Kapitel 1
Auf der Leiter

Nachdem ich meine Wohnung betreten und den Lichtschalter betätigt hatte, flackerte die Deckenleuchte im Flur kurz auf, verlöschte dann mit einem leicht knallenden Geräusch und es wurde auch in zwei angrenzenden Räumen dunkel. Offensichtlich hatte der Tod der Lampe auch gleich die Sicherung für diesen Stromkreis ansprechen lassen.

Solange sich draußen noch etwas Tageslicht zeigte, wollte ich die Glühlampe auswechseln. Im Abstellraum befand sich in meiner Elektrikkiste noch ein passendes Glühlampenmodell für das E27-Gewinde, sogar als LED-Version in der passenden Größe. Eine LED-Lampe sollte hoffentlich ein zukünftiges Durchbrennen mit anschließendem Kurzschluss verhindern können. Auch war auf der Packung die Leistung mit nur 10,5 Watt angegeben und die alte, klassische, Glühlampe besaß noch 60 Watt, was hoffentlich meine Stromrechnung etwas entlasten konnte. Daher nahm ich mir die Haushaltsleiter, steckte die frische Lampe in die Hosentasche und stellte die Leiter im Flur auf.

Die Deckenleuchte stellte sich als unmögliche Konstruktion heraus, für die man eigentlich drei Hände gebraucht hätte, um eine simple Glühlampe auszuwechseln. Balancierend auf der Leiter versuchte ich mein Glück, aber der Mechanismus zum Aufklappen des Lampenschirms und zur Freilegung der Glühlampe erwies sich als äußerst störrisch und erforderte einen nicht unerheblichen Kraftaufwand. Ich wollte aber den gläsernen Lampenschirm nicht einfach so auf den Boden fallen lassen.

Als ich den Fliesenboden auf mich zukommen sah, war es aber schon zu spät… 

Langsam kam ich wieder zu mir und bisher als unscharf wahrgenommene Konturen setzten sich wieder in eine Ansicht meines Wohnungsflurs zusammen, wenn auch aus ungewohnter Perspektive. Ich war offenbar mit dem Kopf aufgeschlagen und fühlte das Blut in meinen Haaren. Der Tag schien recht weit fortgeschritten zu sein, und ich musste tatsächlich mehrere Stunden lang in dieser Position gelegen haben. Nun gab es natürlich kein Tageslicht mehr, die Bereitschaftsleuchte der Gegensprechanlage spendete aber gerade so viel Licht, dass ich aufstehen und ins Badezimmer gehen konnte. Ich versuchte, so gut wie möglich das Blut abzuwaschen. Wahrscheinlich entwickelte sich ein hübsches Hämatom. Im Flur lagen die Leiter und verstreute Glasscherben des Lampenschirms, und ich musste aufpassen, mir nicht auch noch Schnittverletzungen zuzuziehen. Mein Vorhaben, den Lampenschirm nicht beschädigen zu wollen, war auf ganzer Linie gescheitert.

Irgendetwas war aber anders, ganz anders.

Die Gedanken bewegten sich weg von Fliesenboden, Handfeger und Schaufel und ich musste erkennen, dass mein Leben und auch mein Job etwas ganz anderes war. Der Aufprall mit dem Kopf hatte offensichtlich etwas ausgelöst. Ein Traum war es wohl nicht, denn es sah und fühlte sich alles viel zu realistisch an.

Ich zwickte mich in den Unterarm.

Der kurzzeitige Schmerz übertönte sogar meine sich entwickelnden starken Kopfschmerzen. Alles war offenbar »echt«.

Ich versuchte die Gedanken zu sortieren. Auch wenn alles echt erschien, so fühlte es sich irgendwie falsch, nein, anders an. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wer ich war und was ich hier eigentlich machte.

Die Gedanken gingen aber erst einmal in eine vollkommen unerwartete Richtung. Prompt erinnerte ich mich nämlich wieder daran, wo ein kleines Notizbuch versteckt war, und der Flur musste erst einmal warten. Warum es aber ausgerechnet in der Küche hinter einer Blende unter dem Spülenschrank sein musste; es konnte damit zu tun haben, dass es niemanden in die Hände fallen sollte. Auf dem Küchenboden liegend versuchte ich die Blende mit sanfter Gewalt zu entfernen, ohne dabei die Befestigungsklammern aus Plastik zu zerstören. Endlich hatte ich das Notizbuch aus seinem Versteck befreit.

Ich befestigte die Blende wieder an ihrer Stelle, nahm das Notizbuch und setzte mich an den Küchentisch. Beim ersten Durchblättern erkannte ich sofort meine Schrift wieder, wenn auch in einer leichten Variation. Auf vielen Seiten hatte ich etwas fein säuberlich aufgeschrieben, was ich beim ersten Durchsehen noch nicht richtig einordnen konnte.

Plötzlich fiel etwas auf den Boden und stellte sich als kleine schwarze SD-Speicherkarte heraus. Beim genauen Hinsehen konnte ich entdecken, dass in der Lederhülle des Notizbuchs noch mehr von diesen Speicherkarten steckten. Ich nahm die Speicherkarte vom Boden auf, steckte sie wieder zurück und fing an, das Notizbuch von vorne durchzublättern und genauer anzusehen.

Schon nach den ersten Seiten wurde deutlich, was ich dort offensichtlich aufgeschrieben hatte. Ich bekam ein sehr merkwürdiges Ziehen in der Magengegend und gleichzeitig lief es mir kalt den Rücken herunter. Mir war gar nicht bewusst, dass man diese Gefühle auch gleichzeitig haben konnte.

Wenn es zutraf, was das Ganze schon eine Drehung meines bisherigen Lebens um einhundertundachtzig Grad – und war eigentlich zu unglaublich, um wahr zu sein. Wenn ich mich nicht schon hingesetzt hätte, würde ich es jetzt auf jeden Fall tun.

Ich blätterte weiter und viele Fragen kreisten in meinem Kopf.

War ich etwa ein sogenannter »Schläfer«, der Terrorismus oder Industriespionage betrieb? Warum wusste ich nichts davon? Hatte ich etwa eine neue Identität bekommen – in Tateinheit mit Gehirnwäsche, damit ich nichts davon wusste? Die mögliche Identität eines Auftraggebers blieb aber zunächst unklar, denn dies alles hatte ich garantiert nicht alleine durchgezogen.

Ich legte das Notizbuch auf den Tisch und musste erst einmal tief durchatmen. Die Kopfschmerzen waren fast schon wieder vergessen.

Ein knallrot umrahmter Hinweis im Notizbuch behandelte einen Chip im Handrücken, der wahrscheinlich für Ortungszwecke verwendet wurde. Daraus stach ein Absatz in roter Schrift hervor, der dringend empfahl, als allererste Aktion das Objekt zu entfernen.

Ich sah mir meine Handrücken an. Auf der linken Hand glaubte ich, eine winzige Narbe zu sehen. Ich fühlte über die Stelle und tatsächlich war eine leichte Erhebung zu spüren. Die Gegenprobe der anderen Hand ergab eine gleichmäßigere Oberfläche, so dass der Chip tatsächlich in der linken Hand stecken musste.

Die Warnhinweise im Notizbuch waren eindeutig, daher entfernte mit einem im Badezimmerschrank vorgefundenen scharfen Skalpell (wofür brauchte ich so etwas eigentlich?) das Ortungsimplantat. Das in mir sich in Wallung befindliche Adrenalin sorgte wohl dafür, dass ich dabei gar nicht so viel Schmerz empfand. Flugs war die Hand verbunden und den blutigen Chip wusch ich anschließend im Waschbecken ab.

Der Chip konnte auf keinen Fall bei mir bleiben, also steckte ich ihn erst einmal in die Hosentasche.

Nach Angaben im Notizbuch machte ich dann im Schlafzimmer im Bettrahmen einen weiteren Fund. Es handelte sich um mehrere Ausweispapiere mit meinem leicht variiertem Bild, aber jeweils anderer Identität. Die Ausweispapiere waren unterteilt in »davon weiß die Firma« und »davon weiß die Firma nichts«. Die Firma? War sie mein wahrer Auftraggeber? Vorname und Nachname begannen immer mit gleichem Buchstaben, was ich ein wenig unkreativ fand, wenn ich doch so ein toller Top-Agent sein sollte.

Der nächste Hinweis im Notizbuch brachte überraschend viele Konten mit zum Zeitpunkt des Aufschreibens überraschend hohen Geldbeträgen im Namen diverser nicht der Firma bekannten Tarnidentitäten zu Tage. Dann wurde ich auch noch zur einer Gaspistole und einer Elektroschockwaffe sowie im Bettrahmen und im unbenutzten Kabelkanal des Schreibtisches zu ein paar Tüten mit Bargeld geführt. Langsam wurde es unheimlich – wer war ich wirklich?

Die Firma bezahlte laut Notizbuch diese Wohnung, daher mussten mindestens der Internetanschluss, das Festnetztelefon, alle Rauchmelder und vor allem meine zwei Notebooks verwanzt sein. In mir stieg eine mittelprächtige Panik auf. Hier fühlte ich mich nicht mehr sicher, ich musste raus. Dabei wollte ich nur das Nötigste mitnehmen, vor allem natürlich das Notizbuch inklusive Speicherkarten, das Bargeld und die Ausweise. Die Waffen ließ ich aber zurück, diese wären zu einfach zurückzuverfolgen Ich steckte alles in eine kleine Sporttasche und begab mich zur Wohnungstür, die unter meinen Schuhen knirschenden Scherben im Flur waren mir jetzt vollkommen gleichgültig. Ich ließ das Schlüsselbund in der Wohnung und zog die Tür von außen zu. Hierher wollte ich auch auf keinen Fall mehr zurückkehren.

Als ich aus dem Haus trat, stellte sich sofort die Frage, wo ich mich eigentlich befand. Das am häufigsten vorgekommene Kennzeichen der am Straßenrand geparkten Fahrzeuge gab dann den Hinweis, dass ich mich offenbar in einer südwestdeutschen Großstadt befand. Ich hörte Kirchenglocken und zählte die Schläge. Es war also schon sieben Uhr morgens, ich musste die ganze Nacht auf dem Flurboden verbracht haben.

Nicht weit entfernt entdeckte ich eine Bushaltestelle. Neben Fahrplänen war auch ein kleiner Stadtplanausschnitt vorhanden, und ich konnte erkennen, dass es zum Hauptbahnhof nicht weit war, dorthin konnte ich auch zu Fuß gehen. Der Hauptbahnhof bot sich hervorragend dafür an, erst einmal diese Stadt zu verlassen. Die Kopfschmerzen waren dank einer recht hohen Dosis irgendeines Kopfschmerzmittels fast vollkommen verschwunden und es regnete nicht, also machte ich mich zu Fuß auf den Weg.

Gleich hinter der übernächsten Querstraße kam ich an einem Gebrauchtcomputerladen vorbei. Natürlich hatte ich keinerlei elektronische Geräte aus der Wohnung mitgenommen, also wollte ich mich dort nach einen halbwegs aktuellen Notebook mit SD-Kartenleser umsehen. Schnell wurde ich fündig und konnte das Gerät auch gleich mitnehmen. Dass es ein Sonderangebot und daher nicht das neueste Modell war, störte mich nicht sonderlich, es war nur wichtig, dass der Rechner meine eher bescheidenen Anforderungen erfüllte. Da der Laden unbedingt meine Anschrift haben wollte, hatte ich dann mit einer nicht der Firma bekannten Identität und Bargeld diesen Gebrauchtrechner nebst passender Tasche gekauft. Weitere Sonderangebote, besonders die Mobiltelefone, ließ ich aber erst einmal links liegen.

Auf dem weiteren Weg zum Bahnhof kam ich zufällig an der Universität vorbei und setzte mich erst einmal in das Foyer der Bibliothek, in der ein freies WLAN zur Verfügung stand.

Ich packte den Rechner aus und schaltete ihn ein. Er funktionierte einwandfrei, wenn auch mit dem vorinstallierten Betriebssystem. Ich wollte auf jeden Fall Linux und den Tor-Browser installieren und traute derzeit absolut niemandem. Auch ein noch zu beschaffendes Smartphone wollte ich dann sofort »rooten« und ein anderes Betriebssystem ungleich Android oder iOS aufspielen. Wieder tauchten Fragen in meinem Kopf auf. Wieso fielen mir diese technischen Dinge auf einmal so leicht? War ich tatsächlich ein »richtiger« Geheimagent oder eine Art Technikspion?

Kurze Recherchen ergaben, dass mein derzeitiger Tarnname nirgends im Internet auftauchte, nur irgendein Volleyballspieler aus Nordostdeutschland mit dem gleichen Namen hatte durch eine spektakuläre Verletzung für ein paar Schlagzeilen gesorgt. Für professionellen Volleyball fühlte ich mich aber zum Einen nicht wie ein Profisportler und zum anderen war ich deutlich zu klein.

Am Bahnhof angekommen, fiel mein Blick auf die große Anzeigetafel, auf der unter anderem ein Zug nach Frankreich in etwa einer Dreiviertelstunde angekündigt war. Ein Smartphone im Ausland zu beschaffen, war natürlich noch besser. Unerwartet hatte ich viele französische Gedanken, beherrschte ich die Sprache etwa halbwegs fließend? Die Frage nach dem multinational eingesetzten Geheimagenten stellte sich wieder.

So besorgte ich mir am Automaten eine Fahrkarte nach Straßburg, der nächstgelegenen französischen Großstadt.

Ohne Zwischenfälle konnte ich den Zug betreten. So früh am Morgen war er gut gefüllt und ich konnte in der Masse der Berufsverkehrsfahrgäste untertauchen, musste erst einmal aber mit einem Stehplatz vorlieb nehmen. Nach der dritten Station konnte ich dann einen Sitzplatz ergattern, denn je mehr sich der Zug Frankreich näherte, desto leerer wurde er. Ich steckte dann den Ortungschip heimlich zwischen die Sitzpolster der Bahn, so blieb er in Bewegung und sollte erst einmal sogar mindestens bis nach Paris kommen. Der Großteil der Fahrgäste war in Smartphones vertieft und nur ganz wenige lasen noch eine klassische Tageszeitung. Auch ich schaute in mein Mobiltelefon, um mich mit der Landkarten-App ein wenig mit dem Stadtplan von Straßburg vertraut zu machen. Niemand schenkte mir Beachtung, was mich ein wenig ruhiger werden ließ. An keiner Station stiegen finster aussehende Gestalten zu, die mich mitnehmen wollten, insofern sah ich diese Etappe meiner Flucht zunächst einmal als gelungen an.

In Straßburg musste ich vom Hauptbahnhof aus nicht weit gehen, um in das Stadtviertel zu kommen, was ich gesucht hatte. Überall waren arabische Schriftzeichen zu erkennen, welche ich aber zu meinem größten Bedauern nicht lesen konnte, so etwas hatte man für mich wohl nicht vorgesehen.

Vor einem mit »gebrauchter« Elektronikware voll gestopften Schaufenster blieb ich stehen. »Gebraucht«, hier war ich genau richtig. Überraschend flüssig konnte ich mich mit dem Verkäufer, einem richtig klischeemäßig arabisch aussehenden Mann mit einem langen Bart, über den Kauf eines recht aktuellen Smartphones einigen, dessen genaue Herkunft ich eigentlich auch gar nicht wissen wollte. Als ich auch gleich fünf Stück orderte, nachdem ich den Preis eines einzelnen Smartphones erfahren hatte, hellte sich seine Miene auf und er legte mir noch eine Handvoll SIM-Karten dazu.

Ich versuchte dann noch, an »Bückware« zu kommen, falls es in diesem Laden so etwas überhaupt noch gab. Nur wie sagte ich es auf Französisch? Daher nahm ich die wörtliche Übersetzung marchandise pencher. Er schaute mich fragend an.

»Also sehr spezielle Ware, die nicht im Regal ist, sondern für die man sich bücken muss, damit sie nicht jeder sieht«, versuchte ich eine Erklärung. »Haben Sie hier noch etwas passend zu Mobiltelefonen?« 

Der Mann bekam einen Lachkrampf.

Als er sich wieder beruhigt hatte, stellte er fest: »Ihr Deutschen habt für alles einen Begriff, oder?« 

Ich lachte. Natürlich hatte das Deutsche viele Komposita, und der Kreativität waren keine Grenzen gesetzt. Frankreich war dagegen eher das Land der hübsch klingenden Abkürzungen, so wie die Rettungswagen alle SAMU oder SMUR heißen oder die Autobahngesellschaften SANEF oder VINCI. Ich fragte mich, woher ich diese speziellen französischen Begriffe wissen konnte.

»Also Frankreich–Deutschland 1:1?«, fragte er.

Ich antwortete: »Aber parfaitement!« 

Tatsächlich holte er dann mit den Worten »möchten Sie meine Bückware sehen?« unter dem Ladentisch eine kleine bunte Schachtel hervor.

Das Gerät, das ich auspackte, hatte es in sich, und war zufällig genau etwas, was ich zwar nicht direkt gesucht hatte, aber dennoch sehr gut gebrauchen konnte. In das Teil konnte man zehn SIM-Karten einstecken und das Ganze mit der USB-Buchse eines Mobiltelefons verbinden. Offenbar konnte bewusst oder per Zufall für jede Aktivität eine andere SIM-Karte angesteuert werden. Der Mann gab mir noch einen Zettel dazu, auf dem die Internetadresse zum Herunterladen der dazugehörigen Software stand.

»Das ist ja eine richtige Bückware, was für ein tolles Gerät!«, musste ich feststellen.

Auch der Preis hielt sich in Grenzen und ich rundete den Gesamtbetrag großzügig auf.

Dies veranlasste den Mann dazu, wieder unter den Ladentisch zu greifen und mir eine kleine Elektroschockwaffe, einen sogenannten Taser, zu geben. Auch diese Bückware nahm ich dankend an.

Mit viel Händedrücken und Gelächter wurde ich aus dem Laden verabschiedet. In den paar Minuten hatte ich offenbar mehr für interkulturelle Beziehungen getan als die Politik in einem Jahr.

Um nicht wieder die französische Eisenbahn benutzen zu müssen, kehrte ich mit der Straßenbahn, die tatsächlich seit einigen Jahren die Staatsgrenze überquerte, von Straßburg nach Deutschland zurück.

Obwohl ich ausreichend Geld für Miete oder auch Kauf einer neue Wohnung gehabt hätte, wollte ich erst einmal nicht an einem Ort verweilen. Sehr schnell kam ich darauf, dass ein Wohnmobil flexibler war. Dank einer kurzen Internetrecherche hatte ich in der Nähe eines Bahnhofs eine Wohnmobilvermietung aufgetrieben. Schon bald saß ich wieder in einem Zug.

Auch beim der Wohnmobilvermietung lief alles reibungslos ab. Außerhalb der Hauptreisesaison waren noch viele Fahrzeuge verfügbar und ich konnte ein recht geräumiges für einige Zeit buchen.

Nicht weit entfernt von der Wohnmobilvermietung gab es einen großen Supermarkt, in dem ich mich erst einmal mit dem Nötigsten für die nächsten Tage eindeckte, unter anderem nahm ich noch eine Handvoll USB-Speichersticks mit. Ziellos fuhr ich Richtung Norden, bis es dämmerte. Noch hielt mich das Adrenalin einigermaßen wach, auch die Kopfschmerzen und die Schmerzen meiner Handwunde hielten sich in Grenzen, dennoch beschloss ich, es nicht darauf ankommen zu lassen. Auf einem Autobahnrastplatz stellte ich das Wohnmobil daher für die Nacht ab und so konnte mich erst einmal sammeln.

Zunächst einmal konnte ich gleich das Mikrowellengerät in der Wohnmobilküche auf Funktionsfähigkeit überprüfen, hatte ich doch etwa vierundzwanzig Stunden lang nicht wirklich etwas gegessen. Nachdem ich gleich zwei Fertiggerichte nacheinander fast ohne zu Kauen heruntergeschlungen hatte, musste ich mich erst einmal in der Sofaecke hinlegen.

So hatte ich jetzt etwas Ruhe, meine Gedanken zu sortieren. Nun hatte ich mich also spontan in einen Geheimagenten und sogar in einen Geheimagenten auf der Flucht verwandelt. Ich kam mir vor wie in einem Drehbuch eines ganz schlechten B-Movies.

Am frühen Abend ließ dann der Stress zunächst etwas nach und ich fiel sofort in einen tiefen Schlaf.

Viel zu früh wurde ich von einer lauten Lastwagenpresslufthupe geweckt, ich musste ja das große Wohnmobil auf den Lastwagenstellplätzen parken, aber ich fühlte mich einigermaßen erholt.

Bei einem kleinen Frühstück konnte ich mich darum kümmern, den wichtigsten Punkt abzuarbeiten, nämlich meine neu beschafften Geräte einzurichten. Das WLAN der Raststätte besaß eine ausreichende Sendestärke an meinem Stellplatz und so konnte ich beginnen, das Notebook und die Mobiltelefone mit neuem Betriebssystemen zu bestücken. Alles ging überraschend komplikationslos vonstatten, auch das SIM-Karten-Gerät, die »Bückware« des Franzosen, funktionierte einwandfrei.

Mit den Angaben aus dem Notizbuch startete ich meine Recherche zur Firma. Gleichzeitig lernte ich viel über Blogs und Foren außerhalb des »Mainstreams«. Besonders eine sich selbst so nennende »Enthüllungsbloggerin« – die Seite hieß Nina Necker’s Nebensächlichkeiten – stich mir ins Auge. Bald fand ich auch eine ähnliche Seite unter dem Namen Veronika Vogel’s Vorkommnisse. Solche Konstruktionen, bei denen Vor- und Nachnamen mit gleichem Buchstaben beginnen, gab die Firma doch gerne ihren Agenten, soweit ich mich erinnern konnte. Es erschien mir alles überhaupt nicht echt, auch konnte ich die Verwendung von diesem dämlichen »’s« nicht ertragen. Der nächste Treffer war eine suspekte Selbsthilfegruppe für Aussteiger aus der Firma. Alles sah mir verdächtig nach Fallen der Firma für Abtrünnige aus. Ich beschloss daher, das Ganze erst einmal ruhen zu lassen.

Nach einem schönen Mittagessen in der Raststätte begab ich mich wieder auf die Autobahn, um nicht allzu lange an einem Platz zu verweilen.

Die Fahrt stellte sich wegen vieler Baustellen und vieler kleinerer Stauungen als recht nervtötend heraus, so dass ich nach etwa einhundertfünzig Kilometern erneut eine Raststätte aufsuchte. Wiederum stellte ich mich zu den Lastwagen, nur um kurz darauf von einem Fahrer angesprochen zu werden, dass diese Raststätte eigene Plätze für Wohnmobile besaß. Ich entschuldigte mich und parkte das Wohnmobil um.

Die Wohnmobilplätze waren alle mit Stromanschlüssen versehen, und so konnte ich endlich einmal die Bordbattereien aufladen. Neben den Wohnmobilplätzen gab es eine sogar einen abgezäunten Bereich für die Schmutzwasserentsorgung und die Frischwasserversorgung. Auch ein paar Mülltonnen waren vorhanden. Gegen Einwurf von ein paar Münzen konnte alles benutzt werden, und so wurde das Wohnmobil wieder »frisch gemacht«.

Nachdem ich mir in der Raststätte etwas für das Abendessen besorgt hatte, machte ich mich ans Werk.

Das Notebook besaß einen kleinen Schacht für SD-Karten, und so hatte ich endlich etwas zum Auslesen der Karten aus dem Notizbuch. Zunächst einmal wurden von den Daten, ohne sie genauer anzusehen, mehrere Sicherheitskopien auf die neu gekauften USB-Sticks gespeichert und zusätzlich weltweit in diversen »Cloud«-Datenspeicherdiensten verschlüsselt abgelegt. Danach konnte ich mich dem Inhalt widmen.

Da die Karten nicht beschriftet waren, ging ich nach dem Speicherdatum der dort enthaltenen Verzeichnisse und Dateien vor. Gleich das erste Verzeichnis enthielt mehrere Dateien, die sich als Listen mit Tarnnamen herausstellten. Diese waren von der Firma für mich und andere »Agenten« vorgesehen, auch viele Namen von Frauen waren aufgeführt. In einer Liste fanden sich dann Nina Necker und Veronika Vogel wieder – siehe da, die komischen »Bloggerinnen« hatten, wie vermutet, wohl etwas mit der Firma zu tun. Alle Namen klangen recht süddeutsch-österreichisch, und ich konnte mich auch wieder daran erinnern, dass dies ein Markenzeichen der Firma war.

Mein generelles Misstrauen hatte sich also bestätigt. Ich arbeitete mich durch die vielen Dateien und war erstaunt, wie viele Informationen ich zusammengetragen hatte, nicht nur im Notizbuch sondern auch elektronisch auf den SD-Karten. Auf jeden Fall nahm ich mir vor, die »Bloggerinnen« weiter zu beobachten. Nach und nach wurde auch das Notizbuch mit einem Mobiltelefon abfotografiert und die Bilder ebenfalls auf USB-Sticks und weltweit in die Cloud gespeichert.

Nachdem alle Daten einer groben Sichtung unterzogen worden waren, konnte ich mich wieder der erweiterten Internetrecherche widmen. Sofort fiel mir eine Veranstaltungsankündigung für die nächsten Tage auf, irgendein Bloggertreffen mit unter anderem einem halbtägigen Themenblock »Industriespionage«. Warum man dieses Thema ausgerechnet auf einem Bloggertreffen besprechen musste, leuchtete mir nicht ganz ein. Zufällig befand sich aber eine »Nina Necker« auf der Vortragsliste und meine Neugier war geweckt. Mit dem Wohnmobil war ich flexibel und hatte meine Wohnung immer dabei, also beschloss ich, an dieser Veranstaltung teilzunehmen.

Um dies aber tun zu können, musste ich erst einmal mein Aussehen anpassen. Im nächsten Großsupermarkt in einem Industriegebiet neben der Autobahn besorgte ich mir neben Lebensmitteln auch einen Langhaarschneider. Abends hatte ich mir dann im Wohnmobil eine abenteuerliche Konstruktion aufgebaut. Eines der Mobiltelefone hatte ich hinter mir aufgestellt und das Signal der Kamera auf das vor mir stehende Notebook übertragen. So konnte ich die Haare auf Hinterkopf und Nacken überraschend geordnet kürzen. Es sah auch schlussendlich nicht so aus, als ob ich als ein auf einer einsamen Insel Gestrandeter mir selbst einen Haarschnitt verpasst hatte, obwohl es ja eigentlich so war.

Danach begann ich, mir den Bart abzurasieren. Dabei fühlte ich am Kinn merkwürdige Narben. War ich etwa mittels plastischer Chirurgie verändert worden? Ging die Firma etwa so weit? Immerhin kam ich dem Aussehen einiger Ausweispapiere nahe.

So war ich mindestens nicht gleich wiederzuerkennen, und ich konnte zur Veranstaltung fahren, die zudem nicht allzu weit entfernt stattfinden sollte.

Am Veranstaltungsort angekommen, war ich gezwungen, das Wohnmobil wieder einmal auf die Lastwagenparkplätze stellen müssen, was mir aber entgegen kam. Durch den größeren Manövrierraum auf diesem Parkplatzbereich hatte ich auch bessere Möglichkeiten, falls ich spontan schnell das Gelände verlassen musste. Es war schon irgendwie gruselig, dass ich mir jetzt bei jeder meiner Aktionen ausreichend Fluchtoptionen offen hielt. Dass es aber so selbstverständlich vonstatten ging, schob ich darauf, als Agent dieses Verhalten irgendwie fest »einprogrammiert« bekommen zu haben.

Flugs tauschte ich noch den Verband durch ein einfaches Pflaster aus, was einfacher zu verbergen war. Durch den Schnitt mit dem sehr scharfen Skalpell hatte die Wunde auch nicht so stark geblutet, dennoch steckte ich mir zwei Reservepflaster ein.

Vor dem Gebäude drückte mir eine in den bunten Farben irgendeines Internetdienstes gekleidete Frau einen ebenso bunten Zettel in die Hand. Bei genauem Hinsehen entpuppte sich dieser als Freikarte und so konnte ich sozusagen auf der Überholspur das Veranstaltungsgebäude betreten.

Hinter dem Eingang gab mir eine Frau eine Veranstaltungsbroschüre und ich stellte mich erst einmal an den Rand. Schon nach kurzem Durchblättern hatte ich etwas gefunden.

Eine Frau mit dem verdächtigen Namen Nina Necker hielt ausgerechnet einen Vortrag über eine spezielle Form der Industriespionage in Form von externen Beratern, die gerne von unwissenden Managern eingekauft werden. Die Frau kam mir irgendwie bekannt vor, ich konnte sie bloß nicht einordnen. Hatte ich sie in der Firma gesehen oder erinnerte ich mich nur leicht ähnliches Bild auf einer meiner SD-Karten? Vielleicht hatte sie auch seitdem ihr Aussehen verändert.

Nach einiger Suche fand ich auch den Veranstaltungssaal und setzte mich in eine der hinteren Reihen.

Ich fand den Vortrag einfach grauenhaft, obwohl die eigentliche Thematik sicherlich nicht uninteressant war. Nicht nur, dass es die üblichen technischen Probleme gab, bis Notebook und Beamer endlich miteinander klar kamen (konnte man das nicht vorher testen?), auch benahm sich Frau »Necker« wie ferngesteuert, was sie vielleicht auch war. Sie war ihrer eigenen Redegeschwindigkeit überhaupt nicht gewachsen, sie überholte sich sozusagen ständig selbst. Da konnte es nicht verwundern, dass zwischen den nahtlos aneinandergereihten Wörtern der Platz für eigene Gedanken äußerst knapp war, wenn nicht gar vollkommen fehlte. Wenn es ein Musterbeispiel eines ferngelenkten Mitarbeiters der Firma gab, dann war sie es. Das konnte alles nicht echt sein, zumal die Informationen, die sie weitergab, jeder nach ein wenig Internetrecherche auch selbst herausfinden konnte. Zum Glück hatte ich die Freikarte, sonst hätte ich beim Veranstalter mein Eintrittsgeld zurück verlangt – aber ich wollte ja nicht unnötig auffallen.

Die anschließende Fragerunde war genauso öde, nichtssagend und vollkommen uninformativ, wie der Vortrag selbst. Ich überlegte schon, zu gehen, wurde aber ausgebremst, da eine kleine Frau auf mich zukam.

»Kollege meines Bruders?«, fragte sie.

Alle Alarmglocken gingen bei mir an und traute ihr erst einmal keinen Nanometer über den Weg. Ausgerechnet hier musste sie mich ansprechen. Ich war wirklich paranoid geworden, was nicht weiter verwunderlich war.

Alles änderte sich schlagartig, denn sie zeigte mir vorsichtig ein Bild von einem Mann, der wohl ihr Bruder war, und mir!

»Ich kann mich nicht daran erinnern«, musste ich zugeben.

Sie bestätigte: »Ja, sie verändern einen für einen neuen Job, sowohl vom Aussehen her als auch im Hirn.« 

»Darauf bin ich auch schon gekommen.« 

Wir wurden unterbrochen, denn ein Eklat bahnte sich auf der Bühne an, weil ein bohrende Fragen stellender Mann schließlich von drei finster dreinschauenden Männern in dunklen Anzügen weggeführt wurde. Alle außer der »Bloggerin« schauten verwundert drein, so als wenn sie es gewusst hatte. Die Anzugmänner waren durch Ausweise mit leuchtend orangefarbenen Rahmen eindeutig als Mitarbeiter des Veranstalters zu erkennen. Es schien, als ob die Firma die ganze Veranstaltung organisiert hatte.

All’ dies wurde mir jetzt doch zu gefährlich.

Die Frau kam offenbar auf den gleichen Gedanken und meinte leise: »Wir sollten hier ganz, ganz schnell verschwinden!« 

»Ja, das schaukelt sich hier ganz komisch auf«, bestätigte ich. »Ich kenne einen Weg schnell nach draußen.« 

Wie es sich als paranoider Geheimagent gehörte, hatte ich vorher ein paar alternative Wege aus dem Gebäude ausgekundschaftet; die überall aushängenden Stockwerksgrundrisse mit den Evakuierungsrouten unterstützten mich dabei. So kamen wir über einen Nebeneingang und die Ladezone schließlich direkt am Lastwagenparkplatz heraus.

Vorsichtig näherten wir uns dem Wohnmobil und schauten uns um. Um das Wohnmobil herum war aber nichts Auffälliges zu entdecken.

Die Frau war mit der Bahn gekommen und so bot ich an, sie mitzunehmen. Wir stiegen ins Wohnmobil und ich fuhr zwar zügig, aber nicht zu auffällig vom Parkplatz des Veranstaltungscenters herunter und begab mich auf schnellstem Weg auf die Autobahn.

Sie schaute auf meinen Handrücken. Obwohl ich immer wieder den Jackenärmel heruntergezogen hatte, war das Pflaster jetzt doch gut zu sehen.

»Ortungschip schon entfernt? Gut!« 

Offenbar wusste diese Frau einiges.

»Ich bin übrigens Antonia«, stellte sie sich dann vor.

Ich dachte an die Liste mit meinen Tarnnamen, Antonia kam dort aber nicht vor.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, welchen Namen ich zuletzt hatte«, meinte ich.

Nach kurzem Überlegen fiel mir aber ein: »Benjamin« 

»Also nehme ich erst einmal Ben, bevor du etwas anderes herausfindest, ist auch schön kurz.« 

»Darf ich dann auch Toni nehmen?« 

Sie nickte.

Obwohl ihr Wohnort in der entgegengesetzten Richtung lag, fuhr ich aber erst an der vierten Abfahrt ab und wieder in die Gegenrichtung auf. Ich merkte, dass dies irgendwie ein instinktives Manöver gewesen war und ich beschloss, dem nachzugehen, wenn es etwas ruhiger sein sollte.

Auf der Fahrt erzählte ich ihr in Kurzform meine Geschichte, dass ich von einer Leiter gefallen war und so sich meine wahre Identität als Agent der Firma offenbarte, ging aber nicht allzu sehr in Details.

Eigentlich konnte uns niemand gefolgt sein, dennoch lotste sie mich über Umwege in einen Vorort zu ihr nach Hause. Wir stellten das Wohnmobil aber nicht direkt vor dem Haus ab, sondern ein paar Straßen entfernt zwischen ein paar Lastwagen in einem kleinen Gewerbegebiet.

Nachdem sie die Wohnungstür von innen wieder verschlossen hatte, nahm sie eine Perücke und die Brille ab. Zum Hervorschein kamen blonde kurze Haare, und ich hatte mich schon gewundert, warum ihre Haare unnatürlich strähnig und gefärbt ausgesehen hatten. Auch die Augen sahen etwas anders aus.

»Diese Brille ist auf eine bestimmte Art getönt und mit einem besonderen Polarisationsfilter versehen, dann kann man die Augenfarbe nicht so leicht feststellen und die Augenpartie wird verzerrt«, klärte sie mich auf.

»Ohje, du bist ja noch paranoider als ich. Vielleicht hast du auch schon längere Erfahrung, bei mir ist der Leitersturz mit anschließendem Erkenntnisgewinn ja noch nicht so lange her.« 

»Leitersturz mit anschließendem Erkenntnisgewinn, hübsche Formulierung«, stellte Antonia fest.

Urplötzlich wurde sie sehr bleich.

»Oh nein«, hauchte sie, »ich kippe gleich um. Ich glaube, jetzt geht das Adrenalin weg.« 

Ich fing sie auf und spürte ihren Atem an meinem Hals. Vorsichtig setzte ich sie auf dem Boden ab und setzte mich daneben. So saßen wir erst einmal nebeneinander in ihrem Wohnungsflur.

»So nah kamen sie mir noch nie«, sagte sie dann leise.

So nah kamen mir irgendwelche Schergen der Firma auch noch nie, seit ich von der Leiter gefallen war. Ich konnte mich aber auch nicht daran erinnern, einer Frau so nahe gekommen zu sein.

»Ben, bin ich paranoid?« 

»Ganz und gar nicht, sie sind ja tatsächlich hinter uns her«, platzte es aus mir heraus.

Sie zog eine Grimasse und meinte trocken: »Sehr witzig. Sehr, sehr witzig. Was ist das doch für ein blöder abgedroschener Spruch!« 

»Aber mit einem Körnchen Wahrheit.« 

»Ja. Leider.« 

Auch dadurch hatte sie dann wieder etwas an Gesichtsfarbe gewonnen.

Nach ein paar Minuten meinte sie dann, dass sie wieder aufstehen konnte. Ich stand als Erster auf und half ihr dann wieder auf die Beine. Noch war ich misstrauisch, das änderte sich aber schlagartig, als sie mich ins Arbeitszimmer führte.

Sofort kam ich mir vor wie im Film. Das Zimmer war fast vollständig mit mehreren großen Pinwänden vollgestellt. Beim flüchtigen Darüberschauen konnte ich diverse Namenslisten erkennen und ein paar Bilder. Alles war klassisch mit um Stecknadeln gewickelte rote und blaue Wollfäden miteinander verbunden. Die Verwandschaft zu meinem Notizbuch und den Speicherkarten war unverkennbar.

»Toni, hast du das hier nur in Papierform oder auch elektronisch?« 

Sie verneinte, und ich begann daher, mit einem Smartphone ihre Rechercheergebnisse abzufotografieren und wieder weltweit in diversen Clouds verschlüsselt abzulegen.

Unter den Unterlagen befand sich auch eine, wenn auch unvollständige, Liste von Tarnnamen für ihren Bruder. Diese sahen fast wie meine Tarnnamen aus und bestimmt gab es mit meiner elektronischen Liste einige Gemeinsamkeiten.

Es wurde Zeit für einen Informationsabgleich.

»Nicht erschrecken«, sagte ich daher zu ihr, »ich bin gleich wieder da, keine Angst.« 

Ich ging ein paar Straßen weiter zu dem im Gewerbegebiet geparkten Wohnmobil und holte das Notizbuch und den Notebookrechner aus einem Versteck. Auf dem Weg zurück blätterte ich das Notizbuch durch und fand schon auf den ersten Blick einige Gemeinsamkeiten mit Antonias Pinwand.

Mit Hilfe der Landkarten-App auf meinem Smartphone machte ich noch eine Volte, um sicherzugehen, dass mir niemand gefolgt war. Unbehelligt kam ich wieder zurück in Antonias Wohnung.

Ich zeigte ihr das Notizbuch mit den Worten »Ich habe so etwas wie deine Pinwände auch, nur kleiner.« 

Sie blätterte bis zur Stelle mit ihrem Bruder, wurde bleich und musste sich erst einmal setzen. Anschließend begann sie, das Notizbuch systematisch durchzusehen. Ab und zu warf sie einen Blick auf ihre Pinwand.

Bei der Abkürzung AWOL blieb sie stehen.

»Was heißt denn AWOL?«, wollte sie wissen.

»Das bedeutet Absent Without Official Leave oder ›unerlaubtes Entfernen von der Truppe‹, so nennen das zum Beispiel die amerikanischen Streitkräfte. Aber die Firma ist ja kein Flughafen, wo man seinen Abflug offiziell bekanntgeben muss.« 

Ich meinte, ein kleines Lächeln erkennen zu können

Während Antonia weiter das Notizbuch durchsah, begann ich, die Pinwand genauer zu untersuchen. Ich wollte schauen, ob Antonia Informationen zusammengetragen hatte, die ich noch nicht kannte. Und siehe da, das erste Mal stieß ich auf Agentennummern. Ich wahr wohl Operativer Agent 2330 und ihr Bruder Operativer Agent 3611. Weder im Notizbuch noch auf einer der SD-Karten tauchten diese Nummern auf, hier war Antonia mir tatsächlich voraus und ihre und meine Recherchen schienen sich in einigen Punkten hervorragend zu ergänzen.

Ein Operativer Agent wurde auch als OA abgekürzt. Gab es auch Nichtoperative Agenten? Wahrscheinlich nicht, die waren wahrscheinlich schon nicht mehr am Leben. Das sprach ich aber nicht laut aus, denn ich wollte Antonia nicht gleich die Hoffnung nehmen.

Es sah nach viel Arbeit aus, das Ganze möglichst elektronisch zusammenzuführen, aber ich hatte ja zumindest einige Zeit gewonnen. Vielleicht reichte die Zeit aus, um zunächst einmal der Firma den Rücken zuzukehren.

Daher fragte ich: »OA 2330 ist sowieso schon AWOL, aber du musst auf jeden Fall auch von hier eine Weile verschwinden. Ich habe ja das Wohnmobil, kannst du Urlaub nehmen?« 

»Alles klar. Ich hatte bei mir im Büro schon angekündigt, Spontanurlaub zu nehmen, falls eine Spur meines verschwundenen Bruders auftauchen sollte.« 

Sie nahm mein Notebook und verfasste eine E-Mail an ihren Chef und ihre Kollegen. Nachdem sie die E-Mail abgeschickt hatte, schrieb sie einen kleinen Zettel mit einer kleinen Nachricht an ihre Nachbarin, die immer in ihrer Abwesenheit den Briefkasten leerte und die Blumen goss.

»Nimm dir einen weiteren Zettel und schreibe dir die wichtigsten Kontaktdaten von deinem Mobiltelefon-Adressbuch ab«, ordnete ich an.

»Das Telefon dann ausschalten und hier lassen?« 

»Ja, du bekommst ein neues von mir.« 

Anschließend ging sie in Schlafzimmer und packte eine kleine Sporttasche.

Wir verließen ihre Wohnung und Antonia warf noch schnell den Zettel in den Briefkasten ihrer Nachbarin.

Im Schutz der Dunkelheit und wieder eine Volte laufend begaben wir uns zum Wohnmobil. Wieder war uns niemand gefolgt – oder es sah zumindest so aus. Erst einmal fuhren wir in den Nachbarort und wir hielten auf dem Parkplatz eines Fastfoodrestaurants an.

Antonia schlug vor: »Lasst und erst einmal im Internet und mit dem eingebauten Navigationsgerät einen schönen Campingplatz für das Wohnmobil suchen.« 

»Campingplatz ist gut, Autobahnraststätten sind irgendwie nicht gerade passend. Außerdem können wir auch länger auf einem Campingplatz bleiben.« 

Flugs hatte ich eine Verbindung zum Internet mit einem meiner Smartphones hergestellt und startete das Notebook.

Ich öffnete aber erst einmal eine ganz andere Internetseite und erläuterte: »Erst einmal schaue ich woanders nach.« 

»Was ist das denn?«, wollte sie wissen, als sie eine bunte Deutschlandkarte sah.

Ich antwortete: »Das ist die ›Mobilfunklochkarte‹ irgendeines IT-Vereins.«

»Oh, so etwas gibt es? Im Internet gibt’s wohl alles.« 

Ich zeigte auf einen mittel- bis dunkelroten Bereich und sagte: »Da fahren wir erst einmal hin. Dort wird es hoffentlich auch Campingplätze geben.« 

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