Kapitel 4
Verletzt

Fast zeitgleich kamen der Notarzt und eine Polizeistreife vor dem Gartentörchen an.

»Du Notarzt, ich Polente?«, fragte ich Jonas.

»Notarzt«, antwortete er und winkte den Notarzt zu sich heran.

Ich ging auf die zwei uniformierten Polizisten zu, die aus dem Streifenwagen ausgestiegen waren. Die Polizistin – es waren ein Mann und eine Frau – hatte einen großen Pad-Rechner in der Hand, auf dem sie herumwischte. Sie kam zu mir und zeigte mir auf dem Pad ein Bild von mir, auf dem ich aber viel gepflegter als vorhin vor dem Spiegel aussah.

»Das bin wohl ich«, bestätigte ich und sie blätterte ein Bild weiter.

Von der anderen Seite näherte sich mit viel Pressluftgetöse ein Rettungswagen, und der Polizist setzte sich wieder in den Streifenwagen, um ein paar Meter zurückzusetzen, damit der Rettungswagen direkt vor dem Gartentor halten konnte. Ich deutete auf den Hauseingang und die Sanitäter liefen daraufhin den Gartenweg entlang. Auf dem Pad erschien jetzt ein Bild von Jonas.

»Der auch, ist gerade eben mit dem Notarzt ins Haus gegangen.« 

Bei Franks Bild sagte ich »getötet«. Sie blätterte weiter und bei den Bildern von Viktoria und Danielle »Stop!«, um auf die Gartenmauer zu zeigen, auf der die beiden Frauen immer noch saßen.

Die Polizistin rief ihrem Kollegen zu »Fünf bereits identifiziert!«, worauf dieser ein Funkgerät in die Hand nahm und in hektische Betriebsamkeit ausbrach.

»Die anderen sind noch im Haus«, sagte ich zur Polizistin.

In diesem Moment fuhr ein zweiter Rettungswagen vor und ich führte die Sanitäter und die Polizisten ins Haus.

Im Wohnzimmer begannen die Sanitäter, sich um Alina zu kümmern. Der Notarzt war weiterhin mit Reinhold beschäftigt.

Die Polizistin schaute sich im Wohnzimmer um. Wieder wischte sie auf ihrem Pad-Rechner herum, um dann ihr Funkgerät zu greifen.

»Alle sieben zweifelsfrei identifiziert«, sprach sie in ihr Funkgerät. »Ein schwer verletzter Mann und eine hochschwangere Frau werden gerade von Notarzt und Rettungsdienst versorgt. Wir brauchen hier Kripo, Kriminaltechnik und vor allem jemand Kräftigen, der die mutmaßliche Täterin ins Präsidium überstellen kann.« 

Sie hielt inne.

»Nein, MANV ist es nicht. Ende.« 

»MANV?«, fragte ich sie.

»Massenanfall von Verletzten, wenn die Anzahl der Verletzten das übersteigt, was mit ein paar Rettungswagen noch zu stemmen ist.« 

»Nein«, bestätigte ich, »wir anderen haben keine Verletzungen. Außer einer leichten Verwahrlosung, einer leichten Unterernährung und einem mittelschweren Psychoknacks sind wir sonst wohlauf. Und sie ist keine ›mutmaßliche Täterin‹, sondern wirklich die Täterin. Aber das ist wohl euer Sprachgebrauch.« 

Sie griff wieder nach ihrem Funkgerät.

»Schick’ mir einen Notfallseelsorger hierher, aber pronto! Und die Pressestelle soll sich bereithalten! Das ist hier echt ’ne große Nummer!« 

Offenbar hatte die Polizistin den Hinweis auf den »Psychoknacks« gleich richtig verstanden. Der Notarzt winkte sie zu sich heran.

Er stellte fest: »Die Amputation sieht nicht gut aus. Ich habe deswegen einen Hubschrauber bestellt, könnt ihr bitte nach einem Landeplatz suchen und die Straße abriegeln?« 

»Machen wir!«, bestätigte sie und ging mit großen Schritten aus dem Raum.

Ich folgte ihr nach draußen, denn ich musste dringend einmal nach meinen zwei Damen auf der Gartenmauer sehen. Am Hauseingang kamen mir zwei Polizisten in Kampfmontur entgegen; diese konnten nur für die Hexe bestimmt sein.

»Hinter dem Windfang links und dann die erste Tür neben der Küche; ist ein Abstellraum«, gab ich ihnen auf den Weg mit.

Ich setzte mich zwischen Viktoria und Danielle und beide drückten sich an mich.

»Du hattest uns etwas versprochen«, hauchte Viktoria fast unhörbar.

Danielle setzte fort: »Und auch gehalten. Danke!« 

Ich legte meine Arme um beide und fast synchron legten sie ihre Köpfe auf meine Schultern. Bald spürte ich, wie sich beide Schultern leicht feucht anfühlten. Ich schien ein Händchen dafür zu haben, beide zeitgleich zum Weinen zu bringen.

Mein völlig unüberlegter Bluff hätte auch massiv nach hinten losgehen können, aber so hatte ich den Jackpot geknackt, wenn jetzt sogar zwei Frauen nicht mehr von meiner Seite wichen. Irgendwann musste ich mich allerdings für eine von beiden entscheiden… 

Wir wurden unterbrochen, da das Geräusch eines zur Landung ansetzenden Hubschraubers immer lauter wurde. Weitere Ablenkung erfuhr ich, da Reinhold auf einer Trage die Treppe zum Hauseingang heruntergefahren wurde.

»Ich komme jetzt mit dem Heli in eine Spezialklinik und meine Frau erwartet mich dort«, gab er zu verstehen. »Ich wollte eigentlich schon immer ’mal Heli fliegen – aber doch nicht so!« 

Viktoria und Danielle standen auf, stellten sich auf beiden Seiten der Trage auf und gaben ihm synchron ein Küsschen auf die Wange, was ihn breit grinsen ließ.

»Viel Glück«, wünschte ich ihm und drückte ihm seine unverletzte Hand.

Kurze Zeit später folgte Alina auf einer weiteren Trage mit Jonas und Sofija im Kielwasser.

»Sie wollen mich und das Kleine jetzt erst ’mal ordentlich durchchecken«, sagte Alina.

Sofija ergänzte: »Das ist sowieso das Krankenhaus, in dem ich arbeite – und ich sollte mich dort ’mal wieder blicken las…« 

Der Rest ging im Getöse des startenden Hubschraubers unter.

Als der Lärm sich gelegt hatte, wurden die drei ebenfalls wieder mit vielen Küsschen und »passt auch euch auf!« und »viel Glück!« verabschiedet.

Kurze Zeit später gab es einen kleinen Tumult an der Gartentür und ich hörte eine laute Frauenstimme – eine mir wohlvertraute Frauenstimme.

Die Stimme rief: »Lassen Sie mich durch!« 

»Ist in Ordnung, sie gehört zu mir!«, rief ich den Polizisten zu.

Ich stand auf, ging ein paar Schritte vor und breitete die Arme aus. Dabei registrierte ich, dass zumindest Danielle plötzlich einen ganz merkwürdigen Gesichtsausdruck zeigte. Die mittlerweile weinende Frau rannte zu mir und fiel mir in die Arme – etwas, das in letzter Zeit viel zu oft vorkam.

»Ich hatte ja keine Ahnung«, wimmerte sie. »Als ich dich als vermisst gemeldet hatte, konnte ich nicht ahnen, wie nah du bei mir warst. Weißt du, da hinten in der Parallelstraße geht der Schulweg meiner Mädchen lang.« 

Ich war gerührt, hatte sie mich doch tatsächlich als vermisst gemeldet. Eine dritte weinende und mich umarmende Frau zu bändigen überstieg jetzt aber endgültig meine Fähigkeiten und ich musste schleunigst das Thema wechseln.

Ich löste die Umarmung und sagte: »Vicky, Danielle, ich möchte euch meine große Schwester vorstellen.« 

»Oh!«, entfuhr es Danielle und ich glaubte, an ihr einen erleichterten Gesichtsausdruck feststellen zu können. War sie etwa eifersüchtig auf meine Schwester gewesen? Danielle war doch eigentlich gar nicht mein Typ… 

Meine Schwester unterbrach meine Gedanken und meinte, wieder etwas besser aufgelegt: »›Große Schwester‹ ist relativ. Ich bin zwar drei Jahre älter, dafür aber auch etwa fünfzehn Zentimeter kleiner.« 

Dann schlug die Stimmung aber schlagartig wieder um, weil die sich immer noch wehrende Hexe von drei Polizisten, den zweien in Kampfmontur und einem normalen Streifenbeamten, die Treppen hinuntergeführt wurde.

»Oh nein, ist sie das? Sie hatte euch gefangen gehalten?«, fragte meine Schwester. »Ich hab’ sie ’mal vor einiger Zeit bei uns in der Apotheke gesehen.« 

Die Hexe warf mir einen verächtlichen Blick zu und ich antwortete mit einer ebenso grimmigen Grimasse.

Meine Schwester ließ nicht locker: »Und wo ist ihr Mann? Den habe ich auch schon einmal gesehen – sie ist doch verheiratet, oder?« 

»Wir gehen davon aus«, antwortete Viktoria, »dass sie ihn sozusagen hat elend verrecken lassen, nachdem er einen starken Stromschlag bekommen hatte.« 

Vom Gartentor kam ein Mann herauf, zückte seinen Dienstausweis und stellte sich als Kriminalpolizist vor, der jetzt für diesen Fall zuständig war. Ich bat meine Schwester, auf Viktoria und Danielle aufzupassen, bis ich dem Kripo-Mann alles gezeigt hatte. Wir schauten zuerst im Arbeitszimmer vorbei, wo die Polizei einen Schrank geöffnet hatte, in dem in vielen kleinen Fächern Geldbörsen und Schlüsselbunde lagerten.

Die schiere Anzahl Fächer insgesamt und vor allem der belegten Fächer ließ mich weiche Knie bekommen. So viele Menschen hatten der Böse Mann und die Hexe also gefangengenommen oder geplant, gefangenzunehmen. Sofort entdeckte ich meine Geldbörse und meinen Schlüsselbund und musste mich erst einmal hinsetzen.

»Heißt das etwa«, fragte ich den Kripo-Mann, »dass sie bei mir in der Wohnung gewesen sein könnten?« 

Vielleicht hatten sie die ganze Technik durch Ausrauben ihrer Opfer finanziert. Alleine die Rechner im Keller stellten hochpreisige Profi-Rechenzentrumsware dar. Das war auf jeden Fall nicht die Ramschware, die beim Elektronikdiscounter auf einer Europalette aufgestapelt am Eingang zu finden war.

Er antwortete: »Das wissen wir erst, wenn wir dort Spuren, wie Fingerabdrücke, untersucht haben.« 

»Dann dürft ihr gerne gleich mit meiner Wohnung anfangen. Ich bleibe erst einmal bei meiner Schwester, bis ihr grünes Licht gegeben habt.« 

Er stimmte zu und wies seine mittlerweile eingetroffenen Kollegen an, mit meiner Wohnung zu beginnen.

Der Kripo-Mann warf einen kurzen Blick aus dem Fenster und hielt dann inne.

»Was ist mit dem Garten?«, wollte ich wissen.

Er zeigte auf eine rechteckige Fläche, die zwischen Blumenbeeten und Rasenfläche wie frisch gepflügt aussah. War das etwa ein Grab und wurde der Böse Mann hier etwa von der Hexe verscharrt? Der Kripo-Mann holte ein Mobiltelefon aus einer Jackentasche, tippte eine Rufnummer ein und schritt dann etwas zur Seite, um ungestört telefonieren zu können. Von der ganzen Konversation hatte ich lediglich ein Wort »Leichenspürhund« oder so ähnlich mitbekommen, aber das reichte mir aus.

Der Kripo-Mann kam dann wieder zu mir zurück und fragte mich, wo wir denn gefangengehalten worden waren, weil seine Kollegen das ganze Haus durchsucht, aber außer einer Art Rechenzentrum im Keller eigentlich nichts Auffälliges gefunden hatten.

»Ob Sie es dann glauben oder nicht«, sagte ich zu ihm, »ich zeige ihnen alles.« 

Ich führte ihn in das erste Obergeschoss zum Hauptort des Geschehens und zeigte ihm den Schreibtisch, das Mischpult, die Überwachungskameras und natürlich die Modellbahnanlage. Danach ging es ans Eingemachte und ich deutete auf die Verkleinerungsanlage.

»Auch ob Sie dieses jetzt glauben oder nicht, aber mit diesen ›kleinen Verkleinerungsanlage‹, wie wir sie getauft hatten, wurden wir mit Nahrung versorgt. Wo wir leben mussten, zeige ich Ihnen gleich.« 

Ich zeigte auf einen rötlichen Fleck auf dem Schreibtisch und die Fliegenklatsche und wies ihn darauf hin, dass dort zumindest von Frank frische Blut- und Gewebespuren zu finden sein mussten. Auf dem Schreibtisch lag immer noch die Küchenpapierrolle, und ich riss mir ein Blatt davon ab, damit ich das Dach des Speiseraum-Hauses abnehmen konnte, ohne dort meine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Der Kripo-Mann griff in seine Jackentasche und holte zwei hellblaue Einmalhandschuhe heraus, die ich dann anzog. Aus meiner jetzigen Vogelperspektive sah der Esstisch ganz anders aus, als wenn man direkt davor saß.

»Was kann die Kripo wohl besser an die ganze Geschichte glauben lassen, als eine kleiner Demonstrationslauf der Verkleinerungsanlage?«, fragte ich.

Ich deutete auf die Anlage im Speiseraum und auf das Gegenstück auf dem Schreibtisch und legte dem Kripo-Mann die Arbeitsweise der Anlage dar. Zumindest die kleine Anlage hatte sich wohl mittlerweile von der Fehlfunktion bei Reinholds Rückverwandlung erholt – oder war gar nicht betroffen. Noch immer lag die Kunststoffkiste, die wir zum Test dort hingesandt hatten, in der Anlage auf dem Schreibtisch. Vorsichtig nahm ich die Kiste heraus und legte sie auf den Schreibtisch. Ich nahm eine herumliegende Schachtel mit Schrauben und legte sie in die Kiste. Die Betriebsanzeige stand immer noch auf »Gelb«, so dass ich den Umschalter drehen musste, damit sie auf ein grünes Liste wechselte. Allerdings musste ich bei der Auswahl des Betriebsmodus aufpassen, da wir die Gegenseite auf der Anlage ja umgepolt hatten.

»Jetzt ist die Anlage betriebsbereit, um Gegenstände zu verkleinern und in der Gegenstation wieder zu materialisieren«, erläuterte ich.

Kurz nachdem ich die Kiste in die Anlage gelegt hatte, ertönte das bekannte Sirren, die Betriebsanzeige wechselte auf »Grün, blinkend« und die Kiste war verschwunden. Der Kripo-Mann schaute sich alles mit großen Augen an, sagte aber kein Wort.

Nach etwa zwanzig Sekunden hörten wir von der Modellbahnanlage das gleiche Sirren, nur viel leiser. Ich holte vom Schreibtisch eine kleine Lupe und bat den Kripo-Mann, in das offene Häuschen zu sehen. Mit einer Pinzette nahm ich die Kiste aus der Anlage und legte sie auf dem Esstisch ab. Nicht wirklich überraschend lag auch die Schachtel mit den Schrauben darin. Den Rückweg wollte ich mit einem anderen Gegenstand demonstrieren und nicht immer nur die Kiste hin- und herschicken. Nachdem ich die Anlage wieder umgepolt hatte, nahm ich daher mit der Pinzette einen Teller vom Tisch und legte ihn in die Anlage. Kurze Zeit später materialisierte sich dieser im Anlagengegenstück auf dem Schreibtisch, ich nahm ihn heraus und hielt ihn dem Kripo-Mann vor die Nase.

Er hatte immer noch nichts gesagt und so fragte ich: »Soll ich Sie kneifen?« 

»Nein«, antwortete er lachend, »ich sehe, dass alles echt ist und funktioniert – mein Hirn sagt aber, dass es so etwas eigentlich noch gar nicht geben kann.« 

Ich hob das Dach des Bahnhofsgebäudes ab.

»Und hier ist die ›Große Anlage‹, die auch ganze Menschen transportieren kann.« 

»Wie in Beam me up, Scotty?«, fragte er.

»So ähnlich«, antwortete ich. »Das Ganze ist wohl wirklich so eine Art Teleportation, nur dass man dann nicht eins zu eins, sondern in einem anderen Maßstab wieder materialisiert wird.« 

»Wo ist das Gegenstück dazu?«, wollte er wissen.

»Im Keller, sie scheint aber eine Fehlfunktion gehabt zu haben. Die Kollegen haben doch bestimmt vom amputierten Arm erzählt? Der kam nicht mehr mit.« 

Wir gingen in die Küche und setzten uns an den – richtigen – Esstisch.

»Lassen Sie mich versuchen, das Ganze zusammenzufassen«, begann der Kripo-Mann, »ob ich das auch richtig verstanden habe: Es hat also jemand Teleporter, Materieumwandler…« 

Ich warf ein: »Wir nennen sie Verkleinerungsanlagen.« 

»… funktionierende Verkleinerungsanlagen gebaut, die wohl ähnlich wie Teleporter funktionieren. Derjenige und seine Ehefrau haben Menschen verschleppt und verkleinert, damit sie ihre Modellbahnanlage…« 

Er suchte nach dem passenden Begriff.

Ich meinte: »Wir haben das immer bevölkern genannt.« 

»Damit sie ihre Modellbahnanlage bevölkern, weil ihnen die üblichen Plastikfiguren zu langweilig waren. Und wer nicht spurte, wurde mit der Fliegenklatsche ge- oder erschlagen.« 

»Das ist für’s Erste schon einmal eine gute Zusammenfassung. Es fehlt aber noch etwas«, stellte ich fest.

Wir wurden unterbrochen, als ein uniformierter Polizist die Küche betrat. Er berichtete, dass der gerade erst eingetroffene Hund bereits im ganzen Garten angeschlagen hatte.

Ich sagte: »Das werden die Überreste fehlgeschlagener Tests sein. Die Anlage hatte wohl zu Anfang noch nicht ganz fehlerfrei funktioniert.« 

»Hier wird alles abgesperrt!«, befahl der Kripo-Mann. »Funken Sie das THW oder so an und lassen Sie sich Sichtsschutzzäune bringen. Hier darf niemand hineinschauen! Und finden Sie heraus, wer im Präsidium Bereitschaft für das Mediengedöns hat!« 

Der uniformierte Polizist nickte, griff nach seinem Mobiltelefon und verließ den Raum.

»Medien?«, fragte ich. »Wer wird uns dann glauben? ›Jaja, die Science-Fiction-Abteilung ist im zweiten Stock!‹« 

Ohne darauf einzugehen, fragte er: »Was fehlt noch?« 

»Wir wurden immer paarweise gehalten, eine Frau und ihr ›Gefährte‹. Einmal pro Woche wurde ein Paar von ihm ausgewählt, das heißt wir mussten es auf dem Schreibtisch unter der großen Lupe machen, damit er… Anders ausgedrückt: Sie werden eine Menge Spermaspuren unter den Schreibtisch finden.« 

Wir entwarfen dann noch die offizielle Version der Geschichte, die dann von der Polizei an die Medien weitergegeben werden konnte: Ein Ehepaar hatte mehrere Menschen verschleppt, gefangengehalten und teilweise dann auch getötet; es musste von einer mittleren zweistelligen Anzahl von Opfern ausgegangen werden.

»So viele?« 

»Ja«, antwortete er, »Zumindest die Anzahl aufgefundener Geldbörsen legt das nahe, da wir auch davon ausgehen müssen, dass es sich bei dem Ehepaar wohl um keine Taschendiebe handelt.« 

Die hohe Opferanzahl würde alles überschatten, so dass auch wirklich niemand mehr nach Details fragen sollte. »Verkleinerungsanlage«, und »Modelleisenbahn« kamen in der offiziellen Pressemitteilung nicht vor, die Toten an sich reichten schon vollkommen aus.

Ein anderer Polizist in Zivil erschien in der Küche und legte dem Kripo-Mann eine Liste vor.

Dieser zeigte auf drei Namen und stellte fest: »Er, sie und sie sind noch hier, die anderen sind schon im Krankenhaus.« 

Der Polizist ging aus der Küche und kehrte mit drei Geldbörsen nebst Schlüsselbunden zurück.

»Die sind schon kriminaltechnisch untersucht«, sagte er. »Wir würden die Schlüssel aber gerne behalten, um auch die Wohnungen unter die Lupe nehmen zu können.« 

»Jederzeit!«, wiederholte ich. »Jederzeit können Sie in meine Wohnung. Ich bleibe erst einmal bei meiner Schwester. Nachher verwische ich noch irgendwelche Spuren.« 

»Was ist mit deinem Schlüssel?«, hörte ich meine Schwester aus dem Flur fragen.

Sie besaß ein beängstigend empfindliches Gehör und hörte wirklich alles. Das war seit der Kindheit so und ich konnte schon damals fast nichts vor ihr verbergen.

Sie kam herein, sah Geldbörsen und Schlüssel auf dem Tisch liegen und blieb erst einmal mit offenem Mund stehen.

Es war wirklich außergewöhnlich, meine Schwester einmal vollkommen sprachlos erleben zu können, denn es gehörte schon viel dazu, ihren ständigen Redefluss erfolgreich unterbrechen zu können.

»Soll das etwa heißen«, sagte sie, als sie sich wieder gefangen hatte, »die hatten den Schlüssel und auch die Adresse und waren in deiner Wohnung?

Bei »deiner« schaute sie mich ganz schräg an. Schräge Blicke waren ebenfalls ihre Spezialität, und so wie es aussah, hatte mein Schwager diese Verhaltensweise von ihr übernommen.

Der Kripo-Mann antwortete: »Wir wissen es noch nicht, das wird erst die kriminaltechnische Untersuchung ergeben.« 

Meine Schwester ließ nicht locker: »Nachdem mein Bruder verschwunden war, habe ich mich auch um seine Wohnung gekümmert, denn ich habe ebenfalls einen Schlüssel. Und jetzt ist es wahrscheinlich nur ein glücklicher Zufall gewesen, dass sie nicht plötzlich in der Tür standen und mich auch verschleppten. Das ist schon heftig.« 

Sie musste sich erst einmal setzen und ich legte einen Arm um sie – langsam hatte ich ja Übung darin bekommen.

»Es ist ja gut gegangen«, meinte ich.

Wahrscheinlich hatten der Böse Mann und die Hexe noch genug Geldmittel und waren außerdem mit der Mikrofoninstallation so ausgelastet, dass sie noch gar nicht die Gelegenheit hatten, in meiner Wohnung nach Wertsachen zu suchen.

Mittlerweile hatten Viktoria und Danielle den Raum betreten, im Schlepptau eine ältere Dame, die eine blaue Warnweste mit der Aufschrift Notfallseelsorge trug. Sie verabschiedeten sich von der Frau und diese nickte kurz den Kripo-Mann zu.

»Warum seid ihr eigentlich wieder hereingekommen?«, wollte ich wissen.

»Reporter und das Fernsehen sind da«, antwortete Viktoria, »Die bauen gerade ihre Kameras auf, knapp hinter der Polizeiabsperrung.« 

Ich hatte ebenfalls nicht wirklich das Verlangen, in Großaufnahme in den Abendnachrichten zu erscheinen. Der Kripo-Mann brüllte einen Namen und kurz darauf steckte ein Zivilpolizist seinen Kopf zur Tür herein.

»Sind die Sichtschutzdinger schon aufgebaut?«, erkundigte sich der Kripo-Mann.

»Sie fangen gerade mit dem Aufbau an.« 

»Sehr schön. Und dass ihr mir jede Drohne sofort herunter holt! Schusswaffengebrauch wird genehmigt!« 

»Geht klar, Chef!« 

De Polizist sagte also Chef, soso… Es war aber auch nur logisch, dass sie das Ganze hier gleich zur Chefsache gemacht hatten.

Meine Schwester steckte die Visitenkarte in ihre Handtasche, die sie von der Notfallseelsorgerin erhalten hatte. Sie zeigte dann auf Viktoria, Danielle und mich.

»Die drei kommen erst einmal mit zu mir!« 

»Haben Sie irgendwo ein Auto mit getönten Scheiben, mit dem wir hier ungesehen ’raus kommen können?«, wollte ich wissen. »Sie brauchen uns doch nicht mehr, oder?« 

Der Kripo-Mann meinte: »Ich organisiere das!« 

Er griff nach seinem Mobiltelefon, stand auf und stellte sich ans Fenster, um zu telefonieren. Danielle nahm eine Geldbörse vom Tisch und wurde bleich.

»Das ist ja meine!« 

Viktoria hob die andere Geldbörse auf und auch sie rief: »Und das ist meine!« 

Der Kripo-Mann hatte sein Telefonat beendet und wandte sich an meine Schwester.

»Wir können Sie schlecht direkt nach Hause fahren, mit oder ohne Blaulicht, da sind uns die Medien gleich auf den Fersen. Ich schlage daher vor, dass wir Sie zu einem Polizeirevier fahren und ihr Mann Sie dort abholt.« 

Sie stimmte zu und holte ihr Mobiltelefon aus der Handtasche.

»Irgendwie kein Empfang hier«, grummelte sie und ging ebenfalls zum Fenster.

Ich bekam mit, wie sie meinen Schwager anwies, sofort alles stehen und liegen zu lassen, um zu einem bestimmten Polizeirevier zu kommen. Der Kripo-Mann zeigte erst auf das Telefon und dann auf sich. Meine Schwester reichte ihm das Telefon und er meldete sich als »Kriminalpolizei« und nannte seinen Namen. Sie einigten sich darauf, dass mein Schwager an der Gegensprechanlage an der Hofeinfahrt zum Polizeirevier seinen Namen und den Namen des Kripo-Mannes nennen und dann im Hof auf meine Schwester warten sollte. Meine Schwester war zu Fuß gekommen und so brauchten wir uns auch nicht weiter um ihr Auto kümmern.

»Nein, es ist nichts Schlimmes passiert, ganz im Gegenteil«, wurde mein Schwager erst von Kripo-Mann und dann auch von meiner Schwester beruhigt.

»Wir nehmen mein Auto«, bestimmte der Kripo-Mann, »erstens hat es hinten getönte Scheiben und zweitens steht es hier gleich in der Garagenzufahrt.« 

Er stand auf und schaute aus dem Fenster.

»Der Sichtschutz ist aufgebaut und wir können eigentlich los.« 

»Ja, bloß ’raus hier!«, rief Viktoria.

Wir gingen aber nicht durch den Windfang und den Hauseingang, sondern nahmen einen Umweg über die Terrasse, durch den Garten, durch den Hintereingang in und durch die Garage, um zum Auto des Kripo-Mannes zu gelangen. Alle Fernseh- und sonstigen Kameras waren wahrscheinlich auf die Haustür gerichtet und der Eingang lag so hoch, dass die Sichtschutzzäune nicht alles verbergen konnten.

Wir setzten uns in den Wagen, ich nach vorne auf den Beifahrersitz und die drei Frauen auf die Rückbank. Der Kripo-Mann nahm vom Armaturenbrett eine schwarze Schirmkappe mit dem aufgestickten weißen Schriftzug POLIZEI, setzte sie mir auf und schob sie mir bis fast über die Augen.

»Vorne haben wir keine getönten Scheiben«, rechtfertigte er sich.

Er schaltete das Blaulicht ein, was vom metallenen Garagentor reflektiert wurde. Ein uniformierter Polizist schob den Sichtschutzzaun auf und der Kripo-Mann setzte das Auto vorsichtig zurück auf die Straße. Mit eingeschaltetem Horn bahnte er sich einen Weg durch Kamerateams und Schaulustige.

Ich stellte fest: »Ganz schön ’was los hier. Da wären wir nie unbehelligt herausgekommen.« 

Mit Schwung fuhren wir über rote Ampeln und auf der Gegenspur an langen Schlangen von vor Kreuzungen wartenden Fahrzeugen vorbei – hier konnte kein Verfolger mithalten.

»Schon ’mal mit Blaulicht gefahren worden?«, wollte Viktoria von mir wissen.

Ich antwortete: »Nein, das brauche ich auch nicht noch einmal.« 

Danielle kicherte, was schon einmal ein gutes Zeichen war.

Der Kripo-Mann bog dann von einer Haupt- in eine Seitenstraße ab, schaltete Blaulicht und Horn ab und wir fuhren ganz gesittet weiter, bis wir das Polizeirevier erreicht hatten. Keine Verfolger waren zu sehen und kein Kamerateam hatte sich vor dem Revier aufgebaut, die Taktik war also voll aufgegangen.

Im Hof wartete mein Schwager bereits auf uns.

»Was soll die komische Geheimniskrämerei?«, fragte er meine Schwester. »Und wieso hier bei der Poliz…?« 

Er hielt inne und schaute mich mit großen Augen an, als ich meine Polizeimütze absetzte. Ich ging zu ihm und wir umarmten uns.

»Deine Schwester hat sich ganz schön Sorgen gemacht! Wer sind denn die beiden Frauen?« 

»Die waren mit mir gefangen«, erläuterte ich.

Ich stellte Viktoria und Danielle meinem Schwager vor und er schaute mich mit einem schrägen Blick an. Wir verabschiedeten uns vom Kripo-Mann und stiegen in das Auto meines Schwagers, um zu ihm nach Hause zu fahren. Die Polizeimütze hätte ich behalten können, hatte aber dankend abgelehnt, da diese womöglich zu viele unschöne Erinnerungen hätte wachrufen können. Ohne von Paparrazzi, Fernsehteams oder rasenden Reportern behelligt worden zu sein, kamen wir am Haus an und mein Schwager lenkte das Auto direkt in die Garage.

Von außen unbeobachtet gelangten wir aus der Garage durch den Keller in den Wohnbereich. Eine mir angebotene Halbliter-Limonadenflasche – meine Schwester kannte nun einmal meine Vorlieben – leerte ich ein einem Zug; endlich gab es wieder einmal ein Getränk mit Geschmack.

Meine Schwester organisierte für Viktoria einen frischen Kleidungssatz aus ihrem Bestand und für mich und Danielle wegen ihrer Körpergröße etwas aus dem Bestand meines Schwagers. Sie war wieder einmal voll in ihrem Organisationselement und verteilte Viktoria und Danielle auf die beiden Badezimmer des Hauses und ich (»Frauen haben das jetzt nötiger!«) musste erst einmal warten, auch da sich das dritte Badezimmer in der Einliegerwohnung gerade in Umbau befand.

Sie stellte dann recht schnell fest, dass ihr mein »Robinson-Crusoe-Bart und -Haarschnitt« keineswegs gefiel und beorderte mich kurzerhand auf die Terrasse. Kurze Zeit später kam sie zu mir mit einem Stuhl und einem Langhaarschneider in der Hand. Meine Schwester nahm den Scheraufsatz vom Gerät ab und schaute ihn sich genauestens an.

»Zwölf Millimeter für alles sollten erst einmal reichen!«, meinte sie.

Dass in diesen Fällen Widerstand bei meiner Schwester zwecklos war, hatte ich in vielen Jahrzehnten gelernt, lag nach nur wenigen Minuten ein gefühlter Kubikmeter Haare um mich auf dem Boden herum. Ohne Haare über den Ohren fühlte sich der leichte Windhauch, der über die Terrasse zog, recht merkwürdig an. Mir war gar nicht mehr bewusst, wann mein letzter Frisörbesuch gewesen war.

Mein Schwager steckte den Kopf zur Tür heraus und rief: »Das obere Bad ist jetzt frei!« 

»Willkommen zurück in der Zivilisation!«, ergänzte er, als er die vielen Haarbüschel sah.

Ich fegte mir ein paar Haarreste vom Hemd, schnappte mir meinen Stapel frischer Kleidung und machte mich auf den Weg ins Badezimmer. Endlich gab es wieder eine richtige Toilette und eine richtige Dusche! Nach kurzer Überlegung entschied ich mich, erst einmal ausgiebig meine Zähne zu reinigen. In einem Schrank fand ich eine Handvoll originalverpackter Zahnbürsten und nahm mir ein leuchtend hellblaues Exemplar heraus. Ich verbrauchte fast eine ganze Rolle Zahnseide, als ich mir ausgiebig die Zahnzwischenräume reinigte. Nach einem mehr als ausführlichen Zähneputzen fühlten sich meine Zähne endlich wieder ganz glatt und frisch an.

Normalerweise war ich ein Schnellduscher, fünf bis sieben Minuten mussten für das volle Waschprogramm inklusive Haarewaschen ausreichen. In diesem Badezimmer war jedoch eine dieser ebenerdig begehbaren »Wellnessduschen« eingebaut. Diese besaß so ein Regenduschkopfdings, oder wie man das bezeichnete, an der Decke sowie ein paar weitere Düsen an den Seiten. Die Dusche kannte ich in dieser Form noch nicht, normalerweise benutzte ich nur die separate Gästetoilette und hatte dieses Badezimmer schon lange nicht mehr betreten. Mein Schwager musste diese Dusche erst vor Kurzem eingebaut haben, denn alles glänzte und roch noch ganz neu und nirgends waren Wasserflecke, Kalkspuren oder Ähnliches zu sehen.

Viel zu lange ließ ich mich von allen Seiten mit Wasser berieseln und probierte ausgiebig die verschiedenen Einstellungen der Dusche aus, so dass meine Schwester schließlich an der Tür klopfte und fragte, ob alles in Ordnung war.

»Tolle neue Dusche habt ihr hier! Da kann man ja Stunden drin zubringen!«, rief ich und ich hörte sie daraufhin hinter der Tür lauthals lachen.

Nach dem Duschen wurden noch schnell die Finger- und Fußnägel gestutzt, und die Zivilisation hatte mich wieder.

Mit frisch gestutztem Bart und Haaren, frisch geputzten Zähnen, frisch geduscht und in frischer Kleidung fühlte ich mich wie neugeboren. Vielleicht war es keine so schlechte Idee, den Tag, an dem wir wieder unsere normale Körpergröße wiedererlangt hatten, zukünftig als zweiten Geburtstag zu feiern. Ich nahm mir vor, Viktoria und Danielle einmal darauf ansprechen zu wollen.

Meine Schwester hatte vor der Badezimmertür einen großen blauen Müllsack hingestellt, in dem sich bereits die alten Kleidungsstücke von Viktoria und Danielle befanden, wie ich nach kurzem Hineinsehen feststellte. Ich stopfte meine eklige alte Kleidung dazu, band den Müllsack zu und ging zur Küche. Mein Schwager nahm mir den Sack ab und stellte ihn erst einmal auf die Terrasse. In der Küche angekommen, sah ich meine Schwester zusammen mit Viktoria und Danielle an der Arbeitsplatte stehen und irgendein Essen zubereiten.

Als Viktoria mich sah, stieß sie einen Jauchzer aus, lief zu mir und strich über mein Haar. Zu allem Überfluss tat Danielle es ihr nach. Mein Schwager zog eine Grimasse und ich streckte ihm die Zunge heraus, was er mit einem von Ohr zu Ohr gehenden Grinsen quittierte.

Diese für mich eher unangenehme Situation wurde aber kurz darauf von meiner Schwester beendet, indem sie fragte: »Kann mir bitte jemand die Zwiebeln holen? Vicky, die liegen gleich rechts im Regal in der Speisekammer.« 

Mein Schwager nahm mich daraufhin zur Seite und stellte leise fest: »Sag’ ’mal, echt jetzt, gleich zwei Frauen? Zwei auch noch hübsche Frauen…?« 

»Hör’ bloß auf«, entgegnete ich flüsternd, »ich hatte damals ja nicht ’mal eine richtig im Griff. Nun ja, die kleine blonde Viktoria wurde mir sozusagen zugeteilt und die große dunkelhaarige Danielle ist uns dann sozusagen noch zugelaufen.« 

»Viktoria! Danielle! Zwei auf ihre Art hübsche Frauen mit auch noch hübschen Namen! Haha, auf diese Geschichte bin ich aber gespannt«, sagte er.

Ich musste ihm aber mitteilen, dass ich nicht alles erzählen durfte, »aus ermittlungstaktischen Gründen«, wie der Kripo-Mann uns eingeschärft hatte. Das war eine schöne und auch glaubhaft wirkende Ausrede, denn ich hatte kein Verlangen, zum zweiten Mal nach meiner Scheidung mit irgendwelchen Verwandten ausgiebig mein Liebesleben zu diskutieren.

Es machte die Sache nicht wirklich besser, dass beide Frauen jetzt noch attraktiver aussahen, als sie es ohnehin schon waren. Sie wussten schon genau, welche Stellschrauben sie bei mir drehen mussten.

Viktorias Haare sahen nicht mehr fettig und strähnig, sondern frisch und leicht aus; sie hatte sie außerdem zu einem hin und her schwingenden Pferdeschwanz gebunden. Eine dunkelblaue Stoffhose und ein pinkfarbenes Polohemd meiner Schwester standen ihr ausgezeichnet. Danielle hatte von meinem Schwager einen hellgrauen Jogginganzug bekommen, der sie wie eine Leistungssportlerin in einem Trainingscamp aussehen ließ. Auch bildete ich mir ein, dass beide ein leichtes Makeup aufgetragen hatten, was wahrscheinlich aber nur von ihrem allgemein frischeren Aussehen herrührte.

Endlich gab es dann für uns nach langer Zeit wieder einmal eine warme Mahlzeit, keine »Haute Cuisine«, aber ich war ja sowieso eher für schlichte Gerichte zu haben. Meine Schwester musste zwar etwas improvisieren, weil meine Nichten sich auf Klassenreise befanden, sie daher nicht so viele Vorräte im Haus hatte und es »nur« Spiralnudeln mit einer Art Tomaten-Gemüse-Sauce gab – aber mit Nudeln mit Tomatensauce bekam man mich sowieso immer. Mangels Parmesankäse gab es geriebenen mittelalten Goudakäse zum Darüberstreuen, aber auch das sah ich überhaupt nicht als Problem an.

Irgendwo im Internet hatte ich vor einiger Zeit den Begriff »Food Porn« gelesen, und das war es hier nach langer Entbehrungszeit, so schlicht das Gericht auch war.

Trotz aller Warnungen meiner Schwester schlug ich mir den Bauch so voll, so dass ich nur noch schwer atmen konnte. Auch meine zwei Frauen langten ordentlich zu, und so war schon nach kurzer Zeit alles leergegessen.

»Das war wohl nötig«, stellte mein Schwager fest.

Ich half noch mit, die Spülmaschine einzuräumen und ließ mich danach auf das große Sofa im Wohnzimmer plumpsen. Wenig später setzten sich Viktoria und Danielle so neben mich, dass sie mich in die Mitte nehmen konnten – was mir erneut einen schrägen Blick meines Schwagers einbrachte.

Ohne zu viele Details preiszugeben, berichteten wir von unser Gefangenschaft und wie wir sowohl seelisch als teilweise auch körperlich gequält worden waren. Den Mittwochmorgen, die Fliegenklatsche und die Fächer mit den Geldbörsen ließen wir aber aus. Auch behielten ebenfalls für uns, dass wir sie Der Böse Mann und Die Hexe getauft hatten und dass es dort so etwas wie Verkleinerungsanlagen gab.

An einer Stelle brach Viktoria in Tränen aus, so dass ich meinen Arm um sie und sie ihren Kopf auf meine Schulter legte. Dies veranlasste Danielle, ebenfalls in Tränen auszubrechen, und die Prozedur wiederholte sich. Prompt fing ich mir einen noch schrägeren Blick meines Schwagers ein. Zum Glück beruhigten sich beide recht recht schnell.

Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, da ich von Viktoria einen Ellenbogen in die Seite bekommen hatte. Offenbar hatte ich mehr oder weniger laut zu schnarchen begonnen.

Nach kurzer Überlegung fasste ich einen Entschluss.

»So. Aus, Ende, Feierabend!«, bestimmte ich daher. »Ich gehe mir jetzt eine ausgiebige Nachtruhe gönnen, in einem richtigen Bett!« 

Wenn man bedachte, dass ich vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden als acht Zentimeter großer Däumling damit beschäftigt gewesen war, die Verkleidung von der großen Verkleinerungsanlage abzureißen… 

Die Aufteilung der Betten war anschließend recht schnell vollzogen, da Danielle immer noch nicht alleine schlafen konnte oder wollte und sie und Viktoria daher das große Schlafsofa im Gästezimmer bekamen. Ein Zimmer meiner Nichten wollte ich nicht belegen. Die Einliegerwohnung war zwar noch teilweise eine Baustelle, aber zumindest die Toilette und das Schlafzimmer waren soweit benutzbar, so das ich mich dort einnisten konnte. Besser als meine Schlafstatt von letzter Nacht war es allemal.

Nach mir viel zu intensiven Gute-Nacht-Küssen von Danielle und Viktoria, eines noch eine Stufe schrägeren Blicks meines Schwagers inklusive, konnte ich mich dann endlich in mein Schlafgemach zurückziehen. Wenn es auch nur ein ausklappbares Gästebett war, so hatte ich doch wieder ein richtiges Bett mit einer richtigen Matratze, einem richtigen Kissen und einer richtigen Bettdecke.

Ich besaß gerade noch die Kraft, die Nachttischleuchte auszuschalten, um danach sofort in einen tiefen Schlaf zu fallen.

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