Kapitel 5
Verurteilt

Durch die ersten Sonnenstrahlen, die auf mein Gesicht fielen, wurde ich am nächsten Morgen relativ zeitig geweckt, da ich am Abend vorher ganz vergessen hatte, die Jalousien zu schließen.

Die Zimmerdecke anstarrend lag ich erst einmal da, um meine Gedanken nach Realität und Fiktion zu sortieren.

Real war, dass ich offenbar in der Einliegerwohnungsbaustelle von Schwester und Schwager übernachtet hatte. Dann jedoch wurde es diffus und Erinnerungen an eine Hexe, an eine Fliegenklatsche, an zwei attraktive Frauen und eine Gefangenschaft konnten nur ein Alptraum gewesen sein. Ich strich mir mit der Hand über Bart und Haare und musste leider feststellen: Nein, es war kein Alptraum gewesen, sondern ich hatte es »live und in Farbe« erlebt.

Mein Blick fiel auf die auf einen kleinen Stuhl geworfenen Kleidungsstücke meines Schwagers und in meinem Kopf klärten sich immer mehr Gedanken auf. Verkleinern und Vergrößern, die Hexe und der Böse Mann, Viktoria und Danielle, Stromschlag und Umpolen, Flucht und Amputation, all’ das hatte ich wirklich erlebt.

Um die Gedanken bändigen zu können, beschloss ich, aufzustehen, auch um endlich wieder einen Tag mit etwas Koffein zu beginnen. Ich zog daher die Kleidung meines Schwagers an, bog zu einem kurzen Zwischenstopp ins Gäste-WC ab, um mir etwas Wasser über das Gesicht laufen zu lassen, und ging dann zur Küche. Meine Hoffnung, dort noch niemanden anzutreffen, machte meine Schwester zunichte. Sie wuselte schon in der Küche umher und ich konnte ihr nicht mehr ausweichen.

Als sie mich erblickte, bewegte sie sich wortlos zur Kaffeemaschine, legte ein Kaffee-Pad hinein, schaute mich an und nahm ein weiteres Pad, um es dazuzulegen. Als der Kaffee durchgelaufen war, reichte sie mir den Becher und ich setzte mich damit an den Küchentisch.

»Danke. Und guten Morgen«, konnte ich herausbringen.

Meine Schwester wusste, dass sie mich noch nicht ansprechen durfte und konnte, und so nahm ich erst einmal einen großen Schluck aus dem Becher zu mir. Wie hatte ich doch Kaffee vermisst! Auch wurden leichte sich im Ansatz befindliche Kopfschmerzen gleich im Keim erstickt. Weitere Schlucke nehmend schaute ich meiner Schwester zu, wie sie die Spülmaschine ausräumte.

Da wir noch alleine waren, musste sie mir die unausweichliche Frage stellen, die mir auch schon mein Schwager gestellt hatte.

»Du hast jetzt gleich zwei Freundinnen mitgebracht?« 

Wieder antwortete ich: »Die kleine Vicky wurde mir sozusagen zugeteilt und die große Danielle ist uns dann sozusagen noch zugelaufen.« 

Wie mein Schwager war auch meine Schwester gut darin, mir schräge Blicke zuzuwerfen; daran hatte sich seit der Kindheit nichts geändert.

Weitere Fragen zu Details meiner Gefangenschaft konnte ich zum Glück mit dem Hinweis auf die laufenden polizeilichen Ermittlungen gleich abwürgen.

Bald erschienen auch Danielle und Viktoria in der Küche. Nach vielen von den üblichen schrägen Blicken meiner Schwester begleiteten Guten-Morgen-Küsschen war die Konversation sowieso mehr auf die Zukunft, als auf die Vergangenheit gerichtet. Als ich beide zusammen sah, waren meine Gedanken ebenfalls in die Zukunft gerichtet, was ich aber nicht laut aussprechen konnte und wollte. Irgendwann musste ich alleine oder Viktoria, Danielle und ich gemeinsam eine Entscheidung treffen, um aus dem Dilemma der zwei Lebensgefährtinnen wieder herauszukommen. Beide Frauen hatten ihre, auch optischen, Vorteile, beide waren mir positiv zugetan und mit beiden hatte ich tatsächlich schon einmal Sex, wenn auch eher gezwungenermaßen. Ich wollte zwar niemanden bevorzugen, aber der Zeitpunkt rückte näher, an dem ich mich definitiv zwischen Danielle und Viktoria entscheiden musste.

Zu meiner großen Erleichterung wurde ich gleich am folgenden Tag vom Thema abgelenkt, da uns eine E-Mail erreichte, dass Jonas in kürzester Zeit allen einen gemeinsamen Anwalt für die Nebenklage beschafft hatte.

Alle hatten sich auf Anraten des Anwalts erst einmal krankschreiben lassen. Ich hatte mir das Auto meiner Schwester ausgeliehen und brachte die Krankmeldung persönlich bei meinem Chef vorbei, auch um mich wieder einmal in der Firma blicken zu lassen. Durch die Vermisstenmeldung meiner Schwester und eine offizielle Bestätigung der Polizei gab keinen Ärger bei meinem Arbeitgeber, da konnte mich mein Chef gleich beruhigen. Ich erzählte natürlich nicht alles, auch hatte ich ja eine offizielle Begründung, da die kriminalpolizeilichen Ermittlungen noch liefen.

Zu meiner Erleichterung lief ich nur wenigen Kollegen über den Weg, auch da ich eine Zeit ausgesucht hatte, von der ich wusste, dass nur noch die wenigen Spätkommer und Spätgeher da sein würden, zu denen auch mein Chef gehörte.

Er hatte mir sehr verständnisvoll dargelegt, »bei allem, was ich durchgemacht hatte«, auch eine längere Abwesenheit bis zu dem Zeitpunkt akzeptieren zu wollen, bis zu dem eine Lohnfortzahlung gerade noch akzeptabel war. Auch sollte ich es anschließend langsam angehen lassen und zunächst wenige Tage pro Woche im Homeoffice verbringen.

Nach dem Gespräch führte er mich zu einem Abstellraum, in dem mehrere Kartons unterschiedlicher Größen aufgestapelt waren. Es stellte sich heraus, dass es ich um einen großen Monitor, eine Tastatur nebst Maus sowie eine Docking-Station handelten. Zusammen mit meinem Firmen-Notebook bildeten die Geräte die technische Ausstattung meines Homeoffice-Arbeitsplatzes. Erst dachte ich, alles wäre speziell für mich beschafft worden, aber da laut meinem Chef die Firma Büroflächen abbauen wollte, war ich spontan zum Homeoffice-Pilotanwender auserkoren worden. Er drückte mir abschließend noch eine Art Teilzeitvertrag für diese Phase in die Hand, und ich war froh, dass alles so unkompliziert abgelaufen war.

Unser Fall schlug recht hohe Wellen in den Medien, aber es konnte vermieden werden, dass außer den ersten und auch noch unscharfen Fernsehaufnahmen, bevor die Sichtschutzzäune aufgebaut worden waren, unsere Gesichter nicht weiter auftauchten. Dies hing auch damit zusammen, dass sich alle eine strikte Selbstdisziplin in den Social Media auferlegt hatten, ich war sowieso noch nie ein Freund der ganzen übertriebenen Social-Media-Selbstdarstellung. Die wenigen Ausreißer in den Medien wurden von unserem Anwalt gleich mit Unterlassungsklagen überzogen. Zumindest auch Viktorias und mein Chef hielten dicht, was sich für Personalvorgesetzte eigentlich auch gehörte.

Schnell war das Ganze in den Medien aber durch andere Themen abgelöst worden, zum Beispiel durch Nacktfotos irgendeiner Spitzensportlerin und einen sehr merkwürdigen Korruptionsskandal. Es galt aber weiterhin der uns selbst auferlegte offizielle Sprachgebrauch, nämlich dass wir entführt oder verschleppt worden waren, aber nichts weiter, kein Maßstab Eins zu zweiundzwanzig Komma fünf, keine Hexe, nichts dergleichen.

Alles konnte sich wahrscheinlich wieder schnell ändern, wenn der Prozess gegen die Hexe beginnen sollte. Noch aber war der Termin nicht einmal ansatzweise abzusehen, da die Sonderkommission Möbius – die Kripo hatte sie tatsächlich so benannt – sich erst einmal durch die sichergestellte Technik, die Überreste aus den Gräbern, der ganze Garten war voll davon, unseren Aussagen und noch Weiteres kämpfen musste. Außerdem hatten wohl so einige staatliche Stellen Interesse an der Technik, und diese kamen wahrscheinlich der Kripo ständig in die Quere. Bevor auch nur entfernt mit einer Anklage gegen die Hexe gerechnet werden konnte, gingen wohl noch viele Wochen ins Land.

Bis wir eine finanzielle Unterstützung in Form eines Schadenersatzes aus dem Tätervermögen bekamen, was sich durch die laufenden Ermittlungen noch weiter hinziehen konnte, bekam jeder von uns einen nicht ganz so kleinen Betrag aus einer Art Kriminalitätsopferfonds ausbezahlt, den Jonas ’ Anwaltskollegen aufgetrieben hatten. Davon wurde auch der Austausch von Türschlössern bezahlt, denn die Hexe rückte in keiner ihrer Vernehmungen damit heraus, wer außer ihr und ihrem Ehemann noch Zugriff auf die Schlüssel hatte.

Sehr schnell war auch etwas gefunden worden, mit dem wir uns weiter ablenken konnten. Mein Schwager schlug nämlich vor, ihm beim Ausbau der Einliegerwohnung zu helfen.

Diese Idee war wirklich Gold gewesen und stellte die perfekte Ablenkung dar. Auch meine zwei Gefährtinnen – immer noch hatte ich mich nicht wirklich für eine entscheiden können – waren sofort einverstanden. Und wie sie arbeiteten! Danielle entpuppte sich als hervorragende Trockenbauerin und Tapeziererin, während Viktoria mir sehr gut bei der Elektroinstallation zur Hand ging.

Schritt für Schritt vervollständigte sich so die Baustelle, und ich war froh, bald nicht mehr in einer übernachten zu müssen.

Nach ein paar Tagen, in denen sich immer mehr die Normalisierung einstellte, war es dann soweit. Viktoria und Danielle nahmen mich zur Seite. Ich ahnte Schlimmes.

»Wir hatten viel Zeit, das Ganze zu besprechen«, begann Viktoria.

In mir machten sofort mehrere Alarmsignale einen Höllenkrach. Was jetzt wohl kam?

Das ganze löste sich aber schnell auf, denn Danielle überbrachte mir die Nachricht, dass sie erst einmal zu ihrer Familie ins Elsass fahren wollte, um Abstand zu gewinnen.

»Du bist ja auch nicht meine offizielle Gefährtin«, musste ich gedankenlos daher reden, was mir einen Klaps auf die Schulter von Viktoria einbrachte.

»So war das aber auch nicht gemeint«, stellte Danielle fest, »Außerdem hattest du uns ja versprochen, uns dort herauszuholen.« 

Viktorias Miene hellte sich wieder auf und sie ergänzte: »Versprochen und gehalten!« 

»Danke euch beiden, ohne euch hätte ich es wahrscheinlich nicht geschafft«, hauchte Danielle und gab Viktoria und mir leichte Küsschen auf die Wangen.

Somit hatte sich das Problem der zwei Lebensgefährtinnen zum Glück von selbst erledigt und ich musste nicht in irgendeiner Form tätig werden, was mir Beziehungs-Nicht-Experte auch sehr zugegen kam.

Fast zeitgleich mit Danielles Abreise waren Viktorias und meine Wohnungen von der Kripo freigegeben worden und wir konnten endlich bei meiner Schwester ausziehen.

Viktoria meinte sofort: »Ich kann jetzt aber nicht alleine sein.« 

Wir beschlossen daher, uns immer eine Woche in ihrer und dann eine Woche in meiner Wohnung aufzuhalten.

Es waren auch schon alle Schlösser ausgetauscht worden, und wir konnten in der Anwaltskanzlei unsere jeweiligen Schlüsselbunde entgegennehmen.

Da ich damals mit dem Zug zu meiner Schwester gefahren war, stand mein Auto noch auf dem Tiefgaragenstellplatz meiner Wohnung. Daher hatte mein Schwager angeboten, Viktoria und mich zu meiner Wohnung zu fahren – ein Angebot, was wir gerne annahmen.

Zunächst einmal sahen wir in meiner Wohnung nach dem Rechten, um uns am Folgetag Viktorias Wohnung vorzunehmen. Danach wollten wir aber den wöchentlichen Wechsel beibehalten.

Es war gar nicht so viel Arbeit wie gedacht vonnöten, die Wohnungen wieder in Schuss zu bringen. Bei mir hatte meine Schwester in ihrer unnachahmlichen Gründlichkeit und bei Viktoria ihre Nachbarin für Ordnung gesorgt, dennoch war an einigen Stellen eine mehr oder weniger dicke Staubschicht entstanden und auch die Lebensmittelbestände mussten wieder aufgestockt werden.

Gleich mit dem ersten Einkauf hatte ich zwei elektrische Fliegenklatschen besorgt, die wie kleine Tennisschläger aussahen. Dafür wanderte die echte, »manuelle« betriebene, in den Müll, da ich diesen Anblick wahrscheinlich nie wieder ertragen würde. Viktoria tat es mir nach, als wir das nächste Mal in ihrer Wohnung waren.

Viktoria und ich harmonierten überraschend gut miteinander, und das lag nicht unbedingt nur daran, dass wir gemeinsam einiges durchgestanden hatten. Irgendwann jedoch musste der Zeitpunkt kommen, an dem beide wieder einer regelmäßigen Tätigkeit nachgehen mussten und wir uns zu entscheiden hatten, wo dies sein sollte und wie wir weiter zusammenleben wollten.

»Ich habe da schon etwas in der Planung«, überraschte sie mich, ohne weiter darauf eingehen zu wollen.

Ich konnte nur mit »Häh?« reagieren. Vor meinem geistigen Auge erschien ein hell erleuchteter Schriftzug Verlobung an Horizont.

»Auf jeden Fall will ich aus der Stadt mit dem Haus der Hexe weg!«, fuhr sie fort.

»Zu meiner Schwester gehen wir aber schon noch ab und zu?« 

»Ja, aber ich will in der Stadt aber nicht mehr dauerhaft wohnen.« 

Meine Alpträume ließen dank Psychotherapie und dazugehöriger leichter Psychopharmaka nach, auch Viktoria hatte sich in Therapie begeben.

Nach der Krankschreibung konnte ich mich mit ein paar Homeofficetagen pro Woche wieder langsam ans Arbeitsleben gewöhnen. Weiter gab es regelmäßige Treffen bei unserem Anwalt. Reinhold befand sich noch immer in der Klinik.

Wir hatten uns daher darauf geeinigt, ihn abwechselnd zu besuchen, seit er von der Intensivstation auf eine normale Station verlegt worden war, damit ihm nicht langweilig wurde. Viktoria und ich waren gleich beim ersten Termin an der Reihe. Es gab ein großes Wiedersehen und tatsächlich fing Viktoria wieder das Weinen an. Reinhold selbst sah das ganze eher pragmatischer.

»Bin ich froh«, meinte er, »dass ich mit beiden Händen einigermaßen leserlich schreiben kann, das hilft mir jetzt.« 

Der rechte Oberarm war überraschend gut verheilt, obwohl die fehlgeschlagene Rematerialisierung einen sehr ausgefransten Stumpf hinterlassen hatte und einige Operationen notwendig gewesen worden waren, dort einen sauberen Abschluss herzustellen.

Alina hatte sehr bald einen gesunden Jungen zur Welt gebracht, dem die Rückvergrößerung offenbar nicht geschadet hatte. Zufällig geschah es im gleichen Krankenhaus, in dem auch Reinhold lag. Natürlich mussten wir auch sie besuchen.

Weiterhin fanden unregelmäßige Treffen mit unserem Anwalt statt, bei denen Viktoria und ich die anderen Däumlinge wiedertrafen. Auch sie hatten bis auf diese Anwaltstermine mehr oder weniger in ihr normales Leben zurückgefunden.

Zum ersten Prozesstag waren wir nur mit kleiner Mannschaft angerückt. Danielle blieb zunächst bei ihrer Familie im Elsass, Sofija in Kroatien, Alina mit ihrem Kind zu Hause und Reinhold war weiterhin in Behandlung. Alle anderen wollten erst dann anreisen, wenn ihre Zeugenaussagen anstanden.

Das Gerichtsgebäude war einer dieser furchtbaren Siebziger-Jahre-Kästen mit viel Sichtbeton, bei dem versucht wurde, durch viele dunkelbraune und orangefarbige Holzvertäfelungen etwas Abwechslung zu schaffen, was aber die Tristesse nur noch verstärkte. Auch der Gerichtssaal, in dem unser Prozess stattfand, setzte dieses »Ambiente« fort. Alles wirkte irgendwie abgewohnt und angegammelt, so als ob das Gebäude seit 1977 nicht mehr richtig tiefengereinigt, geschweige denn renoviert worden war. Verstärkt wurde der antike Eindruck dadurch, dass von Justizangestellten mehrere Wägelchen mit wahren Papieraktenbergen darauf in den Saal gerollt wurden.

»Trotz des Gammels hat mir das alte Gerichtsgebäude mit den Richterbüros eigentlich besser gefallen«, musste auch Viktoria feststellen, »diese Betonwüste geht ja gar nicht!« 

Es kam mir wirklich vor wie eine Zeitreise in die Vergangenheit.

Wer weiß, vielleicht hätte der Böse Mann auch noch eine Zeitmaschine erfunden, wenn er sich nicht selbst außer Gefecht gesetzt hätte. Vielleicht hätte er sich dann mit der Hexe in die Zukunft abgesetzt, vielleicht wäre er nach jedem missglückten Versuch in die Vergangenheit zurückgereist, um den Fehler zu korrigieren, und hätte dann nur noch mehr Unheil angerichtet. Vielleicht, vielleicht, vielleicht… 

Meine Gedanken wurden durch Bewegung im Gerichtssaal und eine leise stöhnende Viktoria unterbrochen, denn jetzt wurde die Hexe hineingeführt. Auch mir lief es kalt den Rücken herunter. In Handschellen wurde sie von gleich drei sehr kräftig aussehenden Vollzugsbeamten an ihren Platz geführt.

Als kurze Zeit später der Richter und die Schöffen den Saal betraten, standen wir auf und ich musste Viktoria festhalten, die alleine vom Anblick der Hexe einen leichten Schwächeanfall bekommen hatte.

Nachdem die Verteidigung gleich zu Beginn mehrere – von unserem Anwalt nachher als »äußerst dubios« bezeichnete – Anträge eingebracht hatte, die erst vom Gericht bewertet werden mussten, war der erste Prozesstag nach nur etwas mehr als zwei Stunden gleich wieder beendet.

»Für’s erste Mal reicht’s. Ich weiß nicht, ob ich die Hexe auch noch länger ertragen hätte«, sagte Viktoria.

Nach einer Weile zog Viktoria bei mir ein, da sie sich firmenintern in meine Stadt hatte versetzen lassen, weil sie sich nicht mehr länger als nötig in der Stadt aufhalten wollte, in der sie so lange gefangengehalten worden war. Als Doppelverdiener gemeinsam in einer einzigen Wohnung hatten wir dann soviel Geld übrig, so dass wir uns auch etwas leisten konnten.

Das ganze Sicherheitstheater an Flughäfen war nicht wirklich mein Fall und ich sah das ganze Kofferpacken eher als lästig an, schlug ich über ein langes Wochenende hinweg eine kurze Fernreise vor, nachdem wir die Termine für unsere Aussagen vor Gericht bekommen hatten.

Viktoria war sofort einverstanden.

»Erst ’mal weit weg von allem!«, meinte sie.

Auch wenn ich vor allem kurze Reisen eher als stressig empfand, so entschädigte der Anblick einer zufriedenen Viktoria im Bikini auf einer Liege am Hotelpool für Einiges und wir kamen doch deutlich erholt von der Reise zurück.

Da unsere Zeugenaussagen vor Gericht auch ohne die Anwesenheit der Angeklagten in Form von Videoaufzeichnungen durchgeführt werden konnten, konnten wir diese glatt über die Bühne bringen, ohne von der Hexe abgelenkt zu werden. Ich war unserem Anwalt sehr dankbar, dass er diese Möglichkeit bei Gericht durchgesetzt hatte.

Schon drei Monate später fand der Prozess gegen die Hexe endlich ein Ende.

Von der Sonderkommission »Möbius« waren so viele Beweise sichergestellt worden, dass deren Katalogisierung und Auswertung eine sehr lange Zeitspanne in Anspruch genommen hatte. Die Verteidigung hatte noch versucht, die Unzurechnungsfähigkeitskarte zu spielen, aber der Kriminaltechnik war es gelungen, Teile von Aufzeichnungen der Überwachungskameras aus dem Modellbahnzimmer wiederherzustellen. Eine dieser Aufnahmen zeigte die Hexe, wie sie jemanden mit der Fliegenklatsche totgeschlagen hatte. Das war eindeutig und nicht wegzudiskutieren, ebenso wie die im Haus gefundenen Geldbörsen und Schlüssel und auch die Gräber im Garten. Der letzte Prozesstag sollte daher nur noch eine Formsache sein.

Ich lebte immer noch mit Viktoria zusammen, in ein paar Wochen würde ich sogar die Rekordmarke einer meiner am längsten haltenden Beziehungen erreichen, sogar inklusive der Verlobungszeit.

Eines Tages überraschte mich Viktoria mit der Nachricht, dass Danielle zurückgekehrt war – und das, obwohl es ihr zunächst schwer fiel, in der »bösen Stadt« zu wohnen.

Die Firma meines Schwagers hatte nämlich dringend jemanden gesucht, der sie bei der Betreuung von neu im französischsprachigen Ausland akquirierten Kunden unterstützte. So hatte er Danielle als hauptamtliche Übersetzerin für Verträge, Handbücher undsoweiter engagiert.

Sie war daraufhin in die Einliegerwohnung im Haus von Schwager und Schwester eingezogen, die wir ja zusammen mit meinem Schwager fertiggestellt hatten. Mein Schwager hatte ihr dort ein kleines Büro eingerichtet, so dass sie überwiegend von zu Hause aus arbeiten konnte. Da sie auch schon vor ihrer Verschleppung für einige Zeit arbeitslos gewesen war, konnte sie dieses Angebot nicht ausschlagen.

Danielle hatte sich selbstverständlich bereit erklärt, meinen Nichten bei ihren Hausaufgaben in Französisch zu helfen und generell mit ihnen auch die Aussprache zu üben, was sich in deutlich verbesserten Schulnoten widerspiegelte. Auch bekamen sie bei Danielle »Nachhilfe« in Mode, Schmuck und Make-Up, so dass meine Nichten jedes Mal ein wenig erwachsener aussahen, wenn ich sie besuchte. Meine erst sehr skeptische Schwester hatte ich dann gefragt, ob sie als vierzehnjähriges Mädchen nicht schon auch einmal die komplette »Kriegsbemalung« aufgetragen hatte – und sie musste bejahen und klein beigeben.

Auch entsprach Danielle voll dem französischen Klischee, diese Dinge dezent, aber wirkungsvoll einzusetzen. Sie selbst bevorzugte – auch irgendwie ein Klischee – eher kräftigere Farben, während sie sich bei meinen Nichten eher zurückhielt.

Viktoria, Danielle und meine Schwester waren darüber hinaus mittlerweile beste Freundinnen geworden und trafen sich regelmäßig zum Kaffeeklatsch.

Obwohl das Haus, in dem sie so lange gefangengehalten worden war, nicht allzu weit vom Haus meiner Schwester entfernt war, bekam Viktoria bei jeder Fahrt dorthin weniger Panik, was ich als sehr gutes Zeichen wertete. Nun hatte Danielle auch stark vorgelegt, indem sie bei meiner Schwester eingezogen war, und da musste Viktoria einfach mitziehen. Ihr Gemütszustand besserte sich zusehends, als sie eines Tages von meiner Schwester mitgeteilt bekam, dass vor kurzem neben dem »bösen Haus«, wie Danielle es nannte, ein riesiger Abrissbagger aufgebaut worden war und zumindest der Vorgarten nach und nach mit großen Schuttmulden vollgestellt wurde.

Weiterhin herrschte auffälliges Schweigen in allen Medien zum Thema »Verkleinerungsanlage«. Viktoria hatte sofort eine Theorie.

»Die haben alles abgebaut und in einem geheimen Forschungsinstitut wieder aufgebaut!«, meinte sie.

Ich warf ein: »Wer ist ›die‹? Sei doch froh, dass du nicht ständig daran erinnert wirst.« 

»›Die‹ sind geheime Geheimagenten. Wir werden das in ein paar Jahren ja sehen.« 

»Wenn du meinst…« 

Da mir bewusst war, dass sich hier mit ihr nicht wirklich weiter zu diskutieren lohnte, sprach ich das Thema in ihrer Gegenwart nie wieder an.

Ich war mittlerweile zur vollen Arbeitswoche zurückgekehrt, wenn auch für mehrere Tage im Homeoffice, da gab es noch einmal eine große Aufregung, denn der Beginn des letzten Prozesstags rückte näher.

Wir hatten uns zwei Stunden vor Prozessbeginn vor dem Gerichtsgebäude verabredet. Der Medienandrang war zwar recht stark, aber nicht so stark wie befürchtet, denn wegen eines großen Skandals an einem europäischen Königshaus gab es wohl Wichtigeres zu berichten.

Ein Massenmörderehepaar, das über dreißig Menschen auf dem Gewissen hatte und viele Jahre lang unbehelligt Menschen verschleppen konnte, hatte diese Stadt noch nicht gesehen. Entsprechend groß war dann doch der Medienauflauf, und meine drei Damen hatten sich schon vorsorglich Sonnenbrillen ins Haar geschoben, um sie gleich nach Prozessende aufsetzen zu können.

Eine ältere Frau, die sich als Alinas Mutter vorstellte, verteilte vor dem Gerichtsgebäude kleine weiße mit goldenen Herzen bedruckte Karten an uns. Viktoria schaute die Karte an und gab einen quietschenden Laut von sich. Sie hielt mir die Karte, eine Einladung zur Hochzeit von Alina und Jonas, vor die Nase. Hoffentlich kam sie jetzt nicht auf dumme Gedanken – ich musste gleich wieder an mein Verlobungsdesaster denken.

Danielle hatte ihren neuen Freund mitgebracht, einen riesigen Kerl mit kurzen rötlichen Haaren und einem langen rötlichen Vollbart, der unter dem Kinn zu einem kleinen Zopf geflochten war. Er entsprach optisch nahezu perfekt dem Klischee eines starken Mannes aus Irland und war tatsächlich Ire mit einem typisch gälischen Vornamen, bei dem praktisch nur ein Buchstabe so gesprochen, wie er geschrieben wurde. Auch er war Übersetzer, aber für Englisch, und arbeitete ebenfalls freiberuflich für die Firma meines Schwagers. Seine leuchtend hellblauen bildeten einen wunderbaren Kontrast zu ihren dunkelbraunen, fast schwarzen Augen.

Ich war richtig erleichtert gewesen, als Danielle sich endlich wieder etwas fester gebunden hatte – und ich damit hoffentlich aus dem Schneider war. Denn was konnte bei diesem Paar aus dem Bilderbuch, einer Klischee-Französin und einem Klischee-Iren, schon schiefgehen… 

Bevor ich mir weitere Gedanken über Hochzeiten, Verlobungen undsoweiter machen konnte, bekam Reinhold seinen großen Auftritt. Er hatte viele Monate in Krankenhäusern, Spezialkliniken und Laboren zugebracht. So konnte er uns nun seine neue Armprothese präsentieren, ein nagelneues High-Tech-Produkt mit Steuerung der Finger durch Nervenimpulse. Auch lernte ich seine Frau kennen, eine kleine und sehr knuffige Person, die sehr gut zu ihm passte.

Sofija war in Begleitung ihres ältesten Bruders aus Kroatien erschienen. Sie selbst arbeitete immer noch in Deutschland als Krankenschwester.

Danielle hatte rechtzeitig eine Warnung herausgegeben, nicht zu viel Schminke aufzutragen, und diese erschien mir jetzt aufgrund der vielen Küsschen und Umarmungen auch gerechtfertigt. Auch ohne viel Schminke sahen die Frauen deutlich frischer und gesünder aus als damals in der Gefangenschaft.

Wegen des großen Publikumsandrangs war der letzte Prozesstag in den größten Gerichtssaal im »Neubau« verlegt worden. Die Zuschauer bestanden etwa zur Hälfte aus Angehörigen aller Opfer, auch die gesamte Familie meines Schwagers und sogar Viktorias Kusine in Nordwestdeutschland hatten sich eingefunden. Wir Überlebenden und Nebenkläger hatten uns vor dem eigentlichen Beginn des Prozesstags in einem Besprechungsraum neben dem Gerichtssaal versammelt. Alle hatten sich in Schale geworfen, die Herren – obwohl ich diese Art von Kleidung hasste – in Anzug und Krawatte und die Damen in sehr schicken Kleidern, Hosenanzügen und Röcken, auf Anraten unseres Anwalts aber »bitte nicht zu sexy«.

Wie zu erwarten, hatten alle Damen »geliefert«, wie es so schön hieß. Ich hatte den Verdacht, dass Danielle daran nicht ganz unschuldig war.

Viktoria hatte sich für ein schmales, aber nicht zu eng geschnittenes schwarzes Kleid entschieden, das bis knapp unter die Knie reichte. Ich wusste gar nicht, dass sie so etwas besaß, und sie sah wirklich sehr attraktiv darin aus. Danielle trug einen weiten cremefarbenen Hosenanzug und darunter eine weiße Bluse aus einem glänzendem und sehr fließenden Stoff mit nur leicht angedeutetem Ausschnitt, was sie wie ein Filmstar aussehen ließ. Ein anthrazitfarbenes Kostüm machte aus Sofija eine Art Abteilungsleiterin – und sie meinte, dass sie auch tatsächlich wie ihre Chefin aussah. Alina war mit einer dreiviertel langen schwarzen Hose und einer rosafarbenen Bluse bekleidet.

Alle hatten sich außerdem nicht für »High Heels«, sondern für Schuhe mit nicht allzu hohen Absätzen entscheiden.

Zusammen machten wir in diesem Raum den Eindruck einer Managementbesprechung eines Großunternehmens, lediglich unser Anwalt fiel mit seiner weißen Krawatte und seiner schwarzen Robe etwas aus dem Rahmen.

Die Beweislage war eigentlich erdrückend genug gewesen, so dass keine Zeugenbefragungen in letzter Sekunde mehr zu erwarten waren; unser Anwalt hätte in diesem Fall auch auf eine nichtöffentliche Vernehmung bestanden. Ein Freispruch der Hexe kam eigentlich nicht mehr in Frage, da sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung mit unterschiedlich hohen Haftstrafen ins Rennen gegangen waren.

Ein Gerichtsdiener rief uns in den Saal hinein und die Aufregung stieg.

Der Gerichtssaal war in den vergangenen Monaten für einen großen Prozess gegen die Organisierte Kriminalität umgebaut worden, und so wurde die Hexe als Angeklagte in einen deckenhohen Glaskasten hineingeführt.

»Jetzt noch Gitterstäbe und dann passt das schon«, flüsterte Viktoria.

Für die Nebenkläger war die erste Reihe des Zuschauerbereichs reserviert, nur unser Anwalt und Jonas als unser auserkorener Sprecher hatten neben der Staatsanwaltschaft ihre Plätze eingenommen. Ohne dass ich es verhindern konnte, kam ich genau zwischen Viktoria und Danielle zu sitzen. Auf ihrer anderen Seite saß zum Glück Danielles neuer Freund, so dass ich mir hierüber keine Sorgen mehr zu machen brauchte.

Weder von der Verteidigung noch von der Anklage wurden noch irgendwelche Anträge oder gar Zeugenvernehmungen eingebracht, so dass der Vorsitzende Richter bestimmen konnte, noch vor der Mittagspause die Plädoyers abzuschließen, um danach dann mit der Urteilsverkündung und -begründung den Prozess beenden zu können.

Die Urteilsverkündung selbst dauerte recht lange, einfach weil so viele Taten begangen wurden. Die Taten selbst wurden dann nach einem wohl nur von Juristen nachvollziehbaren System als Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge undsoweiter gewertet.

Jetzt noch einmal die nackte Statistik vorgetragen zu bekommen, schockierte mich dann doch ein wenig. Als ich mich umschaute, konnte ich feststellen, dass einige Augen deutlich feuchter wurden, und Sofija hatte schon vorsorglich ein Taschentuch in die Hand genommen.

Es konnten im Garten siebzehn vergrabene Personen anhand von Zahnprofilen und DNA-Spuren eindeutig identifiziert werden. Minus der Böse Mann, der dort im frischsten Grab lag, waren dort also sechzehn Opfer der ersten Verkleinerungsversuche aufgefunden worden. Hinzu kam eine nicht weiter ermittelbare Anzahl von Hunden und Katzen.

Viktoria flüsterte mir ins Ohr: »Sie haben also erst Tier- und dann Menschenversuche gemacht.« 

Nun konnte ich mich auch wieder daran erinnern, dass meine Schwester sich früher öfters einmal über die vielen in ihrer Nachbarschaft verschwundenen Hunde und Katzen beklagt hatte.

Die Blut- und Gewebereste auf der Fliegenklatsche konnten immerhin vier Personen eindeutig zugeordnet werden, darunter auch Frank, was Danielle zu einem kleinen Schluchzer veranlasste. Fünfzehn Geldbörsen und Schlüsselbunden waren keinen menschlichen Überresten zuzuordnen. Reinhold und ich gingen damals davon aus, dass die Daten in der Verkleinerungsanlage bei der Übertragung gelöscht worden waren, ähnlich wie es dann bei seinem Arm passiert war.

Weitere Delikte waren dann Menschenraub, sexuelle Nötigung und diverse Einbrüche in die Opferwohnungen, so dass unserem – in diesem Punkt vollkommen unsensiblen – Anwalt zufolge ein neuer »High Score« in seiner Karriere erreicht worden war.

Das Urteil fiel dann eindeutig aus, nämlich Lebenslänglich ohne Aussicht auf frühzeitige Entlassung oder wie es in Juristendeutsch genannt wurde. Es gab keine Abstriche wegen Unzurechnungsfähigkeit, dafür waren die Videobeweise zu eindeutig. Sowohl Viktoria als auch Danielle hielten meine Hände fest umklammert, als das Urteil verkündet wurde.

Während der Urteilsbegründung quatschte Viktoria ständig leise dazwischen.

»Sie hat zwar echt ’was am Helm, aber hat das mit voller Absicht getan.« – »Er war nicht doof, sonst hätte er die ganze Technik nicht bauen können.« – »Soll sie ohne Tageslicht und bei schlechtem Essen verrecken, so wie es auch für uns vorgesehen war.« 

Nach der Urteilsbegründung war alles vorbei, die Hexe wurde abgeführt und ich konnte Viktoria gerade noch davon abbringen, lautstark zu applaudieren.

Beim Aufstehen hatte ich dann Blickkontakt mit dem Kripo-Mann und winkte ihm zu. Er reagierte mit einem kurzen Nicken.

Viele auf Anraten unseres Anwalts zusätzlich auf Abruf stehende Justizbeamte kamen jetzt in den Gerichtssaal, um die vielen Medienvertreter in ihre Schranken zu weisen. Trotzdem wäre es aber fast zum Eklat gekommen, da mehrere Opferangehörige anfingen, einen allzu aufdringlichen Fotografen zu verprügeln. Prompt fackelte der Richter nicht lange, bestand auf sein Hausrecht und alle Medienvertreter wurden mit Justizbeamten aus dem Gerichtsgebäude eskortiert.

»Die haben aber auch selber schuld«, musste Viktoria feststellen.

Aus dem hinteren Teil des Zuschauerbereichs kam ein großer Mann auf uns zu, der mir vorher nicht wirklich aufgefallen war, dessen Gesichtszüge mich aber an jemanden erinnerten. Auch Viktoria stoppte, wurde wieder einmal bleich und starrte ihn an.

»Der sieht ja so aus wie…«, sagte sie zu mir.

Ich bestätigte: »Die Ähnlichkeit ist unglaublich.« 

Wie wir vermutet hatten, stellte er sich tatsächlich als der Zwillingsbruder der Hexe heraus. Mir kam in den Sinn, vor langer Zeit gelesen zu haben, dass es sehr oft einen »guten« und einen »bösen« Zwilling geben kann. Die Hexe war wohl eindeutig dem »bösen Zwilling« zuzuordnen.

»Ihr seid die Überlebenden, nicht wahr?«, begrüßte er uns.

Ich nickte und er stellte sich in unsere Mitte.

Mit immer feuchter werdenden Augen stellte er fest: »Es ist alles meine Schuld! Ich hätte sie schon vor Jahrzehnten stoppen können – und müssen!« 

Wir wollten gerade etwas erwidern, da hob er die Hände.

»Es tut mir leid!«, unterbrach er uns, »Es hätte niemals erst über dreißig Tote geben müssen, bevor sie endlich gestoppt wurde! Am anderen Ende der Welt bin ich leider etwas von Nachrichten aus Deutschland abgeschnitten, sonst hätte ich schon längst eingegriffen.« 

Eine mittlerweile weinende Alina übergab ihren Sohn, den sie auf dem Arm gehalten hatte, ihrer Mutter und umarmte den Bruder der Hexe.

»Das konnte niemand voraus ahnen«, sagte sie und drückte ihn an sich.

Zur Ablenkung schaute ich aus einem Fenster. Alle Medienvertreter hatten sich mittlerweile in einem großen Halbkreis vor dem Gerichtsgebäude aufgebaut und bildeten eine Art Riegel, so dass ein Durchkommen fast unmöglich erschien. Aber auch hier hatte unser – wirklich sein Geld wert gewesener – Anwalt in Absprache mit der Jusitzverwaltung einen Weg gefunden, uns durch einen genau zu diesem Zweck gebauten Tunnel unbemerkt in ein Nebengebäude und von dort aus hinaus führen zu können. Wir luden nach kurzer Absprache spontan den Bruder der Hexe ein, mit uns an dieser »Abschlussfeier« teilzunehmen, der sich uns auch gleich anschloss.

So kamen wir wohlbehalten und ohne von Reportern belästigt worden zu sein, an dem von Jonas ausgesuchten Restaurant an.

Er hatte dort einen ganzen Nebenraum für uns reserviert und sofort mussten wir den Bruder der Hexe ausfragen, der alle Fragen geduldig über sich ergehen ließ.

Wie sich herausstellte, war er als nächster lebender Verwandter nach Deutschland gekommen, um den Hausstand seiner Schwester aufzulösen und Haus und Grundstück zu verkaufen. Da er sich nach seiner Auswanderung ein kleines Unternehmen hat aufbauen können, war er zwar nicht unvermögend, erhoffte aber durch diese Verkäufe den Schadensersatz aufbringen zu können, der den Opfern zugesprochen worden war.

Er fing an, eine Geschichte zu erzählen, die wie ein düsterer Horrorkrimi klang. Die Hexe hatte schon als Kind gerne erst Tiere und dann auch Menschen gequält. Ihren vier Jahre jüngeren Stiefbruder hatte sie dadurch in die Drogensucht getrieben, so dass er knapp zwanzigjährig an einer Überdosis verstarb. Als ihre Eltern dann ein paar Jahre später bei einer – nie vollständig aufgeklärten – Gasexplosion in einem Wohnwagen ums Leben gekommen waren, verdächtigte der Zwillingsbruder wiederum seine Schwester.

Nach diesem Ereignis fasste er außerdem den Entschluss, zwischen ihm und ihr die maximal mögliche räumliche Distanz aufzubauen, also in etwa eine halbe Erdumrundung. Seine Abreise zur Auswanderung nach Neuseeland, dem einzig logischen Ziel, fand zufällig genau an dem Tag statt, als seine Schwester und der Böse Mann standesamtlich geheiratet hatten.

»Im Nachhinein glaube ich aber, dass dieser Termin vom Karma vorbestimmt worden war«, ergänzte er, »denn als ich die Auswanderungsvorbereitungen abgeschlossen und den Flug gebucht hatte, wusste ich nichts von der Hochzeit. Ich hatte nämlich nach dem Tod meiner Eltern den Kontakt zu meiner Schwester vollständig abgebrochen.« 

Zum Glück fand die Horrorgeschichte ein baldiges Ende, denn schnell änderte sich das Gespräch auf geschäftliche Themen.

Mein Schwager bekam leuchtende Augen, als er feststellte, dass seine Firma und die Firma des Bruders der Hexe sich in einigen Produktbereichen ganz hervorragend ergänzten. Sehr bald zogen sich beide an einen Nachbartisch zurück, um auch gleich mit ersten Geschäftsverhandlungen zu beginnen; ich bekam lediglich noch das Wort »Exklusivvertrieb« mit. Schon bald gesellte sich – unter Alinas mehr oder weniger lautem Protest – Jonas dazu, der als Anwalt für Wirtschaftsrecht dabei einfach nicht still sitzen konnte. Meine Schwester beklagte sich ebenfalls, dass ihr Gatte nicht einmal hier seine Arbeit loslassen konnte.

Ich empfand es als gar nicht einmal so verkehrt, da ein Wechsel weg von den Themen Hexe, Fliegenklatsche und über dreißig Tote hin zum Alltagsleben allen gut tat. Viktoria, meine Schwester und meine Nichten waren sowieso schon durch Alinas Nachwuchs ausreichend abgelenkt. Ich hoffte nur, dass es bei Viktoria nicht gleich Nachwuchswünsche auslöste.

Kurz nach Mitternacht, die Familie meiner Schwester war schon gegangen und Alinas Junge schlief tief und fest in seinem Kinderwagen, stand Jonas auf, klopfte mit einem Löffel an ein Glas und bat um Aufmerksamkeit.

»Liebe Mitgefangene!«, begann er, und ich war froh, dass er nicht Däumlinge benutzte, trotz seines mittlerweile etwas gestiegenen Promillespiegels.

Er fuhr fort: »Nachdem wir nun hier alle zusammensitzen, hätte ich einen Vorschlag: Wir könnten doch ein Mal im Jahr immer so zusammensitzen. Wir haben ja die Auswahl zwischen dem Tag, als wir uns befreien konnten, und dem Tag, an dem die Hexe verurteilt und hoffentlich für immer weggesperrt worden war. Daher sollten wir einen Beschluss fassen, diesen Tag zukünftig immer gemeinsam zu feiern.« 

Sofort waren alle einstimmig für diesen Vorschlag und wir entschieden uns für den Tag, an dem die Hexe verurteilt worden war. Alle zückten ihre Mobiltelefone – einzig Reinhold holte einen kleinen Papierkalender aus der Jackentasche –, um diesen Termin gleich für das nächste Jahr zu reservieren. Nur der Bruder der Hexe hatte seine Zweifel, ob er jedes Mal von Neuseeland herkommen konnte. Er versprach aber, vor jedem Termin eine E-Mail schreiben zu wollen.

Die folgende Verabschiedung fiel zum Glück weit weniger tränenreich aus, als ich befürchtet hatte. Alle versprachen, weiterhin in Kontakt zu bleiben, was zumindest für Danielle, Viktoria und mich sowieso zutraf.

Viel zu spät in der Nacht kamen Viktoria und ich nach Hause, trotzdem bestand ich noch auf einen kurzen Umweg über den Keller.

»Was soll ich denn um diese Zeit noch im Keller?», fragte Viktoria.

Ich antwortete: »Vicky, ich muss dir endlich ’mal etwas beichten.« 

Nun schien doch ihre Neugier geweckt worden zu sein.

»Etwas beichten? Hier im Keller? Da bin ich aber gespannt.« 

Ich schloss meinen Kellerraum auf, ging hinein, holte einen großen Karton aus einem Regal und legte ihn auf einem alten Küchenstuhl ab.

»Komm’ rein und schau’ ’mal«, sagte ich und öffnete den Karton.

Als sie den Kellerraum betrat und in den Karton hineinschaute, bekam sie große Augen. Im Karton stapelten sich bunte Schachteln mit Waggons und Lokomotiven, wenn auch in einem kleineren Maßstab als auf unseren zwanzig Quadratmetern Gefangenschaft. Viktoria zeigte einen eher ratlosen Gesichtsausdruck.

Ich nahm eine Schachtel mit einer Lokomotive darin heraus, zeigte sie ihr und fuhr fort: »Nun siehst du es, was ich dir lange verschwiegen habe: Auch ich bin ein Modelleisenbahnfan!« 

Sie schaute mich mit großen Augen an und brach dann in ein prustendes Lachen aus.

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