Kapitel 3
Kaperfahrt

2 Frauen | 1 Zimmermann | 450cm3

Das letzte Wort aber hatte – trotz aller »Demokratie« bei den Piraten – der Kapitän. Der Maat nahm den Kapitän zur Seite, um ihn zu überzeugen, so wie der Piratenrat auch überzeugt war. Dank meiner Audio-Sensoren konnte ich trotzdem genau verstehen, was beide zu besprechen hatten.

»Käpt’n, wir können beide gut gebrauchen – auch die Kleine als Segelmacherin…«, meinte der Maat.

Der Kapitän willigte ein, zuvor hatte ich jedoch eine Art »Vorstellungsgespräch« zu absolvieren.

Er fragte mich: »Was könnt Ihr noch, außer ohne Waffen kämpfen und mein Schiff schneller machen?« 

»Bevor ich die weite Welt erkunden durfte«, antwortete ich, »bestand mein Vater darauf, dass ich einen ordentlichen Beruf erlernen sollte.« 

Da hatte ich mich ja wieder vorschnell in etwas hereingeritten. Ich musste meine Legende erweitern, aber welcher Beruf aus dieser Zeitepoche passte am Besten? Wagner? Küfer? Gerber? Zimmermann? Das Elektronengehirn sprach sich für den zuletzt genannten Beruf aus.

Zimmermann würde sehr unkompliziert die Körperkraft erklären.

Daran hatte ich ebenfalls noch gar nicht gedacht. Niemand würde einem Forschungsreisenden seine Kraft und seine Kampfkünste abnehmen. Ich ließ das Elektronengehirn im Hintergrund schon einmal alles verfügbare Wissen zu Holzarten und Holzverarbeitung sammeln.

Der Kapitän ließ nicht locker: »Und was für ein Beruf soll das gewesen sein?« 

»Zimmermann.« 

Ich bemerkte schnell, dass sich der Kapitän nicht mit der Antwort zufrieden gab.

»Wie kann sich ein Zimmermann mit Segeln und Kämpfen auskennen?«, bohrte er nach.

»Ich bin ein Forschungsreisender. Ich beobachte und analysiere. Auf meinen Forschungsreisen bin ich schon mit vielen verschiedenen Schiffen gereist – und habe einigen Kämpfen beigewohnt.« 

Dem Anschein nach gab sich der Kapitän mit dieser Antwort erst einmal zufrieden. Schon in meiner Schulzeit und auch beim Militär war ich immer der gute Ausredenerfinder gewesen, aber dies hier war noch einmal auf einer ganz anderen Ebene. Ich hatte also gerade noch einmal die Kurve zu meiner Legende bekommen… 

Der Kapitän übernahm wieder das Kommando, ließ aber den von mir eingestellten Segeltrimm bestehen, so dass die Geschwindigkeit beibehalten wurde. Die weitere Fahrt verlief dann bis auf ein paar das Schiff begleitende Fliegende Fische ereignislos. Als der Abend dämmerte, erklärte ich mich bereit, die Nachtwache zu übernehmen. Auf Drängen des Maats hatte der zunächst skeptische Kapitän schließlich eingewilligt.

Nach und nach leerte sich das Deck und nach einiger Zeit war ich mit dem Steuermann und Carmen, die sich in meiner Nähe schlafen gelegt hatte, an Deck alleine. Wie in den Tropen üblich, reduzierte sich das Tageslicht sehr schnell bis auf einen schmalen hellgrauen Streifen am Horizont. Nun wurde es auch mir zu dunkel. Nachtsichtmodus aktivieren.

Nachtsichtmodus aktiviert.

Mit aktiviertem Nachtsichtmodus ließ sich jetzt wieder auch der Segeltrimm besser im Auge behalten. Später in der Nacht hatte ich dann sogar das Steuer übernommen, so dass ein sehr erschöpfter und auch sehr dankbarer Steuermann sich etwas ausruhen konnte. Ich hatte bisher ja gar nicht in Erfahrung bringen können, wie lange sie schon unterwegs gewesen waren. Nach den Angaben des Steuermanns waren es etwa vier Wochen Kaperfahrt gewesen, in denen sie eine recht ordentliche Beute gemacht hatten und daher jetzt auf dem Weg nach Hause waren.

»Aber nicht dem Käpt’n sagen, dass ich meine Wache verlassen habe«, forderte der Steuermann.

Ich legte mit einem Finger über meinen Mund und schüttelte den Kopf. Der Steuermann grinste breit und machte sich auf den Weg in seine Koje.

Nachdem sich die letzten Wolken aufgelöst hatten, fuhr das Schiff in einer sternenklaren Nacht weiter. Das Elektronengehirn lieferte mir zu ein paar Sternen auch die Population der jeweiligen Planetensysteme am das Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Interessant daran war, dass alle betrachteten bewohnbaren Planeten eine ähnliche Bevölkerungszunahme verzeichnen konnten. Ob wohl einige Zivilisationen Ende des sechzehnten Jahrhunderts auch schon Raumfahrt betrieben hatten, zumindest stellare?

Nachweise für die Anfänge stellarer Raumfahrt auf Wanaq’o finden sich erst im achtzehnten Jahrhundert nach Erd-Zeitrechnung.

Im achtzehnten Jahrhundert bereits; das war mir jetzt neu. Sie waren der Erde also zwei Jahrhunderte voraus. Trotzdem hatten wir dann den Ersten Interstellaren Krieg gegen sie gewonnen.

Mit diesen Gedanken beschäftigte ich mich fast die ganze Nachtwache lang. Ich brauchte nicht mehr auf den, sowieso unbeleuchteten, Kompass zu sehen, da ich mich voll und ganz auf die Astronavigation meines Elektronengehirns verließ. Jetzt war ich ganz alleine auf dem Achterschiff und steuerte das Schiff mit nur minimalen Bewegungen des großen Holzsteuerrads. Die äußeren Umstände waren eigentlich gar nicht so schlecht und es machte mir fast schon Spaß. Wie fuhren durch eine recht laue Sommernacht mit sternenklarem Himmel und ein großer rötlicher Mond ging langsam am Horizont auf – es kam mir wieder fast wie eine Urlaubsreise vor. Die Realität holte mich aber sehr schnell wieder auf den Boden der Tatsachen, als ich daran dachte, dass ich wahrscheinlich das Opfer einer Verschwörung geworden war. Jemand hatte mich, bewusst oder unbewusst, in die Vergangenheit befördert und ich steckte jetzt in dieser fest.

Ein paar Mal musste ich das Steuer festbinden, um den Segeltrimm anpassen zu können. Ich könnte ja irgendwelche technischen Schiffsverbesserungen vielleicht so gestalten, dass man so ein Schiff auch »einhand» fahren könnte. Diese Planungsüberlegungen verdrängten dann zum Glück die anderen Gedanken, die immer noch darum kreisten, hier in der Vergangenheit feststecken zu müssen.

Der nächste Morgen brachte nach und nach eine ausgeruhte Mannschaft an Deck. Der Kapitän zeigte sich verwundert, dass ich immer noch am Steuer war.

»Ich brauche nur wenig Schlaf«, redete ich mich heraus.

Ich nahm auch gleich den eigentlich für diese Nachtwache eingeteilten Steuermann in Schutz, indem ich bekräftigte, dass das alles meine Idee gewesen war. Der Kapitän gab sich kopfschüttelnd damit zufrieden und hakte nicht mehr nach. Carmen hatte auf dem Achterschiff in der Nähe des Steuerrads geschlafen, da sie der ausschließlich männlichen Mannschaft immer noch nicht traute.

Wir waren etwa einen weiteren Tag auf dem offenen Meer unterwegs, da meldete der Ausguck, dass Land in Sicht war. Sofort ließ der Kapitän das Schiff stoppen und, wie er sagte, »beidrehen«.

Auf meine Frage nach dem Zweck des Manövers antwortete er: »Wir warten hier und schauen, ob uns jemand gefolgt ist.« 

Mehrere Stunden blieben wir nun in dieser Warteposition liegen; der Kapitän wollte kein Risiko eingehen. Der Ausguck wurde mit zwei zusätzlichen Männern besetzt, die ständig in alle Richtungen Ausschau hielten. Schlussendlich waren aber keine anderen Schiffe in Sicht gekommen, so dass der Kapitän das Schiff wieder aus dem Wind drehen und Fahrt aufnehmen ließ. Die Insel kam immer näher; bald war eine Bucht und kurz darauf eine Flussmündung auszumachen. Das Schiff nahm Kurs auf die Flussmündung und begann, sich flussaufwärts zu bewegen. Je weiter wir flussaufwärts fuhren, desto stärker wurde aber die Strömung des Flusses und auch die Landabdeckung ließ den Wind immer mehr abschwächen. Bald machte das Schiff fast keine Fahrt mehr. Der Kapitän ließ daher ein Beiboot zu Wasser lassen und eine lange Schlepptrosse an Land bringen. Die kräftigsten Männer wurden zum Treideln an Land beordert; ich schloss mich dem Trupp freiwillig an. Der Treidelpfad machte einen sehr ausgetretenden Eindruck; das Treideln schien also ein bewährtes Verfahren zu sein. Einer der Männer erzählte mir von ihrem Dorf im Landesinneren. Sie hatten sich recht weit flussaufwärts angesiedelt, um vor direkten Angriffen von See aus geschützt sein zu können.

Nach einer halbe Stunde Treideln hatten wir mit dem Schiff einen Kontrollposten der Piraten erreicht. Ich musste anerkennen, dass die Piraten verteidigungsmäßig recht gut organisiert waren. Der Kontrollposten bewachte eine Sperre im Fluss, die aus Pontons aus Holz und alten Schiffsteilen bestand. Nachdem wir als nicht feindselig erkannt wurden, wurde die Barriere zur Seite geschwenkt und das Schiff konnte den Kontrollposten passieren. Noch einmal stand eine Viertelstunde Treideln bevor, wobei wir jetzt auch Unterstützung von Dorfbewohnern bekamen. Dann endlich waren wir im Dorf angekommen. Das Dorf lag an einer etwas breiteren Stelle des Flusses, an der ein kleinerer Seitenarm abzweigte. Ein relativ großes, aber irgendwie unvollständig aussehendes Schiff lag an einer aus verschiedenen Holzlatten und -stämmen gebauten Kaimauer, hinter diesem legten wir an.

Schiff wurde identifiziert als spanische Galeone, allerdings sind teilweise schwere Beschädigungen sichtbar.

Der Maat erklärte mir, dass sie entgegen ihrer üblichen Gepflogenheiten nicht nur die Ladung, sondern gleich das gegnerische Schiff im Ganzen übernommen hatten. Im Kampf war ihr eigenes Schiff nämlich so schwer beschädigt worden, so dass es aufgegeben werden musste. Das erbeutete Schiff war allerdings viel zu groß und nicht wendig genug, um es für eigene Zwecke einsetzen zu können. Daher wollten sie es jetzt für die Aufrüstung und Reparatur ihrer eigenen Flotte sowie als Baumaterial für ihre Hütten ausschlachten.

Das Elektronengehirn hatte bei vielen Hütten Fenster und Türen entdeckt, die in dieser Form nur von Schiffen stammen konnten. Die Piraten schienen also schon öfters das Ausschlachten von erbeuteten Schiffen praktiziert zu haben.

Das spanische Schiff war aber ebenfalls schwer beschädigt worden, so dass sie mit gerade noch ausreichender Seetüchtigkeit in nahezu letzter Sekunde das Dorf erreicht hatten. Nach Aussage des Maats hatte es an verschiedenen Stellen des Rumpfes kleinere Lecks bekommen, nahm daher fortwährend kleinere Mengen Wasser auf und sank kaum merkbar, aber stetig auf den Grund des – allerdings hier glücklicherweise nicht sehr tiefen – Flusses. Das vorlaute Elektronengehirn wollte mir noch die geschätzte Sinkgeschwindigkeit in Millimetern pro Stunde nennen, aber ich war überhaupt nicht an dieser Information interessiert.

Das Schiff wurde am Kai vertäut und mehrere breite und lange Planken wurden zwischen Schiff und Kai als Übergänge ausgelegt. Ich sah, wie viele Frauen und Kinder zum Kai gelaufen kamen. Die Familien empfingen offensichtlich ihre von See zurückgekehrten Väter. Alle sich eigentlich sehr wild gebärdenden Piraten waren auf einen Schlag ganz zahm und verwandelten sich in fürsorgende Familienväter; die ganze Szenerie hatte schon etwas Rührendes. Durch Nachzählen stellte ich erstaunt fest, dass wirklich alle Mannschaftsmitglieder eine Familie hier an Land hatten; meine Sorge um Carmens Sicherheit war wohl eher unbegründet gewesen. Die Mannschaft machte sich bereit, die Beute auszuladen und an alle Beteiligten nach einem nach Rang abgestuften Verteilungsschlüssel zu verteilen. Da Carmen und ich in die Gemeinschaft aufgenommen worden waren, bekamen wir zwar keine Goldmünzen oder andere Wertgegenstände, aber etwas Holz, Segeltuch, Nägel und Werkzeug, um uns eine eigene – wenn auch provisorische – Unterkunft bauen zu können.

Aus vier Pfosten und ein paar Brettern entstand das Grundgerüst der Hütte. Rechtzeitig zum Nachmittagsgewitter hatte ich die Konstruktion dank Carmens Hilfe noch mit Segeltuch überspannen können, so dass wir einigermaßen trocken blieben. Zwischen je zwei Pfosten spannte ich noch die uns leihweise zur Verfügung gestellten Hängematten, so dass wir auch eine einigermaßen bequeme Schlafstatt hatten. Ich musste natürlich meiner Legende folgen und als Zimmermann entsprechend ordentliche Arbeit abliefern, daher ließ ich im Hintergrund das Elektronengehirn aus dem vorhandenen Material Bauvorschläge ausarbeiten, um aus dem Provisorium ein richtiges Haus entwickeln zu können.

Um dies verwirklichen zu können, hatte ich mit einigem Verhandlungsgeschick erreicht, dass ich das spanische Schiff ausschlachten und unsere Hütte vervollständigen konnte. Carmen konnte aus den deutlich besser erhaltenen Segeln des Schiffs neue Segel für fast alle der Piratenschiffe herstellen; ebenso verhielt es sich mit dem laufenden und stehenden Gut, welches gegen deutlich weniger verschlissenes des spanischen Schiffs ausgetauscht werden sollte. Ein zerrissenes Segel reichte mir eigentlich; die Seetüchtigkeit würde dadurch deutlich verbessert werden können.

Auch der Vorrat an Schießpulver und Munition, darunter viele Kanonenkugeln, konnte aufgestockt werden. Carmen hatte darüber hinaus aus der Ladung des spanischen Schiffs viele Ballen mit, wie sie sagte, »wunderschönen Stoffen« bekommen. Sie war der Meinung, dass dies einen mehr als adäquaten Ersatz für den in ihrem Heimatdorf von den Spaniern zerschnittenen Stoff darstellte. Meinen Beobachtungen zufolge waren vor allem die Kinder recht ärmlich gekleidet. Der von mir an Carmen gerichtete Vorschlag, neben der Segelmacherei – die zunächst natürlich eine gewisse Priorität hatte – sich anschließend um bessere Kleidung für die Dorfbewohner zu kümmern, wurde von ihr mit einer durchaus ehrlich gemeinten Begeisterung aufgenommen.

Aus einer Rah des spanischen Schiffs und mehreren Schoten konstruierte ich einen zwar provisorischen, aber bestens funktionierenden Kran, mit dem wir alle Kanonen des spanischen Schiffes zügig an Land bringen konnten. Ich schlug vor, einen ähnlichen Kran als feste Einrichtung am Kai aufzustellen. Diesen Kran wollte ich dann aus den Resten der Masten, Rahen und des laufenden und stehenden Guts konstruieren, wenn ich das spanische Schiff ausschlachtete. Einige Kanonen rollten wir zu einer Anhöhe hinter dem Dorf, auf der wir auf meine Anregung hin eine Verteidigungsstellung einrichteten. Die anderen Kanonen wurden zur waffenseitigen Verstärkung des Kontrollpostens verwendet. Die besuchten Militärtaktikvorlesungen an der Raumflottenakademie sowie die Wissensdatenbank leisteten mir hier sehr gute Dienste.

Nachdem die Beute vollständig ausgeladen und verteilt worden war, wurde dann am Abend die – erfolgreiche – Kaperfahrt ausgiebig gefeiert. Als neues Mitglied der Piratenmannschaft war für mich natürlich eine gewisse Anwesenheitspflicht gegeben. Um meine Legende zu pflegen, erzählte ich erfundene Reiseberichte aus fernen Ländern. Das Elektronengehirn unterstützte mich darin, indem es aus der Wissensdatenbank zum Beispiel die Berichte des Engländers Richard Hakluyt und des Deutschen Alexander von Humboldt als Grundlage nahm, um diese Geschichten wenigstens um einen gewissen »wahren Kern« aufzubauen.

Dann kam das unvermeidliche Trinkspiel.

Auf der Raumflottenakademie hatte ich zwar einige Trinkspiele mitgemacht, aber hier spielten die Gegner noch einmal in einer ganz anderen Liga. Nach einhelliger Meinung der Mannschaft sollte ich gegen den Maat antreten. Nach Aussagen der Mannschaft war es nämlich noch niemandem gelungen, den Maat unter den Tisch zu trinken. Und wie Piraten nun einmal sind, war dies sozusagen mein eigentliches »Initiationsritual« (der Kampf zählte wohl nicht richtig) und Voraussetzung dafür, dass ich an der nächsten Kaperfahrt teilnehmen durfte. Vom spanischen Schiff waren mehrere Fässer Wein entladen worden. Als erste Runde gab es daher gleich drei Becher Wein pro Teilnehmer.

Der Maat und ich setzten uns gegenüber an einen Tisch, vor uns standen die Weinbecher. Um hier nicht gleich ganz peinlich zu scheitern, musste ich schnellstens der Frage nachgehen, wie überhaupt Alkohol von meinem »umgebauten« Körper verarbeitetet werden konnte. Ich hatte mich noch gar nicht darum gekümmert, da ich in der Militärklinik und in der anschließenden Rehabilitation keinen Alkohol zur mir nehmen durfte. Das Elektronengehirn gab mir zu verstehen, dass die Alkoholrezeptoren im Verdauungstrakt standardmäßig deaktiviert worden waren, daher würde es keine Auswirkungen auf das Nervensystem geben. Die Energie des Alkohols konnte außerdem zur Systemenergiegewinnung genutzt werden.

Dann hatte ich ja eigentlich alle Voraussetzungen, den Wettbewerb gewinnen zu können. Der Kapitän hob seinen rechten Arm und senkte ihn wieder, der Wettbewerb hatte begonnen. Der Wein schmeckte gar nicht einmal so schlecht, viel besser als das teilweise sehr künstliche Zeug aus meinem Jahrhundert. Ich war aber eher der Biertrinker und beurteilte Wein nicht nach Herkunft, Rebsorte und sonstigen esoterischen Messgrößen, sondern ausschließlich danach, ob er mir schmeckte. Ich leerte einen Becher in einem Zug und stellte ihn dann als Zeichen, dass er tatsächlich leer war, mit der Öffnung nach unten auf den Tisch. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass die Mannschaft immer neue Wetten abschloss; nach jeden ausgetrunkenen Becher wechselten einige Goldmünzen den Besitzer. Das Elektronengehirn lieferte mir als zu erwartende Flüssigkeitsmenge etwa 450 Kubikzentimeter.

Also hatte ich nach den drei Bechern der ersten Runde schon etwa eineinviertel Liter Wein intus. Dem Maat war noch nichts anzumerken und mir auch nicht; die erste Runde endete daher unentschieden. Also ging es in die zweite Runde. Jeder bekam einen Becher mit einer bräunlichen Flüssigkeit vorgesetzt. Ich roch vorsichtig daran. Was war das? Rum? Das Elektronengehirn bestätigte dies.

Aus den Aufzeichnungen der Wissensdatenbank des Elektronengehirns war ersichtlich, dass die Rumproduktion eigentlich erst ein Jahrhundert später nachweislich begonnen hatte, hier lag mir aber ein eindeutiger Gegenbeweis vor. Eigentlich hätte ich jetzt die Geschichtsbücher neu schreiben lassen können, wenn ich nicht in diesem Jahrhundert festsitzen würde. Den Becher Rum leerte ich ebenfalls in einem Zug und der Maat tat es mir nach. Ich bemerkte, wie er immer glasigere Augen bekam. Langsam änderten sich die Wettquoten zu meinen Gunsten, wie meine heimliche parallele Observierung der um uns herum stehenden Mannschaft ergeben hatte. Das Elektronengehirn hatte tatsächlich in Bezug auf die Alkoholresistenz Recht behalten, da ich noch überhaupt keine Auswirkungen des Alkohols spürte. Vor meinem Unfall hatte ich auf der Raumflottenakademie als übliche Freizeitaktivität beim Militär zwar eine gewisse Alkoholtoleranz entwickelt, aber auch dort wären eineinviertel Liter Wein und jetzt der Rum nicht folgenlos geblieben.

Der Maat erwies sich als extrem trinkfest. Seine glasigen Augen ließen keine Rückschlüsse auf seinen tatsächlichen Zustand zu, da er immer noch in ganzen Sätzen reden konnte. Selbst der trinkfesteste Raumflotten-Corporal hätte jetzt schon lange aufgegeben. Wie schon gesagt, hier spielte der Gegner tatsächlich in einer ganz anderen Liga. Nach fünf Bechern Rum zeigte der Maat dennoch erste Ausfallerscheinungen. Er rutschte von seinem Hocker herunter, fing sich aber wieder und setzte sich erneut halbwegs aufrecht an den Tisch, wobei er allerdings die unterstützende Hilfe seiner Arme benötigte. Ein sechster Becher Rum wurde ausgeschenkt und schon nach dem ersten Schluck wurde deutlich, dass mein Kontrahent am Ende war.

Der Maat rutschte unter den Tisch, den noch fast vollen Becher mit sich reißend und über sich verschüttend. Jubel brandete auf und wieder wechselten einige Goldmünzen ihren Besitzer.

Ich hatte tatsächlich gewonnen!

Jetzt musste aber schnellstmöglich eine Strategie her, da anzunehmen war, dass die extrem abergläubischen Piraten sofort böse Magie oder Ähnliches vermuten würden, wenn ich einfach so aufgestanden wäre. Das gerade aufgebaute Vertrauen hätte so gleich wieder zerstört werden können. Das Elektronengehirn erwies sich in dieser Situation erneut als verlässlicher Ratgeber und schlug vor, wenigstens ein wenig betrunken zu agieren.

Vorschlag akzeptiert! Ich stand auf und spielte dann den Betrunkenen, dem die Beine wegsacken würden, der sich dann aber wieder an der Tischkante fangen konnte.

Jetzt ging ich wohl endgültig in die Geschichtsbücher als Piratenlegende ein, als der große starke blonde Pirat mit den blauen Augen, der ohne Waffen kämpfen konnte und der extrem trinkfest war. Und das alles, obwohl ich doch eigentlich den Vorsatz gefasst hatte, gar nicht oder möglichst wenig in die Zeitläufe und in das lokale Geschehen eingreifen zu wollen; mir fiel spontan die »Oberste Direktive« aus den »Star Trek«-Fernsehserien ein.

So kam es dann, dass ich auf meine erste Kaperfahrt gehen durfte. Da eine recht ordentliche Beute gemacht wurde, hatte der Piratenrat beschlossen, der Mannschaft vorher eine kleine Pause zu gönnen. Vor Beginn der Hurrikansaison sollte aber noch mindestens eine Fahrt unternommen werden, um sich für die Durststrecke der beutelosen Zeit eindecken zu können.

So konnte ich das spanische Schiff in Ruhe weiter ausschlachten und das stehende und laufende Gut unseres Schiffs auf Vordermann bringen. Auch Carmen war mit ihrem Nähkünsten nach kurzer Zeit voll ausgelastet. Ihr gefiel es sichtlich, besonders den Frauen und Kindern neue Kleidung zu nähen. Nachdem sich die Qualität ihrer Produkte herumgesprochen hatte, bekam sie sogar Anfragen von anderen Frauen, die ihre Nähkünste lernen wollen. Ich beobachtete sie, wie sie besonders gleichaltrige Mädchen beim Anprobieren sehr oft berührte – aber gerade nur so viel, dass es nicht auffallen konnte. Sie bemerkte, dass ich sie beobachtete. Ich zwinkerte mit dem rechten Auge als Zeichen, dass ihr kleines Geheimnis bei mir gut aufgehoben war. Als wir an diesem Tag zu Bett gingen, gab sie mir einen leichten Kuss auf die Wange und sagte etwas wie »du bist eigentlich ein ganz toller Ersatzvater«.

Nach einer Woche wurde dann beschlossen, auf Kaperfahrt zu gehen. An dieser Fahrt durfte ich jetzt auch als offizielles Mitglied der Mannschaft teilnehmen. Natürlich hatte Carmen nach viel Betteln und ständigen Verweisen auf ihr Segelmacherkönnen die Erlaubnis bekommen, ebenfalls mitfahren zu dürfen. Dies stellte insofern eine Premiere dar, als dass üblicherweise keine Frauen an Bord sein durften. Carmen hatte aber ihre unschätzbaren Fähigkeiten schon unter Beweis stellen können, und so wurde für sie eine Ausnahme gemacht. Obwohl sie von den anderen Mannschaftsmitgliedern eigentlich nichts zu befürchten hatte, würde ich doch ein wachsames Auge auf sie haben müssen.

Auf der Fahrt fuhren wir, um es in der Militärsprache meines Jahrhunderts auszudrücken, »mehrere Tage ohne Sichtung eines möglichen Zielobjekts« umher. Eigentlich mussten doch alle Seefahrer in dieser Region ebenfalls ein Interesse daran haben, möglichst vor dem Anfang der Hurrikansaison noch sichere Gewässer erreicht zu haben. Basierend auf dieser Annahme patroullierten wir entlang der bekannten Kauffahrerrouten. Tatsächlich erreichte uns am folgenden Tag die Ausläufer eines Hurrikans und dunkle Wolken brachten starke Böen. Mein ausgetauschtes laufendes und stehendes Gut sowie Carmens ausgebesserte und an einigen Stellen verstärkte (»nicht geflickte!«) Segel hielten wunschgemäß den Belastungen stand. Ein anderes Schiff wurde aber immer noch nicht gesichtet.

Dann endlich wurde die Entdeckung eines spanischen Kauffahrers freudig begrüßt. Vorsichtig pirschten wir uns auf einer großen Kreisbahn an ihn heran. Dieses Manöver diente auch dazu, ein mögliches Geleit durch Kriegsschiffe ausfindig zu machen. Es wurden aber keine begleitenden Handels- oder Kriegsschiffe gesichtet, was ich ungewöhnlich fand. Meine Bedenken wischte der Kapitän vom Tisch, da es seiner Erfahrung nach durchaus üblich war, kurz vor der Hurrikansaison auf Alleinfahrer zu treffen.

Das Entern des Kauffahrers ging recht problemlos über die Bühne, es gab nur geringen Widerstand. Carmen hatte sozusagen sich selbst als Ablenkung verwendet; niemand rechnete damit, von einem jungen Mädchen angegriffen zu werden. Die sporadisch bei ihr auftretende völlige Abwesenheit von Angst verursachte in mir leichtes Unbehagen. Ich fragte mich, wie lange dies wohl gutgehen konnte, und nahm mir vor, sie bei nächster Gelegenheit darauf anzusprechen.

Ich wurde für das Achterschiff eingeteilt. Carmen blieb bei mir und ich nahm mir noch den großen Piraten, gegen den ich in Carmens Dorf gekämpft hatte, als Verstärkung mit. Wir durchsuchten das Achterschiff und arbeiteten uns in die unteren Decks vor. Der Kapitän des spanischen Kauffahrers hatte eine große Kiste mit Goldmünzen, die er meines Erachtens unmöglich auf legalem Wege hatte erwerben können, in einem an sich vollkommen unscheinbaren Bretterverschlag versteckt. Alleine durch diesen Fund hatte sich die Fahrt schon bezahlt gemacht. Trotzdem wollten wir weitersuchen. Vor allem wollte ich erfahren, ob hier irgendwo noch Besatzungsmitglieder versteckt waren und in einem Hinterhalt auf uns warteten. Ich ließ den großen Piraten dennoch bei der Kiste als Wache zurück, da ich erstens bessere Augen und Ohren und zweitens die größere Körperkraft als er hatte. Da er mich im Kampf erlebt hatte, kam von ihm auch keinerlei Widerspruch.

Wir begannen, uns langsam weiter in die hinteren Teile des Achterschiffs vorzutasten, die nicht mehr von mir weichende Carmen dicht hinter mir. Je weiter wir uns fortbewegten, umso schummriger wurde es. Für so etwas war ich aber technisch gerüstet. Ich aktivierte den Nachtsichtmodus. Sofort konnte ich die Einzelheiten des Raumes deutlich besser erkennen. Ich bat Carmen, dicht hinter mir zu bleiben, da ich nicht ausschließen konnte, dass sich eventuell einer oder mehrere Spanier hier versteckt hielten. Tatsächlich ließ die Warnung des Elektronengehirn nicht lange auf sich warten, dass die Sensoren zwei Personen erfasst hatten.

Ich blieb abrupt stehen, so dass Carmen mit mir zusammen stieß. Sie fluchte leise und fragte, was los war.

»Hier drin befinden sich zwei Personen«, flüsterte ich.

Sehr langsam und mit gezogenen Säbeln tasteten wir uns weiter vor. Das Elektronengehirn lieferte den genauen Standort der Personen und machte kurz darauf eine überraschende Feststellung, die ich zunächst noch nicht richtig einordnen konnte.

Lebenszeichen eher als schwach einzustufen.

Schließlich erfassten meine optischen Sensoren die zwei Personen: an dem in das Unterdeck ragenden Teil des Besanmasts festgebunden befanden sich eine ältere und eine jüngere Frau. Sie waren offensichtlich hier gefangen gehalten worden und sahen auf jeden Fall nicht wie Besatzungsmitglieder aus, dafür war ihre Gesamterscheinung trotz der schmutzigen und teilweise zerrissenen Kleidung zu gepflegt. Das Elektronengehirn erfasste zwar keine weiteren Personen, die sich in dem Raum aufhielten, wir bewegten uns aber weiterhin trotzdem äußerst vorsichtig. Die ältere Frau sagte leise etwas zur jüngeren. Dank meiner Audiosensoren konnte ich es aber trotzdem hören. Sprache identifizieren, Sprachmodul laden.

Sprache identifiziert als: Niederländisch. Präzisierung: Neuniederländisch mit leichten Anteilen von Mittelniederländisch. Sprachmodul wird geladen.

»Ihr müsst keine Angst vor uns haben. Wir sind gekommen, um Euch zu befreien«, sagte ich leise auf Niederländisch, als ich mich den beiden Frauen näherte.

Die ältere der beiden Frauen schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an. Sie war offensichtlich sehr überrascht, in dieser Situation in ihrer Muttersprache angesprochen zu werden.

Ich ging auf sie zu und schnitt ihr die Fesseln durch. Carmen wiederholte dies bei der jüngeren Frau. Als sie aufzustehen versuchte, knickten ihr die Beine ein und sie sackte zusammen. Carmen konnte sie gerade noch auffangen. Die jüngere Niederländerin war in etwa gleichaltrig und ich bemerkte, dass Carmen diesen Körperkontakt sichtlich genoss. Bei mir war ihr kleines Geheimnis aber weiterhin bestens aufgehoben.

Das Elektronengehirn verortete leichte Hämatome und andere Verletzungen, die auf Misshandlungen hindeuteten.

Nachdem wir den beiden Frauen etwas Frischwasser aus dem Bestand der Piraten zu trinken gegeben hatten, schien es so, als ob zumindest die ältere von beiden ihre Zurückhaltung aufgegeben hatte. So konnten auch endlich ihre Namen in Erfahrung gebracht werden: die ältere Frau hieß Marÿke und die jüngere Beatrix. Sie waren Ehefrau und Tochter eines niederländischen Schiffbaumeisters, der von den Spaniern getötet worden war. Nach einigen Monaten waren sie dann vom Kapitän des spanischen Kauffahrers auf einem Sklavenmarkt gekauft worden. Als ich Carmen dies übersetzte, wurde sie immer wütender und hielt Beatrix immer fester im Arm.

Die weitere Untersuchung des Achterschiffs brachte keine weiteren versteckten oder gefangen gehaltenen Personen zu Tage, und so brachten wir die beiden Frauen an Deck. Carmen bemerkte den Kapitän des Kauffahrers, der gefesselt auf einem Fass saß und vom Maat verhört wurde. Sie ließ Beatrix los, ging auf den Kapitän zu und schlug ihn mit voller Wucht mit der Faust auf die Nase. Beatrix zuckte erschrocken zusammen.

»Das ist dafür, dass du kleine Mädchen vor den Augen ihrer Mutter misshandelst!«, zischte sie.

Ihr ganzer Hass auf die Spanier, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch ihre Eltern auf dem Gewissen hatten, entlud sich in diesem Schlag. Wieder einmal agierte sie vollkommen furchtlos. Aus beiden Nasenlöchern des spanischen Kapitäns begann Blut in zwei feinen Strömen herauszufließen. Der Maat wollte Carmen stoppen, aber ich schaute ihn an und schüttelte leicht den Kopf. Er verstand sofort und ließ sie gewähren. Noch einmal bekam der Kapitän einen Schlag ins Gesicht.

Carmen ging zurück zu Beatrix, umarmte sie und küsste sie auf die Stirn. Da schienen sich die Richtigen gefunden zu haben. Falls wir jemals in mein Jahrhundert werden zurück gehen können, würde dort deutlich mehr Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften vorhanden sein. Jetzt im Tageslicht konnte ich mir die beiden Frauen genauer anschauen. Beide sahen sich durchaus ähnlich und waren eindeutig als Mutter und Tochter zu erkennen. Beide hatten feine Gesichtszüge mit recht heller, leicht geröteter Haut – ungewöhnlich für diese Gegend. Marÿke war recht groß und hatte eine stattliche Oberweite sowie langes blondes Haar und dunkelblaue Augen. Ihre Tochter war im Prinzip eine etwas kleinere Ausgabe von ihr. Carmen war mit ihren langen schwarzen Haaren und ihren großen hellbraunen Augen meiner Ansicht nach eine perfekte Ergänzung.

Leider hatte der Kauffahrer keine brauchbare Ladung an Bord, er war wohl erst auf dem Weg nach Südamerika gewesen. So wurde beschlossen, nur die Kiste mit den Goldmünzen sowie ein paar Fässer Schießpulver und einige Kisten mit Munition mitzunehmen und den Kauffahrer dann seiner Wege ziehen zu lassen. Der Verlust der beiden Frauen und die Demütigung, von einem jungen Mädchen geschlagen worden zu sein, war wahrscheinlich schon Strafe genug. Immer noch war kein Geleitschutz in Sicht, was mich weiterhin etwas beunruhigte. Wir lösten die Verbindungen zum Kauffahrer und fuhren weiter auf der Suche nach dem nächsten zu kapernden Schiff.

Ich bekam von Marÿke ein gehauchtes »Dankeschön«, welches vollkommen überraschend in einen Kuss auf die Wange mündete. Mir wurde bewusst, dass ich nun innerhalb kürzester Zeit drei, zugegebenermaßen nicht unattraktive, Frauen gerettet hatte. Nun waren diese Aktionen aber nicht unbedingt etwas, was man unter »Nichteinmischung in die Zeitabläufe« verstehen konnte. Da war sie wieder, die »Oberste Direktive«! Und da lösten sie sich in Luft auf, meine Vorsätze… 

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