Kapitel 3
Auf der Suche

Am nächsten Morgen wachten wir durch die ersten Sonnenstrahlen und das immer lauter werdende Vogelgezwitscher auf. Wir hatten tatsächlich durchgeschlafen, ohne von Agenten behelligt worden zu sein, und ich kam mir recht erholt vor.

Antonia öffnete ein Fenster und stellte fest: »Hier riecht’s ja toll nach Wald und frischem Holz.« 

Wir stellten Tisch und Stühle neben dem Wohnmobil auf eine kleine Rasenfläche auf und nahmen das Frühstück in frischer Waldluft ein. Nach und nach begann sich der Parkplatz mit Fahrzeugen zu füllen, aus denen Wanderer ausstiegen, die sich erst einmal am geöffneten Kofferraum feste Wanderstiefel anzogen. Einige hatten sogar kleine Kinder in Kindertragerucksäcken dabei. Allen war gemeinsam, dass sie uns fröhlich einen guten Morgen wünschten.

Ein Hund näherte sich und legte seine Nase auf den Campingtisch. Antonia beugte sich vor.

Sie meinte: »Aus! Ich glaube nicht, dass du so salzige und gewürzte Wurst essen darfst.« 

Ich sah einen Mann mit einer Leine in der Hand auf uns zukommen.

»Kommst du her!« 

Ich rief: »Er hat nichts gemacht und wir haben ihm auch nichts gegeben!« 

Der Mann entschuldigte sich für das Verhalten seines Hundes, nahm ihn an die Leine, wünschte uns noch einen schönen Tag und entfernte sich.

Antonia schaute sich um.

»Hier ist die Quote Hund zu Kind nahezu eins zu eins«, stellte sie fest.

»So ein Wald ist doch auch ’was Tolles für beide.« 

»In so einen Wald müssen wir wieder einmal hin.« 

»Ja, alleine der Geruch war schon einladend genug.« 

Wir aßen auf und packten zusammen.

Beim Verstauen der Frühstückssachen sowie vom Tisch und den Stühlen wechselte Antonia das Thema.

»Wie geht’s jetzt weiter?«, fragte sie.

»Erst einmal müssen wir das Wohnmobil loswerden.« 

»Loswerden?« 

»Nicht wörtlich, wir stellen es nicht einfach auf einem Waldparkplatz ab, sondern geben es ordnungsgemäß in der nächsten Stadt ab. Das Wohnmobil und die Vermieterfirma können ja nichts dafür, dass wir OA auf der Flucht sind.« 

Der Parkplatz füllte sich immer weiter und Antonia musste mich beim Ausparken herauswinken, da dieser doch nicht wirklich für Wohnmobile geeignet war.

Wir machten uns wieder auf den Weg. Noch waren in der näheren Umgebung keine Agenten zu sehen. Wir waren offensichtlich noch einmal davongekommen und Antonia entspannte sich weiter.

Recht schnell kam sie auf das Thema »Urlaub« zu sprechen.

»Weißt du«, begann sie, »bisher hatte ich überwiegend in Spanien am Meer Urlaub gemacht, in so richtig klassischen ›Betonbettenburgen‹. Die Partys nachts waren ganz gut, aber dann den ganzen Tag am Strand in der Sonne schlafen, um die Folgen der Nacht sozusagen wieder auszukurieren, war dann doch eher stressig als erholsam. Ich bin zwar nicht so empfindlich, aber fiese Sonnenbrände hatte ich dann auch mit Lichtschutzfaktor zwanzig trotzdem. Wenn ich das jetzt mit den letzten Tagen vergleiche, so richtiges Wandern, vielleicht auch in den Hochalpen, reizt mich schon.« 

Ich musste zugeben, dass die Waldluft auf diesem Parkplatz schon eine besondere Note gehabt hatte. Wie es wohl tiefer im Wald dann gerochen hätte… Aber wir waren zur Zeit ja leider nicht im Urlaub, sondern auf der Flucht.

Auf der weiteren Fahrt waren immer noch keine Agenten zu sehen oder Straßenblockaden mit »Unfällen«, bei denen wir dann plötzlich von Agenten umkreist worden wären. Ich traute der Firma mittlerweile alles zu, auch solche Aktionen. Ab und zu machten wir kurz auf Parkplätzen Halt und überprüften mit der Ortungschipsoftware, wo sich die nächsten Agenten befanden. Noch mussten wir davon ausgehen, dass die Firma nicht wusste, dass wir diese Software benutzten. Mittlerweile hatte die Agentendichte rund um den Campingplatz sehr deutlich abgenommen, und es sah so aus, als ob sie die Suche abgeblasen hatten.

Unbehelligt kamen wir in der nächsten größeren Stadt an und begannen, das Wohnmobil für die Abgabe vorzubereiten. Auf das plötzliche Räumen waren wir nicht wirklich vorbereitet, wir hatten gar nicht so viele Behälter für unsere neu gekaufte Kleidung. Kurzerhand stopften wir einige Kleidungsstücke in einen großen Altkleidungssammelcontainer, den Antonia beim Vorbeifahren entdeckt hatte.

Nachdem die ganze Abgabeprozedur des Wohnmobils überraschend zügig vonstatten gegangen war, fuhren wir mit Bus und Straßenbahn an das andere Ende der Stadt, da ich bewusst kein Taxi nehmen wollte. Eine große Tüte mit den übriggebliebenen Lebensmitteln drückten wir einem neben einer Bushaltestelle sitzenden Obdachlosen in die Hand, der uns vollkommen verdutzt anstarrte und sich dann herzlich bei uns bedankte. Wir hatten ja zum Glück nicht so viel Gepäck und die paar übriggebliebenen Sachen konnten in einer Einkaufstasche transportiert werden. Noch immer waren keine Agenten oder sich auffällig-unauffällig benehmende Menschen zu sehen.

Anstatt eines Wohnmobils nahmen wir dieses Mal einen großen Geländewagen mit ausreichend Stauraum, mit dem man zur Not über Stock und Stein kam und in dem man auch halbwegs komfortabel übernachten konnte.

Im Internet fand ich dann eine sogenannte »Monteurswohnung« in der nächsten Stadt. Mit genügend Kleingeld in der Hinterhand war es dann kein Problem, für etwa ein halbes Jahr diese Wohnung zu bekommen, die bereits in einer Woche bezugsfertig war. Die Zwischenzeit verbrachten wir in einem recht kleinen Motelzimmer am Stadtrand, welches mir auch nicht viel größer als das Wohnmobil vorkam. Wichtig war mir aber erst einmal, weiterhin aus der Schusslinie der Firma zu sein.

»Zum Thema ›Geheimagent‹«, fragte Antonia dann, »was sollen wir erzählen, wenn jemand fragt, was wir tun und warum wir fast den ganzen Tag zu Hause sind?« 

»Irgend etwas mit Heimarbeit, bei dem man nicht so viel Technik braucht.« 

»Heimarbeit klingt gut – was machen wir dann genau?« 

»Ich würde freiberufliche IT-Projektleiter oder IT-Consultants nehmen – ich bin dann eher technisch, du eher kaufmännisch orientiert. Ingenieur oder Maschinenbauer passt nicht so wirklich, denn da müsste man unter Umständen öfters länger ins Ausland auf Montage.« 

»Du siehst auch nicht wirklich wie ein Monteur aus, dazu hast du viel zu un-schwielige Hände.« 

Ich hielt meine Hände in die Höhe und rief: »Da schau her: Meine zarten Industrieagentenfinger!« 

Antonia brach in ein gurgelndes Lachen aus, das in einen Husten überging, denn sie hatte sich dabei an ihrem Mineralwasser verschluckt.

»Externer IT-Consultant in Heimarbeit passt aber gut«, fuhr sie fort, nachdem der Husten sich gelegt hatte, »da freuen sich die Firmen, wenn sie weniger Reisekosten aufbringen müssen.« 

»Dieses Mal müssen wir aber wegen eines wichtigen Projekts vor Ort sein, daher die Monteurswohnung«, ergänzte ich.

»Gute Idee! Fällt man eigentlich als OA nicht auf?« 

»Nein, ein feindlicher Spion muss immer ein besserer Mitarbeiter sein. Spione werden nämlich – im Gegensatz zu normalen Angestellten – nach Können ausgesucht.« 

Antonia meinte lachend: »Da kann ich ja beruhigt sein. Nach dieser Definition waren dann alle meine bisherigen Chefs und Kollegen wohl keine Agenten gewesen.« 

»Die Definition ist aber nicht ganz trennscharf.« 

»Aber es ist doch immer wieder erstaunlich, mit was für ›Leistungen‹ einige so durchkommen.« 

In der Wohnung setzte ich dann erst einmal ein Netzwerk auf, mit dem ich alle unsere Geräte verband. Die nächsten Tage verbrachten wir außerdem damit, uns für den bevorstehenden Herbst und Winter mit Kleidung einzudecken, besaßen wir doch neben der Wander- ausschließlich eher Sommerkleidung.

Mit der aufgehobenen »Sex-Sperre« und einer jetzt doch nicht so hellhörigen Wohnumgebung meinte Antonia, eines Abends richtig zur Sache gehen zu müssen. Mir war gar nicht bewusst, dass Sex so viel Spaß machen konnte. Auch in diesem Punkt schienen in meinem Gedächtnis noch einige Lücken zu herrschen – oder ich hatte bisher einfach noch keinen guten Sex gehabt.

Abendliches Stöbern im Notizbuch brachte mich auf ein Versteck in der nächsten Stadt. Leider schwieg sich das Notizbuch über den genauen Inhalt des Verstecks aus, aber es gab zumindest einen Code zum Öffnen. Antonia war sofort dafür, dort hinzufahren.

Am übernächsten Tag fuhren wir hin; niemand folgte uns. Das »Versteck« stellte sich als ein Schließfach in der Langzeitgepäckaufbewahrung eines Bahnhofs heraus und der Code öffnete es ohne Probleme.

Antonia nahm zwei Kartons aus dem Schließfach und wir luden diese ins Auto, um sie erst in der Wohnung und nicht hier in der Öffentlichkeit zu öffnen.

Im ersten Karton fanden wir dann wieder ein wenig Bargeld und eine Handvoll »unverbrauchter« Mobiltelefone.

Der zweite Karton hatte es dann in sich. In ihm lag ein Stapel T-Shirts, die einen zweidimensionalen Barcode, QR-Code genannt, aufgedruckt hatten.

Antonia nahm ein Blatt Papier in die Hand, welches auf den T-Shirts gelegen hatte und zeigte es mir. Mit einer rot umrandeten Warnung wurde deutlich gemacht, keine Fotos dieses QR-Codes mit Mobiltelefonen zu machen. Der QR-Code enthielt nämlich eine Schadsoftware, die Moiltelefone und bestimmte Arten von Überwachungskameras sofort unbrauchbar werden ließ.

»Das ist aber ’mal eine richtig schön schräge Agentennummer«, freute sich Antonia.

»Wenn es wieder warm wird, müssen wir diese T-Shirts unbedingt einmal anziehen. Ich kann es nämlich überhaupt nicht ausstehen, wenn man von mir Fotos macht, auch ohne dass ich ein OA oder gar ein OA auf der Flucht bin.« 

Eines Tages, uns waren immer noch keine Agenten über den Weg gelaufen und auch das Ortungsprogramm zeigte keine Auffälligkeiten an, wurden wir in einer recht dunklen Seitengasse in der Stadtmitte überfallen. Zwei Männer in Kapuzenjacken mit tief in das Gesicht gezogenen Kapuzen stellten sich uns in den Weg. In der linken Hand hielt einer von ihnen ein langes Messer, der andere bedrohte uns mit einer Art kleinem Schlagstock. Sie forderten Geldbörsen, Mobiltelefone, Uhren und Antonias goldene Halskette.

»Die Kette lohnt sich doch gar nicht«, musste ich von mir geben, »das ist doch alles eh’ kein massives Gold.« 

»Was, die ist nur vergoldet? Darunter ist dann nur Blech – oder was? Mehr bin ich dir nicht wert?«, entrüstete sich Antonia.

Ich hatte gar nicht erwartet, dass sie so gut reagierte und auch sofort mitspielte. Darauf konnte ich wunderbar aufbauen.

»Du, weißt du, ähm…«, stotterte ich.

»Hör’ auf, ich will das gar nicht wissen!« 

»Aber…« 

»Nichts ›aber‹!« 

Der Räuber mit dem Schlagstock zuckte dann plötzlich zusammen. Die Ablenkung nutzend, hatte ich nämlich blitzschnell mit meiner rechten Hand das Handgelenk des anderen Räubers hinter dem Messer gegriffen und das Messer mit voller Kraft bis zum Heft in seinen Oberschenkel befördert. Daraufhin ging er schreiend zu Boden. Die ganze Aktion schlug den Komplizen sofort in die Flucht. Wie ließen den Räuber liegen und konnten unseren Weg fortsetzen.

»Soviel also zum Zusammenhalt unter Ganoven«, meinte Antonia sarkastisch.

Ich ergänzte: »Du hast aber auch hervorragend mitgespielt!« 

»Und du hast sie in die Flucht geschlagen, Null-Null-Sieben.« 

»Null-null-was?« 

»Du bist wirklich ein Superagent und kannst daher auch alleine zwei bewaffnete Räuber in Schach halten. Also: Null-Null-Sieben.« 

Ich lachte, auch um den Ernst der Lage überspielen zu können. Immer noch wusste ich nämlich nicht, wer oder was ich war, auch empfand ich bei dieser Aktion keine Furcht, was mir noch unheimlicher erschien. Ein Superagent ohne Furcht und mit übernatürlichen Kräften, wie im Film: Der war ich anscheinend doch.

Zurück in der Wohnung blieb ich beim weiteren Durcharbeiten des Notizbuchs an einer Stelle hängen, in der diverse Überwachungs- und Warneinrichtungen in meiner alten Wohnung beschrieben wurden. Offensichtlich lieferten alle diese Geräte ihre Daten an eine bestimmte Internetadresse und wurden dort gesammelt protokolliert. Sehr interessant war dann wieder der rot umrahmte Hinweis »davon weiß die Firma nichts«. Ich hatte offensichtlich ab einem gewissen Zeitpunkt der Firma nicht mehr vertraut und diese Geräte aufgebaut. Flugs startete ich den Tor-Browser, verband mich mit der Adresse und meldete mich mit den im Notizbuch aufgeführten Benutzerdaten an.

Was ich dort vorfand, überraschte und erschreckte mich gleichermaßen. Es wurden nicht nur Protokolle geschrieben, wie Tür auf, Tür zu, Fenster Küche auf, Fenster Küche zu, sondern auch alle dreißig Sekunden Standbilder von sechs in der Wohnung verteilten Kameras aufgenommen und auf der Internetseite gespeichert. Leider war der Speicherplatz auf dieser Internetseite begrenzt, so dass zwar die Protokolle bis etwa drei Jahre zurückreichten, die Dreißig-Sekunden-Standbilder jedoch recht kurz nach meinem Sturz von der Leiter nicht mehr vorhanden waren. Immerhin war somit der peinliche Sturz nicht aufgezeichnet worden… 

Antonia unterbrach meine Gedanken: »Was schaust du so grimmig?« 

»Ich hätte das viel früher finden und dann auch auf irgendeine Cloud speichern müssen!« 

»Das macht doch nichts, so können wir zumindest doch nachschauen, was nach deinem Weggehen dort alles passiert ist.« 

Da hatte sie durchaus einen interessanten Aspekt angesprochen.

»Vielleicht kann ich so welche von der Firma dabei erwischen, wie sie meine alte Wohnung durchsuchen.« 

Leider hatte ich die Bildaufzeichnung nicht oder noch nicht an andere Sensoren oder Bewegungsmelder gekoppelt, so dass ich trotz des dreißig-Sekunden-Intervalls immer noch viele Stunden an Bildmaterial durchsuchen musste.

»Toni, wenn wir das hier alles durchschauen müssen, bekommen wir viereckige Augen.« 

»Das muss man dann anders regeln.« 

»Ah ja, und wie?« 

Sie fragte: »Ich habe da eine Idee: Läuft das noch?« 

»Läuft was noch?« 

»Wird das Ganze noch im Internet gespeichert?« 

»Davon gehe ich aus.« 

Sie ließ nicht locker.

»Hast du nachgesehen?« 

»Nein, Frau Agentin, habe ich nicht.« 

Daraufhin zog sie eine Grimasse und gab einen grunzenden Laut von sich. Ich war ihr aber Überhaupt nicht böse gesinnt, denn ich fand es sehr anregend, wie sie mitdachte.

Wenn die Firma gründlich gewesen war – und davon musste ich ausgehen –, hatte sie bestimmt bereits alle Geräte gefunden und unschädlich gemacht. Ob sie dann die Internetseite gefunden hätten, war aber recht unwahrscheinlich, denn ich hatte den Weg dorthin über viele Umwege eingerichtet, zum Beispiel über im Ausland stehende sogenannte »Proxy-Server«.

Auch wenn die Firma-Analysten es von einer der Webcams bis zum ersten Proxy-Server geschafft hätten, ging es von dort dann aber nicht weiter, da eine andere Verschlüsselung und wechselnde Übertragungswege verwendet wurden. Dennoch hatte ich gleich einmal alle Verbindungen gekappt, auch dazu gab es eine Anleitung im Notizbuch.

Wir beschlossen, bei den aktuellsten Aufzeichnungen zu beginnen und uns anschließend rückwärts zu bewegen. Tatsächlich hörten einige Aufzeichnungen zu bestimmten eng beieinander liegenden Zeitpunkten auf. Die Aufzeichnung einer besonders gut versteckten Kamera lief noch solange weiter, bis ich vor ein paar Minuten die Verbindung gekappt hatte.

Recht schnell gelangten wir vom Ende der Aufzeichnungen zur entscheidenden Stelle. Nur ein paar Tage, nachdem ich die Wohnung verlassen hatte, betraten mehrere Schergen der Firma, und solche mussten es sein, die Bühne.

Das Öffnen der Wohnungstür ging ohne viel Aufwand und Getöse vonstatten. Natürlich hatte die Firma professionelles Einbruchswerkzeug zur Hand, wenn nicht sogar einen Zweitschlüssel, was mich schaudern ließ. Systematisch durchsuchten sie jeden Quadratzentimeter der Wohnung, fast schon zu systematisch. Es war unheimlich anzusehen, wie sie vorgingen. Auch wenn man nicht vom Fach war und wir nur alle dreißig Sekunden etwas zu sehen bekamen, so konnte man doch den Eindruck gewinnen, dass hier Durchsuchungsprofis am Werk waren. Bei einem abtrünnigen Top-Agenten wie mir nahm ich auch an, dass die Firma ihre besten Leute geschickt hatte.

Zum Glück hatte ich alle Verstecke wieder verschlossen, so dass sie diese nach einigem Suchen zwar fanden, aber dort nichts mehr enthalten war. Sie mussten aber davon ausgehen, dass diese von mir vorsorglich angelegt worden waren. Leider verstarben nacheinander die Bildaufzeichnungen, als sie die Kameras fanden und ausschalteten.

Es waren auf den Aufzeichnungen zwar ein paar direkte Gesichtsaufnahmen dabei, besonders wenn jemand eine Kamera entdeckte und deaktivierte. Alle trugen aber Motorrad-Sturmhauben, wie es sich für ordentliche OA gehörte, die eine Durchsuchung durchführten. Zumindest die Augen waren aber zum überwiegenden Teil frei erkennbar und damit waren die OA auch möglicherweise über die Augen zu identifizieren.

Nicht wirklich überraschend fand sich passend dazu im Notizbuch ein Verweis auf eine Analysesoftware für Augen, Retinaanalyse genannt, die noch so kleine Augenfragmente analysieren konnte. Beim weiteren Stöbern stieß ich auch noch auf einen Verweis auf eine – wohl von mir angefertigte – Kopie der großen »Agentendatenbank« der Firma, so dass ich versuchen konnte, Abgleiche mit den Bildern aus meiner Wohnung herzustellen.

Nur musste ich dazu erst einmal die Datenbank von einer bestimmten Internetseite herunterladen, doch die Datenbank war mit fast zwei Terabyte Größe etwas zu unhandlich für das Downloadvolumen eines handelsüblichen Internetanschlusses hierzulande. Vielleicht enthielten ja ein paar der von mir noch nicht untersuchten SD-Speicherkarten diese Datenbank, wobei zwei Terabyte schon eine Handvoll dieser Karten bedeutete, da mir bisher in meinem Bestand noch keine solche Karte mit einem Volumen größer als einhundertachtundzwanzig Gigabyte untergekommen war.

Ich rief Antonia zu mir.

»Toni, lass’ alles stehen und liegen. Ich muss dir ’was sagen!« 

»Was ist los – schlechte Nachrichten?« 

»Ja, schlechte Nachrichten. Du darfst auf keinen Fall in deine alte Wohnung zurückkehren.« 

»Das war mir irgendwie schon bewusst.« 

»Wir müssen davon ausgehen, dass die Firma auch bei dir einen ›Hausbesuch‹ absolviert hat oder auch die Wohnung komplett verwanzt ist.« 

»Meinst du, mein Bruder hat…?« 

»Vielleicht auch andere OA. Womöglich ist die Firma vollkommen auf dem Laufenden, was du an deiner Pinwand analysiert hattest – was vielleicht ein Grund dafür ist, dass wir bei der Suche nach deinem Bruder nicht wirklich weiter kommen.« 

»An dem See war es sowieso viel schöner.« 

Immerhin konnten wir mit dieser Software und der Datenbank ein paar Bilder ihrer Pinwand analysieren, als Testobjekte besaßen wir viele Bilder von mir und ihrem Bruder. Lange und dunkle Winterabende standen bevor, und so wusste ich schon, was dann für »IT-Consultants in Heimarbeit« als Beschäftigung anfiel.

Nachdem sie sich leider nicht auf den Speicherkarten befunden hatte, musste ich doch die Datenbank von einer meiner Internetseiten herunterladen. Um den Internetanschluss nicht zu sehr zu verlangsamen, startete ich es sozusagen »mit angezogener Handbremse« und gab lediglich knapp vierhundert Kilobit pro Sekunde als maximale Geschwindigkeit vor. Dies hatte aber zur Folge, dass das Download-Programm eine voraussichtliche Herunterladedauer von vier bis fünf Wochen anzeigte.

Vor allem nachts bei allgemein weniger Internetnutzung gab es dann aber überraschende Geschwindigkeitsschübe, so dass das Herunterladen nicht nach fünf Wochen, sondern bereits nach fünf Tagen beendet war.

Auf der Datenbank stolperte ich gleich zu Anfang noch über weitere Details. Ich war OA 2330 K, der Buchstabe K bedeutete die elfte Identität. Elf Identitäten außer meiner eigenen hatte ich nach den Angaben der Firma bereits angenommen, das musste ich erst einmal sacken lassen. Die Synapsen in meinem Gehirn mussten ein gewaltiger Verhau aus vergangenen Identitäten sein. Ich fragte mich, bei welchem »Kilometerstand« ein OA dann schlussendlich ausgesondert werden musste.

Was ich jetzt aber sicher wusste, war mein wirklicher Name. Ich hieß tatsächlich Benjamin, insofern hatten ein paar Synapsen in meinem Gehirn doch die Wahrheit verkündet, als Antonia mich nach der Bloggerveranstaltung nach meinem richtigen Namen gefragt hatte.

Antonias Bruder war die Nummer OA 3611 F, in der sechsten Identität, zugeordnet. Dreitausender-Nummern waren, wie ich dem Notizbuch entnehmen konnte, Agentenüberwachern zugeordnet.

»Also hat mein Bruder dich überwacht?«, fragte Antonia.

»Wie immer kann ich mich leider nicht daran erinnern. Vielleicht ist er auch dir zu der Bloggerveranstaltung gefolgt.« 

Solange sich die Retina-Analysesoftware mit den OA aus meiner Wohnung beschäftigte, ging ich einem weiteren Hinweis aus dem Notizbuch nach.

Und diese Informationen hatten es in sich!

Es schien sich um eine Anleitung aus dem allerheiligsten Kern der Firma zur Programmierung und De-Programmierung von Verhaltensweisen von Agenten zu handeln. Mit bestimmten Handbewegungen und bestimmten Worten konnte man Verhaltensweisen an- und abschalten. Das Werk schien eine recht große Anzahl von »Zaubersprüchen« zu enthalten.

Ich zeigte es Antonia.

Sofort meinte sie: »Ab jetzt ist das für mich das ›Zauberspruchbuch‹!« 

»Klingt wie etwas mit vergilbten Seiten und einem abgegriffenen Ledereinband.« 

»Ja genau. Wie bei Harry Potter.« 

»Dieser OA-Namen habe ich in keiner Liste gefunden.« 

Antonia lachte.

»Harry Potter, der Zauberer. Kennst du etwa die Bücher und Filme nicht?«, fragte sie.

»Nein. Ich habe den Verdacht, dass die Firma mir so einiges an Popkultur im Hirn gelöscht hat.« 

Den Spruch zum Aufheben der Sex-Sperre hatten wir bereits an anderer Stelle gefunden, und sogar erfolgreich angewandt. Nachdem ich mich für die Abschaltung dieser Sperre in einige Themen eingelesen hatte, konnte ich hier nur feststellen, dass es wirklich NLP auf allerhöchstem Niveau war. Der Informationsberg über die Firma war wieder ein Stück gewachsen, aber ein paar Abschnitte fehlten, es war mir offenbar nicht gelungen, alles aus den Systemen der Firma zu kopieren. Es war aber trotzdem sehr erstaunlich, dass ich überhaupt an so ein Werk gekommen war.

War OA 2330 etwa in der Firma zur Ausbildung und »Abrichtung« von anderen OA tätig gewesen? Das konnte auch die heftige Reaktion der Firma bei der Bloggerveranstaltung erklären, wenn jemand versucht, ihr Innerstes aufzudecken. Ich hatte bereits jetzt so viele Bomben gesammelt, dass deren Detonation nicht nur bei der Firma, sondern auch für weltweite Erschütterungen sorgen konnte. Es war mir bewusst geworden, dass Antonia und ich damit auch die »Staatsfeinde Nummer Eins« geworden waren. Bestimmt waren alle verfügbaren Agenten auf uns angesetzt, dabei war es gut zu wissen, dass zumindest der Zauberspruch zum sofortigen Stoppen eines Agenten dort enthalten war.

Ich meinte: »Hoffentlich hatte die Firma nicht alle ›Zaubersprüche‹ geändert, als OA 2330 AWOL wurde.« 

»Weil dann wahrscheinlich auch alle OA – wir wissen ja immer noch nicht, wie viele es eigentlich gibt – ›umprogrammiert‹ werden mussten. Da ist nicht ’mal eben in drei Wochen zu schaffen, auch nicht in einem halben oder einem Jahr«, versuchte Antonia mich zu beruhigen.

»Ich weiß nicht«, meinte ich, »eigentlich müsste die Firma auf so etwas in irgendeiner Form vorbereitet sein.« 

»Vielleicht wurde so ein Fall als eher unwahrscheinlich angesehen. Aufwand gegen Ertrag und so.« 

»Das kann durchaus sein. Wahrscheinlich ist es auch für so einen finanziell gut ausgestatteten Laden wie die Firma ökonomischer, einfach eine Meute OA loszulassen.« 

»Vertrauen wir einfach darauf, dass sie nicht wissen, wie viel wir eigentlich schon wissen.« 

Ein paar Tage später besuchten wir eine große Shopping-Mall, um uns mit Kleidung für Herbst und Winter einzudecken. Plötzlich hielt mich Antonia am Arm fest und zog mich mit ihr hinter eine dicke Betonsäule.

»Schau ’mal, da hinten auf elf Uhr. Drei Männer. Firma? OA?« 

Sie hatte sich schon eine richtige Agentensprache angewöhnt. Ich schaute vorsichtig hinter der Säule hervor. Die Männer benahmen sich wirklich auffällig unauffällig.

»Vielleicht«, sagte ich.

Sie wurde bleich.

»Nicht nur vielleicht! Den einen habe ich auf einem deiner Fotos gesehen!« 

Ich zog sie noch weiter hinter die Säule und bestimmte: »lass’ uns hier verschwinden, pronto!« 

Wie selbstverständlich nutzte ich eine mir als Agent einprogrammierte Vorgehensweise, nämlich die Orientierung an den auch hier in der Shopping-Mall überall aushängenden Flucht- und Notausgangsplänen. Wir benutzten daher keine Aufzüge oder Rolltreppen, sondern die üblichen Notausgangstreppen, bis wir zufällig in einer Art Ladezone im Erdgeschoss ankamen und zwischen rangierenden Lieferwagen ins Freie gelangten. Zum Glück hatten wir unser Auto nicht im Parkhaus des Einkaufszentrums, sondern in einem benachbarten Parkhaus abgestellt.

»Ben, das mit den Fluchtplänen und Parkhäusern ist auch so ein Null-Null-Sieben-Trick, oder?« 

»Ich hatte alles eher unbewusst durchgeführt. Weißt du, ich bin aber ehrlich aber darüber erschrocken, was ich wohl noch alles unbewusst machte, was die Firma mir per Zauberspruch ins Gehirn eingeimpft hatte.« 

»Wir müssen noch nach einem passenden Zauberspruch suchen.« 

»Aber nicht den für ›OA komplett ausschalten‹!« 

»Nein, da muss es hoffentlich noch etwas anderes geben.« 

Im Auto angekommen, startete ich gleich die Ortungschipsoftware und wir beobachteten die Bewegungen der OA, die sich tatsächlich als solche herausstellten, in der Shopping-Mall.

Beim Vorbeifahren an der Mall konnten wir dann auch in natura miterleben, wie drei Männer eine vierte Person in einen Lieferwagen luden.

Antonia rief: »Moment mal, die meinten ja gar nicht uns!« 

»Ja, das sieht so aus.« 

Tatsächlich war ein anderer OA das Ziel, dessen Ortungschip immer schwächer wurde.

»Aber würde der verfolgte Agent nicht einfach seinen Ortungschip entfernen, so wie du?« 

»Vielleicht weiß er gar nichts davon.« 

»Zauberspruch?« 

»Wahrscheinlich gibt es wirklich einen Zauberspruch, der einen den Ortungschip vergessen lässt.« 

Zurück in der Wohnung kam ich auch dazu, das Agentenfrühwarnsystem einzurichten, wie Antonia es nannte. Wiederum war ich überrascht, obwohl ich es mir eigentlich schon hatte denken können, dass mir die Anwendungsentwicklung an meinem Notebook so leicht von der Hand ging. Schon nach nicht einmal einer Woche war die Anwendung fertig, und ich begab mich mit Antonia in die nächst größere Stadt, um diese ausgiebig testen zu können.

Als wir wieder in die Monteurswohnung zurückkehrten, meinte Antonia, noch etwas einkaufen zu müssen. Schon nach zwei Stunden Abwesenheit stieg in mir eine leichte Unruhe auf. Ich wartete noch bis gegen Mitternacht, und als sie sich immer noch nicht gemeldet hatte oder zurückgekommen war, sah ich vor meinem inneren Auge eine knallrote Warnleuchte blinken.

Antonia war verschwunden!

Sofort schnappte ich mir eine Tasche, die ich für genau solche Situationen gepackt und auf dem Kleiderschrank gelagert hatte.

Nun ärgerte es mich, dass ich Antonia noch vorschlagen wollte, uns gegenseitig nicht aus den Augen zu lassen. Ich hätte sie nie alleine gehen lassen dürfen.

Leider schlug das Agentenfrühwarnsystem dann auch noch viel zu spät an.

Zum Glück hatte ich immer schon im Hinterkopf, dass das Zusammenleben mit Antonia mir eigentlich viel zu reibungslos vonstatten ging, und daher immer der leise Verdacht mitlief, dass sie womöglich von der Firma auf mich angesetzt worden war. Gesunder Pessimismus war gerade für jemanden wie mich lebenswichtig, außerdem war dann manchmal die Enttäuschung nicht mehr so groß. Andererseits spielte sie ihre Rolle, wenn es wirklich eine war, recht gut und verhielt sich wirklich überzeugend. Natürlich musste man in diesem Job viel lügen, und ich wusste nicht, wie viel ich in der Vergangenheit wohl schon gelogen hatte. Es war auch fraglich, ob es nicht dazu führen konnte, dass ab einem gewissen Zeitpunkt ein OA Lüge und Wahrheit nicht mehr auseinander halten konnte. Vielleicht gab es auch einen Zauberspruch, so dass man nicht mehr lügen konnte; hierzu musste ich die Unterlagen nochmals durchforsten. Wenn ich Antonia wiederfinden sollte, konnte ich damit herausfinden, ob sie mich tatsächlich die ganze Zeit angelogen hatte.

Eine Nachricht an irgendwelche Nachbarn war hier in der pflanzenlosen Monteurswohnung nicht notwendig, und ich überlegte, was jetzt zu tun war. Für diese Situationen musste ich mir zukünftig dringend eine Art »Flucht-Checkliste« zusammenstellen, damit ich nicht erst lange überlegen musste. Flugs hatte ich die Technik abgebaut und diese in zwei Stapel sortiert, nämlich Geräte, die ich mitnehmen und die ich nicht mitnehmen wollte. Unter den Geräten, die ich nicht mitnehmen wollte, fielen vor allem alle Mobiltelefone. So hatte ich dann alle Privatsphäre-Anwendungen deinstalliert, alle Telefone auf die Werkseinstellungen zurückgesetzt und die SIM-Karten entfernt. Mögliche Fingerabdrücke entfernte ich gründlich mit Elektronik-Reinigungstüchern.

Alle Telefone und SIM-Karten hatte ich in eine Plastiktüte geworfen und diese an der nächsten Straßenecke an einen Zaunpfosten gehängt. So konnten sich diese möglichst weit verbreiten und die Firma auf Trab halten.

Die nahe gelegene Station des Autovermieters war zwar nicht vierundzwanzig Stunden besetzt, hatte aber einen Briefkasten, in den man einfach den Autoschlüssel einwerfen konnte. Da Antonia sich natürlich an das Auto erinnern konnte, wollte ich es zwar loswerden, es aber nicht einfach irgendwo am Straßenrand stehenlassen. Vielleicht wurde es ja sofort wieder vermietet und hielt so die Firma ebenfalls in Bewegung.

Nur ein paar Schritte entfernt von der Mietwagenstation befand sich eine Bushaltestelle, und ich nahm den letzten Bus des Tages zum Bahnhof. Dort kaufte ich mir eine universell für alle Zugarten gültige Fahrkarte und setzte mich in den nächstbesten Fernzug.

Sofort schlief ich ein, der Stress machte sich bemerkbar.

Ein paar Stunden später wurde ich von der Ansage »Nächster Halt: Karlsruhe!« geweckt. Ich war also in der Nacht durch das halbe Land gereist. Da es von Karlsruhe aus gute Verbindungen ins nahe gelegene Frankreich geben musste, beschloss ich, dort auszusteigen.

Die Zeit bis zur Abfahrt des nächstes Zuges nach Frankreich verbrachte ich in der Bahnhofsbäckerei bei einem großen Frühstück.

Schon nach etwa einer Stunde Fahrzeit kam ich dann in Straßburg an.

Dort bewegte ich mich schnurstracks zum schon bekannten »Technikkrämerladen«.

Ich öffnete die Tür und fand mich von finster dreinschauenden Männern umzingelt. Sie sahen so aus, als ob sie mich gut gegen anrückende OA verteidigen könnten. Ich versuchte, den »coolen« Agenten zu spielen.

»Bonjours! Salaam! Ist der Chef da?«, fragte ich daher unerschrocken.

Einer der Männer rief einen Namen und der Besitzer kam aus einem Nebenraum.

Er erkannte mich sofort wieder und lächelte.

»Ah! Der Deutsche mit der ›Bückware‹!«, rief er.

Gleich wurde mir ein starker arabischer Kaffee angeboten. Der Besitzer wusste schon, was ich brauchte, und so war ich in kurzer Zeit erneut mit passenden Gerätschaften eingedeckt. Zusätzlich besaß ich nun auch eine kleinkalibrige Handfeuerwaffe nebst passender Munition.

Ich fuhr anschließend von Straßburg mit dem nächstbesten Zug, der den schönen französischen Namen Oui trug, nach Nordfrankreich und von dort weiter nach Brüssel. Auf dem Weg dorthin sah ich in Belgien auf einem Kanal ein Hausboot und hatte eine Idee. Kurz ins Internet geschaut und ich bekam viele Seiten von Bootsvermietungen angezeigt, die Hausboote anboten, die führerscheinfrei auf belgischen Wasserwegen zu fahren waren. Ich war zwar ein Superagent, aber einen Bootsführerschein besaß ich nicht.

So kam es dazu, dass ich mir in Belgien in der Nähe der Nordseeküste ein kleines Hausboot gemietet hatte. Diese Art von Gefährt war zwar nicht ganz so flexibel wie ein Wohnmobil, aber ich konnte über Kanäle und Flüsse in den französischsprachigen Teil Belgiens fahren. Dank der Sprachkenntnisse kam ich dort auch gut zurecht.

Nachdem ich mich mit meiner Technik auf dem – überraschend geräumigen – Hausboot eingerichtet hatte, kam auch schon der erste Alarm. Die Ortungschipüberwachung meldete Antonias Bruder in der Anfahrt zur Monteurswohnung. Das System der Firma zeigte einen aktiven Einsatz des OA 3611 G. Antonias Bruder hatte also eine neue Identität bekommen. Direkt neben OA 3611 war ein OA 1076 A angezeigt. Nummern im Tausernder-Nummernkreis bekamen Agenten mit speziellen Aufgaben zugeteilt und A bezeichnete die erste Identität, war dies etwa ein frisch rekrutierter Agent? In mir stieg ein unheimlicher Verdacht auf, der mich frösteln ließ und der sich auch gleich in einer Agentenliste in einem Einsatzprotokollsystem der Firma bestätigte.

Hätte ich nicht schon gesessen, hätte ich mich jetzt hinsetzen müssen.

OA 1076 war Antonia!

Natürlich hatte sie irgendeinen der üblichen Tarnnamen bekommen, aber das in der Agentenliste dem OA 1076 zugeordnete Bild war eindeutig.

Sie und ihr Bruder waren also gemeinsam auf der Suche nach mir. Dass jetzt beide für die Firma zusammenarbeiteten, musste ich erst einmal sacken lassen. War sie etwa von Anfang an ein – mir zugeordneter – Agent gewesen? Antonia war mir doch ans Herz gewachsen, vielleicht konnte ich sie mit einem passenden Zauberspruch wieder umdrehen.

Ich versuchte erst einmal, diese neue Situation in gute und in schlechte Nachrichten aufzuteilen.

Die schlechte Nachricht war, dass Antonia unter Folter oder mit einem Zauberspruch alles ausplaudern konnte, was seit der Bloggerveranstaltung geschehen war. Oder die Firma konnte auch vielleicht ganz einfach mit irgendeiner mir nicht bekannten Technik ihr Gehirn anzapfen. Wer äußerst wirksame NLP-Zaubersprüche erfinden konnte und über Agenten Zugriff auf alle möglichen und unmöglichen Forschungsergebnisse besaß, war bestimmt auch zu so etwas fähig. Vielleicht war die erste Identität und eine neue Agentennummer auch nur eine Finte der Firma, um zu verschleiern, dass Antonia schon seit einiger Zeit auf mich angesetzt war. Wenn das der Fall war, dann hatte sie diese Rolle aber wirklich hervorragend gespielt.

Aber es gab auch gute Nachrichten. Dank meiner schnellen Flucht suchten sie erst einmal wieder am falschen Ort nach mir. Eher unabsichtlich, was ich jetzt allerdings als »in weiser Voraussicht« verbuchen konnte, hatte ich Antonia nichts vom Elektronikgeschäft in Straßburg erzählt, so dass die Wahrscheinlichkeit recht gering war, meine Spur über Frankreich nach Belgien aufzunehmen. Was Antonia wusste, wusste auch ich und die Firma konnte ja nicht alles von jetzt auf nachher ändern. Bisher hatte sie auch noch keine »Heimlich-Benutzer« gesperrt, so dass ich weiterhin vollen Zugriff auf alle Systeme der Firma besaß, die mir beziehungsweise dem Notizbuch bekannt waren.

Im Internet suchte ich mir einen geeigneten Hafen aus, in dem ich auch eine längere Zeit mit dem Hausboot festmachen konnte. Ein kurzes Telefonat mit dem Hafenmeister bestätigte dies und er wies mir gleich noch einen Liegeplatz zu.

Solange die Chiportung nicht eine große Agentendichte in meiner Nähe anzeigte, blieb ich daher erst einmal in einer recht hübschen Kleinstadt in Belgien auf dem Hausboot wohnen.

Die wirklich ausgezeichneten Pommes Frites einer Frittenbude direkt am Wasser bildeten für viele Tage mein Grundnahrungsmittel, so dass ich zu einem mit Handschlag begrüßten Stammkunden wurde.

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