der Raumstation schlussendlich der Auslöser gewesen war, dies jetzt tatsächlich auch anzugehen. So vergingen die Stunden bis zur Ankunft auf der Erde recht kurzweilig und wir waren alle recht zuversichtlich, jetzt der unmittelbaren Gefahr entronnen zu sein… 

© TOPCTEH