Kapitel 3
Verpolt

Auch der nächste Vormittag blieb ruhig. Der defekte Lötkolben hatte als angenehmen Nebeneffekt weitere Mikrofoninstallationen verzögert, so dass wir mehr Zeit bekamen, unsere Geheimsprache noch weiter verfeinern zu können. Immer bizarrere Begriffe fielen uns ein, bis uns Danielle ermahnte, es nicht zu weit zu treiben, da wir sonst eine zu starke Aufmerksamkeit erregten.

Zu unser großen Enttäuschung setzte sich der Böse Mann aber am Nachmittag wieder an den Schreibtisch, schaltete die Lötstation ein und begann, weitere Mikrofonplatinen zusammenzulöten. Den Lötkolben selbst hatte er aber nicht ausgetauscht oder zerlegt und dann repariert. Er war zwar alt genug, um mit den Konsequenzen umgehen zu können, aber er war ja auch ein Psychopath.

»Er lötet wieder!«, ließ ich daher den anderen mitteilen.

Als der Böse Mann die vierte Platine in Angriff nahm, gab es einen lauten Knall, das Licht erlosch wieder und er fiel von Stuhl.

Wir liefen auf den Bahnsteig und schauten zu ihm herunter, wie er leicht zuckend auf dem Boden lag. Außerdem »roch es nach Ampére«, wie Reinhold es ausdrückte.

Alina rief: »So, ist der alte Wichser endlich am Verrecken!« 

»Alina!«, stieß Reinhold hervor.

Auch wenn man es sicherlich etwas weniger vulgär hätte ausdrücken können, so entsprach es doch nahezu punktgenau dem, was der Böse Mann tatsächlich war und was ihm alle wünschten. So ein wenig fühlte es sich an wie die Schadenfreude, wenn sich ein Bombenterrorist versehentlich selbst in die Luft jagt.

Kurze Zeit später kam die Hexe die Treppe hinaufgepoltert und betrat schnaufend das Zimmer.

»Du Idiot! Du blöder Idiot!«, blökte sie. »Hatte ich dir nicht ’was gesagt?« 

Sie beugte sich zu ihm herunter und legte ein Ohr auf seinen Brustkorb. Dann hob sie ihn auf, legte einen Arm um ihn und schleifte ihn aus dem Zimmer.

»Siehst du, wie kräftig sie ist?«, flüsterte ich Jonas ins Ohr. »Wenn wir sie überwältigen wollen, müssen wir mit wirklich schwerem Gerät anrücken.« 

»Ja, das wird nicht einfach werden«, stimmte er zu.

Sofort wurde unverzüglich der »Kriegsrat« einberufen und wir versammelten uns um den großen Tisch im Speiseraum.

Zunächst sammelten wir, was sich zum Positiven wenden konnte, falls der alte Wi…, der Böse Mann tatsächlich gestorben war.

»Sie kennt sich mit der Modellbahnsteuerung überhaupt nicht aus, das hat alles er gemacht. Uns bleibt das Zugfahren wohl erst einmal erspart.« 

»Gut, ich werde davon immer so leicht seekrank.« 

»Die ›Mittwochsspiele‹ fallen weg.« 

Ich schaute Danielle an, die mir gegenüber saß, und nickte leicht. Sie zeigte als Antwort ein zauberhaftes leichtes Aufleuchten ihrer Augen und den zauberhaften Hauch eines Lächelns. Nein, redete ich mir ein, sie war überhaupt nicht mein Typ – oder doch?

»Wenn er nicht mit der Bahn fährt, wird sie auch überwiegend nichts von uns wissen wollen.« 

»Guter Punkt, dann bleibt nur noch das Putzen, wenn überhaupt. Aber das fällt vielleicht auch weg, wenn die Bahn nicht mehr wichtig ist.« 

»Wenn er nicht herum lötet, gibt es auch keine Kurzschlüsse mehr und die andere Elektronik wird nicht in Mitleidenschaft gezogen.« 

»Die Verkleinerungsanlagen?« 

»Ja, vor allem die. Sonst haben wir überhaupt keine Chance mehr, hier herauszukommen.« 

»Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht! Was ist, wenn die ganze Technik hier sehr kurzschlussanfällig ist?« 

»Dann hätte er aber schon nach dem ersten Mal aufgehört.« 

»Guter Punkt. Noch ’was anderes: Wir müssen nur noch eine Person überwältigen.« 

»Sie ist aber sehr kräftig. Vielleicht holt sie auch bald wieder für sich einen neuen Gefährten, der genauso tickt.« 

»Jetzt ist er aber erst einmal weg. Null, nada, niente. Niemand mehr da, der die ganze Technik warten kann! Und ob sein Nachfolger das können wird? Das kann sich echt zum Problem ausarten.« 

»Genau. Wenn du eine Null hinzubekommst, verzehnfachen sich deine Probleme.« 

»Der Spruch ist zwar gut, aber: Bitte, bitte erst einmal das Positive!« 

»Er kann die Mikrofone nicht fertig bauen und hier installieren. Wir können also weiterhin frei reden.« 

»Sie wird das auch nicht fertig bekommen, sie hat doch bestimmt noch nie einen Lötkolben angefasst.« 

»Ich aber auch nicht!«, warf Alina ein.

Danielle bestätigte »Und ich auch nicht!«.

Sofija schüttelte ebenfalls den Kopf.

»Ich habe bei der Heimwerkerei eh zwei linke Hände, also …«, stellte Jonas fest.

Alle mussten lauthals lachen. Der sich am Horizont abzeichnende Silberstreif schien die sehr gedrückte Stimmung etwas aufhellen zu können. Damit uns aber nicht zu wohl wurde, sammelten wir noch die negativen Punkte.

»Vielleicht ist er auch gar nicht tot, so wie die letzten beiden Male.« 

»Dieses Mal ist er aber vom Stuhl gefallen!« 

»Vielleicht wird er ein Pflegefall und kann nicht mehr schrauben und löten, also auch keine Verkleinerungsanlage mehr reparieren.« 

»Ja, das ist wohl der wichtigste Punkt von allen. Was ist, wenn wir hier auf ewig festhängen?« 

»Der Hexe, das darf man jetzt ja wieder sagen, fällt eine Person weg, die sie piesacken kann, und sie lässt es an uns aus.« 

»Autsch!« 

»Die Videokameras laufen weiterhin, wo immer die Signale auch hingeleitet werden. Und es ist wohl kein analoges System, wo ein Band ›voll‹ werden kann, sondern digital mit wahrscheinlich ausreichender Speicherplatzreserve.« 

»Also bewegen wir uns wie immer.« 

Die nächsten Tage wollten wir uns intensiv damit beschäftigen, wie wir hier eventuell doch schnell herauskommen konnten. Wir einigten uns darauf, zunächst den nächsten Mittwoch abwarten zu wollen, ob er nicht zufällig doch wieder auftauchte.

Plan A sah vor, dass Reinhold und ich uns mit den Verkleinerungsanlagen auseinandersetzen sollten. Immerhin wussten wir, dass zumindest die kleine Verkleinerungsanlage in beide Richtungen funktionierte. Aber wo und wie diese umgeschaltet wurden und ob wir das auch von unserer, kleineren Seite aus bewerkstelligen konnten, mussten wir jetzt in den nächsten Tagen auf den Grund gehen.

Es wurde ja schon einmal von Viktorias ehemaligen Gefährten versucht, sich zur Gegenseite der kleinen Verkleinerungsanlage durchzuschlagen, aber dazu mussten Reinhold und ich erst einmal herausfinden, wie weit diese in unserem Maßstab entfernt war und wie lange einer von uns dafür wohl brauchen würde. Die Gegenseite der kleinen Verkleinerungsanlage konnten wir von meinem üblichen Beobachtungsposten vom Hügel aus sehen und so die Entfernung abschätzen. Dorthin zu gelangen, würde Stunden, wenn nicht gar Tage in Anspruch nehmen. Sowohl die Modellbahnanlage als auch der Schreibtisch befanden sich geschätzt achtzig Zentimeter bis einen Meter über Grund und waren nicht direkt miteinander verbunden. Umgerechnet auf unsere Größe bedeutete es, insgesamt zwanzig bis fünfundzwanzig Meter hinunter- und wieder heraufzuklettern. Wenn ich mir die Tischbeine des Schreibtisches genauer betrachtete, so sah es von unserem Beobachtungspunkt wie eine recht glatte Oberfläche aus. Selbst für einen geübten Freikletterer stellte dies wohl schon eine Herausforderung dar. Wir dagegen waren ungeübt, hatten keinerlei Hilfsmittel wie Gurte oder Seile zur Verfügung und waren durch die Gefangenschaft mit Mangelernährung und fehlender Bewegung nicht wirklich kräftig und ausdauernd.

Außerdem wusste niemand von uns, wo sich das Gegenstück zur großen Verkleinerungsanlage befand, wir waren ja alle betäubt gewesen. In unserer Däumlinggröße das ganze Haus zu durchsuchen würde Tage, wenn nicht gar Wochen in Anspruch nehmen. Reinhold gab auch zu bedenken, dass schon eine einzige Treppenstufe für uns Däumlinge ein unüberwindbares Hindernis darstellte – und wir befanden uns hier ja mindestens im ersten Obergeschoss. Er gab auch zu bedenken, dass die Hexe bestimmt bald jeden Morgen mit einer Art »Zählappell« beginnen wird, da sie uns ja überhaupt nicht über den Weg traute. Wir konnten also keine Expedition losschicken, weil dies sofort der Hexe auffallen musste. Wenn der Böse Mann tatsächlich nicht wiederkommen sollte, so hatten wir als maximales Zeitfenster für irgendwelche Kundschafteraktionen den Mittwochmorgen, da die Hexe wohl auch weiterhin ihren Arzttermin oder Ähnliches wahrnahm. Da wir ab Mittwochmittag dann jederzeit damit rechnen mussten, dass sie bei uns einen spontanen Kontrollbesuch einlegte, war diese Zeitspanne aber einfach zu kurz. Daher mussten wir es irgendwie zustande bringen, die Verkleinerungsanlagen von hier aus umschalten zu können.

Plan B, die gemeinsame Flucht, fiel damit auch gleich flach, da auch hierzu das Zeitfenster viel zu knapp bemessen war. Außerdem hatten wir eine Schwangere unter uns und zumindest ich wollte Alina die Kletterei auf keinen Fall zumuten.

Plan C, der eigentlich Plan B war, aber uns erst später einfiel, sah vor, dass sich einer von uns zu einem Telefon durchschlagen sollte, um Hilfe zu holen. Dieser Plan besaß aber auch die Unwägbarkeiten »Klettern«, »Treppenstufe« und »Zählappell«, und niemand von uns wusste auch, wo sich hier im Haus das nächste Telefon befand. Sofija warf ein, dass sowohl ein Telefonhörer eines schnurgebundenen Telefons als auch ein schnurloses Telefon oder ein Mobiltelefon viel zu schwer für einen von uns waren und dass wahrscheinlich unsere Piepsstimmchen viel zu schwach waren, als dass sie auf der Gegenseite überhaupt verstanden werden konnten.

Dann brachte Alina als Plan D den kollektiven Suizid ins Spiel, was zu ein paar Minuten beängstigender Totenstille führte – im wahrsten Sinne des Wortes.

Mir lief es eiskalt den Rücken herunter, Danielle bekam Tränen in die Augen und nickte leicht. Mein Verdacht hatte sich also bestätigt, denn ich hielt Alina und Danielle für die am stärksten suizidgefährdeten Personen unserer Gruppe. Ich schaute auf die in einer Ecke an der Wand lehnenden Zahnstocherspeere und mir lief es noch kälter den Rücken herunter. Damit ließe sich bestimmt… 

Wir einigten uns aber darauf, Plan D als allerallerletztes Mittel der Wahl einzusetzen, wenn alles andere fehlschlug oder die Hexe uns das Leben zukünftig noch mehr zur Hölle machen sollte oder uns langsam verdursten und verhungern ließ, weil sie kein Interesse mehr an uns hatte.

Nach der Besprechungsrunde fing ich Danielle ab, wischte ihr die Tränen von den Wangen und hielt sie fest.

»Ich hatte dir neulich etwas versprochen, schöne Frau!« 

»Jaah«, bestätigte sie leise.

»Ich hole alle hier ’raus.« 

»Aber alle oder keiner«, warf sie ein,

»Von mir aus auch ›alle oder keiner‹, ich bevorzuge aber ›alle‹!« 

Natürlich musste sie mich daraufhin küssen.

Ich wusste nicht, was ich mir bei diesem Bluff ohne ausreichendes Blatt auf der Hand gedacht hatte. Womöglich bluffte ich nur, um zwei schöne Frauen zu beeindrucken? Wenn ich allerdings nur einen Menschen vom Suizid abhalten konnte, so hatte sich dieser Bluff schon ausgezahlt.

Mit Viktoria kam ich überein, dass sie weiterhin bei Danielle nächtigen sollte, um sie ein wenig unter Kontrolle zu halten. Ich wollte Danielle außerdem mit auf meine Erkundungstouren nehmen, um sie tagsüber beschäftigen zu können. Ähnliches hatten Jonas und Sofija mit Alina vor, auch weil Sofija damit begonnen hatte, mit Alina leichte Schwangerschaftsgymnastik zu machen und die beiden sich dadurch immer näher gekommen waren.

Reinhold, Danielle und ich brauchten drei Tage, um hinter das Geheimnis der Richtungsumschaltung der kleinen Verkleinerungsanlage zu kommen. Die gute Nachricht war, dass die Umschaltung nicht per Software – was mir schon gewisse Sorgen bereitet hatte –, sondern mit einem großen Drehschalter vorgenommen wurde, der hinter der Verkleinerungsanlage angebracht war. Diesen Schalter hatten wir erst vom höchsten Punkt des Hügels zu sehen bekommen. Er rastete mit einem deutlich hörbaren Knacken in die jeweils andere Position ein, was Danielle und ich aber sofort als schlechte Nachricht auffassten. Erstens war der Schalter unerreichbar für uns Däumlinge an der Wand hinter dem Schreibtisch angebracht und zweitens war er für uns Däumlinge viel zu schwergängig. Die Hexe achtete außerdem peinlich genau darauf, den Schalter immer wieder auf die Position »Verkleinern« zurückzustellen, nachdem sie von uns eine Rücksendung empfangen hatte. Auch fanden wir heraus, dass die Leuchten, die wohl die Betriebsart anzeigten, dabei von Gelb über Rot nach Grün wechselten.

Wir kamen überein, »Grün« als vom Schreibtisch zur Modellbahn, »Gelb« für die umgekehrte Richtung und »Rot« als »nicht betriebsbereit« anzusehen.

Die einfachsten Lösungen waren wohl wie immer die naheliegendsten, und so schlug Reinhold vor, am Gegenstück bei uns auf der Modellbahn die elektrischen Anschlüsse einfach umzupolen. Er glaubte nämlich, dass mit dem Drehschalter einfach nur die Stromzufuhr umgepolt wurde.

Danielle stimmte ihm zu und meinte: »Das muss so einfach wie möglich funktionieren. Er hat das bestimmt so konstruiert, dass das auch die blöde Hexe bedienen kann.« 

Nachdem die Hexe auch an diesem Tag nach der Essensausgabe – das machte sie immerhin noch täglich – nichts mehr von uns wissen wollte, konnten wir uns in Ruhe der Verkleidung der Verkleinerungsanlage im Speiseraum widmen. Die Anlage war nämlich mit Kunststoffplatten so verkleidet, dass man nicht sehen konnte, welche Kabel von wo aus wohin führten.

Nach ein paar Stunden Einsatz von mehr oder weniger roher Gewalt war es dann soweit und Danielle und ich hängten uns gemeinsam an die letzte Platte, um sie vollständig abreißen zu können. Mit einem Ruck gab die Platte nach und wir fielen mit der Platte zu Boden. Danielle kam dabei so auf mir zu liegen, dass sie mir völlig unerwartet ihre großen Brüste ins Gesicht drückte. Ich stand ja mehr so auf »klein, aber oho«, aber wie oft wollte ich mir eigentlich noch einreden, dass sie gar nicht mein Typ war… 

Sie war zum Glück schnell wieder auf den Beinen und half mir dann auf. Reinhold beugte sich vor und schaute hinter die Anlage. Aus dem Boden führte ein Kabelbündel zur Anlage, einige Kabel davon endeten in einem mir unbekannt vorkommenden Stecker nebst passender Buchse.

»Normales RJ 45-Netzwerk ist das aber nicht, oder?«, fragte ich.

Reinhold betrachtete die Kabel und Stecker genauer, gab aber nur ein »hmmm« von sich.

»Nein, das ist Glasfaser, auf einem Kabel kann ich auch das Wort ›Fiber‹ erkennen«, stellte er dann fest. »Die anderen beiden Kabel sind dann wohl für die Energieversorgung.« 

Wir zählten vier Glasfaserkabel, was mir durchaus sinnvoll erschien, da zwischen den Anlagen wohl recht große Datenmengen übertragen werden mussten.

Ich schaute Reinhold an und fragte: »Und was soll das Ganze dann darstellen, Plastic Box Over IP, Human Over IP oder was?« 

Sollte der Böse Mann es tatsächlich geschafft haben, Gegenstände und auch Menschen in Daten umzuwandeln und dann an einem anderen Ort in einem anderen Maßstab wiederherzustellen?

»Was man kabelgebunden über ein Netzwerk schicken kann, könnte man doch dann auch kabellos, über GSM oder WLAN oder so«, sagte ich zu Reinhold.

Er meinte: »Das kommt auf die Bandbreite an. Für diese Zwecke hier braucht man wohl einiges an Bandbreite, sonst hätten wir hier nicht so viele parallele Glasfaserleitungen gefunden. Ich glaube nicht, dass die drahtlose Netzwerktechnik schon so weit ist.« 

»Aber in ein paar Jahren…«, ergänzte ich.

Danielle warf ein: »Ich verstehe nicht.« 

»Ich glaube, hier wurde still und heimlich ’mal eben eine Art Teleportation erfunden«, stellte Reinhold fest.

Sie bohrte nach: »Etwa wie in Raumschiff Enterprise?« 

»Jaah, beam me up, Hexe!«, rief ich und Danielle lachte.

Der Böse Mann hatte offensichtlich, wie alle bösen Psychopathen, seine Erfindung oder Erfindungen nicht in einem wissenschaftlichen Journal veröffentlicht oder zu einem Patent angemeldet, sondern ausschließlich für seine bösen Machenschaften genutzt. Die Verkleinerungsanlage sah außerdem für mich so aus, als ob sie schon längst aus den ersten Prototypstadien heraus war. Es gab ja auch nicht nur eine, sondern sogar zwei Anlagen, von denen eine immerhin ganze Menschen transportieren konnte.

Ich schaute mir die anderen beiden Stecker genauer an.

»Das sieht mir hier aber nicht nach 220 oder 380 Volt aus«, meinte ich.

Reinhold stimmte mir zu und sagte: »Die Stecker sind wohl handelsübliche Modellbahnstecker für Schwachstrom, vielleicht für zwölf oder sechzehn Volt oder so.« 

Ich konnte hier ja schlecht meine Modellbahnkenntnisse öffentlich kundtun, aber auch wenn die Stecker im Verhältnis zu meiner Körpergröße natürlich riesig waren, so hatte ich sie selbstverständlich sofort erkannt.

»Das ist doch dann wohl Gleichstrom?« 

»Davon gehen wir jetzt ’mal aus«, antwortete Reinhold. »Umpolen dürfte ganz einfach sein.« 

Wir begannen dann noch, von der großen Verkleinerungsanlage im Bahnhofsgebäude die Verkleidung herunterzureißen, waren dann aber zu erschöpft, um an diesem Tag noch weiterarbeiten zu können. Da die Hexe fast jegliches Interesse an der Modellbahnanlage verloren zu haben schien, konnten wir uns auch einigermaßen sicher sein, dass sie nicht auch noch penible Kontrollen in den Häuschen durchführte.

Danielles ausgesprochen intensiver Gutenachtkuss ließ mich ratlos zurück, denn was sollte ich denn auch mit zwei Frauen gleichzeitig… 

Nach der Essensausgabe am nächsten Morgen erlebten wir einen kleinen Rückschlag. Ich hatte mich mit Danielle auf den Hügel begeben, um die Rücksendung von zwei Kunststoffkisten verfolgen zu können. Viktoria war mit uns gekommen, weil ich sie angeblich die letzten Tage sehr alleine gelassen hatte. Nun gut, sechs Augen sahen mehr als vier und außerdem war mir Danielle viel zu sehr auf die Pelle gerückt.

Zunächst sahen die Kisten, die sich neben dem Schreibtisch in der Verkleinerungsanlage materialisierten, vollkommen normal aus. Die Hexe nahm eine Kiste heraus und legte sie auf dem Schreibtisch ab. Die zweite Kiste zerfiel aber plötzlich in ihren Händen in viele kleine Einzelteile. Die Hexe fluchte laut, Danielle quiekte leise und Viktoria schaute mich an. Die Technik schien wohl doch nicht ganz ausgereift zu sein, trotz allem, was tatsächlich funktionierte. Entweder gab es öfters so eine Fehlfunktion, wobei die letzten Lebensmittelzustellungen ohne Probleme über die Bühne gingen, ebenso fünf Wassereimer auf einmal in der großen Verkleinerungsanlage. Oder aber ein Objekt konnte nur eine begrenzte Anzahl Verkleinerungs- und Vergrößerungszyklen durchlaufen, bevor seine molekulare Integrität (oder wie das bezeichnet wurde) irreparabel zerstört wurde.

»Ich bin dann für die molekulare Integrität«, stellte Viktoria schließlich fest, »technische Fehlfunktionen mag ich nicht so wirklich. Außerdem muss ich ja nur noch ein Mal mit dem blöden Ding transportiert werden, wenn unser Plan funktioniert.« 

Wir einigten uns darauf, verhalten optimistisch zu bleiben und stiegen wieder vom Hügel herab, um die Verkleidung an der großen Verkleinerungsanlage weiter abzubauen.

Obwohl die Anlage deutlich größer war – es musste ja ein Mensch darin Platz finden –, so fanden wir an der Rückseite die gleichen Kabel vor wie bei der kleinen Anlage, allerdings mit einer deutlich größeren Anzahl von Glasfaserkabeln, nämlich sechzehn. Rechtzeitig zum nächsten Mittwoch hatten wir unsere Arbeit soweit beendet, dass alle Stromkabel freigelegt waren, um sie schnell abziehen und wieder aufstecken zu können.

Bisher war der Böse Mann noch nicht wieder aufgetaucht und die Hexe fand sich eigentlich nur noch zur Essensausgabe bei uns ein. Eine Putzkontrolle hatte sie schon lange nicht mehr durchgeführt. Soweit ich wusste, hatte aber niemand von uns eine Hausstauballergie.

Dann kam der entscheidende Mittwoch.

Als ich hören konnte, wir die Haustür ins Schloss fiel, warteten wir noch den übernächsten Gongschlag der Kirche ab, also etwa dreißig Minuten. Weder die Hexe noch der Böse Mann tauchten in dieser Zeit auf und so konnte ich den Startschuss für die Phase Eins geben, nämlich das Umpolen der kleinen Verkleinerungsanlage und den ersten Testlauf.

Zwischen Häuschen und Hügel hatten wir eine Meldekette aufgestellt, die uns sofort das Verhalten des Gegenstücks berichten sollte. Die Stecker saßen recht fest und Jonas und ich hatten auch als Kräftigste aus der Gruppe einige Mühe, diese aus den Buchsen herauszubekommen. Nach dem erfolgreichen Abziehen des ersten Steckers kam von der Meldekette die Nachricht »Anzeige von Grün auf Rot!«. Das Hineinstecken gestaltete sich etwas unkomplizierter, wir mussten uns nur mit aller Gewalt dagegen stemmen. Prompt meldete die Kette »Anzeige Gelb!« und wir konnten mit dem Test beginnen.

Jonas legte eine Kiste in die Anlage und trat zurück. Sofort im Anschluss wurde uns »gelb blinkend« übermittelt; das schien der Indikator dafür zu sein, dass die Anlage gerade arbeitete. Die Kiste löste sich mit dem charakteristischen Sirren auf.

Wir verließen das Häuschen und rannten zum Hügel. Kaum waren wir dort angekommen, brach Jubel aus. Wir bekamen gerade noch mit, wie sich die letzte Ecke der Kiste vollständig materialisierte und das gelbe Blinken auf ein gelbes Dauerlicht wechselte. Anschließend mündete es in eine für mich etwas unangenehme Situation, denn es wollten mir zwei Frauen gleichzeitig um den Hals fallen.

Wir hatten die Phase Eins erfolgreich abgeschlossen und gingen nahtlos in die Phase Zwei über, da die Zeit drängte.

Diese Phase umfasste zunächst das Umpolen der großen Verkleinerungsanlage. Gemeinsam schafften wir es, die Anlage in nur der Hälfte der Zeit umzupolen, die wir für die kleine Anlage aufbringen mussten. Hier aber konnten wir nicht die Gegenseite beobachten, da diese sich irgendwo im Haus befinden musste. Ich hoffte nicht, dass diese in einem Industriegebiet zehn Kilometer außerhalb der Stadt angesiedelt war, weil für die Verarbeitung so großer Datenmengen – der Mensch bestand immerhin aus etwa einhundert Billionen Zellen, davon etwa zwanzig Milliarden Nervenzellen im Gehirn – doch einiges an Rechenleistung erforderlich sein müsste. Wir mussten also davon ausgehen, dass diese genau wie die kleine Anlage funktionierte. Auch der Test gestaltete sich undurchführbar. Wir konnten zwar eine Kunststoffkiste in die Anlage legen und zusehen, wie sie verschwand, aber auf der Gegenseite gab es niemanden, der diese dann aus der Anlage nehmen konnte. Niemand von uns verspürte aber ein großes Verlangen, dort dann als halb Mensch, halb Kiste wieder materialisiert zu werden.

Unter großem Protest von Viktoria und Danielle hatte ich mich als körperlich fittester und kräftigster für die erste Umwandlung zur Verfügung gestellt. Und ja, ich schien jetzt zwei Freundinnen gleichzeitig zu haben. Ich wollte die Abschiedszeremonie möglichst kurz halten und gab beiden nur ein schnelles Küsschen.

Bevor ich in die Anlage hinein ging, drehte ich mich um und sagte: »Ich sehe euch auf der anderen Seite! Wenn ich aber in einer Stunde nichts von mir hören oder blicken lasse: Abbruch und Rückbau der Umpolungen und, so leid es mir tut, Plan D ins Auge fassen.« 

Das letzte, was ich mitbekommen konnte, bevor mir in der Anlage schwarz vor Augen wurde, waren Viktoria und Danielle, die sich mit Tränen in den Augen in den Armen lagen.

Recht schnell kam ich wieder zu mir und torkelte aus der Anlage heraus. Erst einmal gaben meine Beine nach, so dass ich mich neben der Anlage auf den Boden setzen musste.

Ich befand mich in einem fast dunklen Raum, nur ein – glücklicherweise gelbes – Licht über der Verkleinerungsanlage und eine recht große Anzahl von grün und rot blinkenden LED spendeten genau so viel Helligkeit, dass ich immerhin grob etwas erkennen konnte. Es schien offenbar ein Kellerraum zu sein, und als ich die charakteristische Kirchenglocke in der üblichen Lautstärke hörte, war ich erleichtert, da ich wohl doch nicht in einem Industriegebiet außerhalb der Stadt angekommen war. Langsam stand ich auf und hangelte mich an einem Regal entlang, um einen Lichtschalter zu betätigen, den ich entdeckt hatte. Ich drückte auf den Schalter und zwei helle Leuchtstoffröhren erhellten daraufhin den Raum. Der erste Eindruck bestätigte, dass ich wohl wieder meine normale Größe erreicht hatte.

Ich verspürte spontan Hunger und Durst. Vielleicht wurde der Datenstrom etwas verschlankt, indem der Mageninhalt weggelassen wurde. Zum Essen und Trinken hatte ich jetzt aber erst einmal keine Zeit, zuerst musste ich die anderen wieder vergrößern, nachdem es bei mir offenbar funktioniert hatte.

Neben der Verkleinerungsanlage sah es aus wie in einem Rechenzentrum eines mittelgroßen Unternehmens. Aus der Kellerdecke kamen dicke Kabelbündel und teilten sich in zwei Stränge auf, die in zwei Rechnerschränke führten. In der anschließenden langen Reihe von Schränken war wohl die Rechenleistung untergebracht, die für Human Over IP notwendig war. Eigentlich verspürte ich den Drang, mir alles genauestens anzusehen, aber die anderen warteten ja schon. Ich steckte mir eine Handvoll der größten Kabelbinder in die Hosentasche, die ich finden konnte, und nahm einen Besenstiel ohne Besen in die Hand, der neben einem kleinen Waschbecken mit darüber angebrachtem Spiegel lehnte.

Vor dem Spiegel blieb ich stehen und schaute mich an. Mein Gesicht schaute aus wie immer, bis auf zauselige Haare, die darüber hingen, und einen struppigen langen Vollbart, der es bedeckte. Ohren, Augen, Nase und Mund waren noch an der gleichen Stelle, das galt ebenso für Arme und Beine, auch mein Gehirn schien noch zu funktionieren, so dass ich davon ausgehen musste, eine erfolgreiche Rückvergrößerung hinter mich gebracht zu haben. Dafür sprach auch, dass meine Körpergröße das richtige Verhältnis zur Deckenhöhe und zur Größe der Türen und Fenster besaß. Auch die von hier aus erkennbaren Stufen der Kellertreppe schienen für mich normale und zu meiner Größe passende Proportionen zu besitzen.

Sowohl die Hexe als auch der Böse Mann waren nirgends zu hören oder zu sehen, als ich mich auf dem Weg in den ersten Stock begab.

Vorsichtig steckte ich dann meinen Kopf durch die Tür des Modellbahnzimmers. Der Böse Mann und die Hexe waren auch hier nicht zu sehen und so konnte ich laut rufen: »Ich bin’s!« 

Die Däumlinge liefen auf den Bahnsteig und jubelten mir zu.

»Jonas, Nächster, wie besprochen!«, rief ich.

Er streckte beide Daumen in die Höhe und lief zum Bahnhofsgebäude.

Ich legte einen Finger auf den Bahnsteig und Viktoria und Danielle umarmten und küssten ihn. Dumme Idee eigentlich, denn sie ließen ihn erst gar nicht mehr los.

Im Keller empfing ich dann Jonas, den ich gleich mit einer kleinen Holzlatte als Waffe ausstattete. Wir gingen aus dem Keller in das Erdgeschoss und die Phase Drei, die Überwältigung der Hexe, konnte beginnen.

Nun hieß es warten und wir stellten uns im Erdgeschoss im Flur neben der Tür zum Windfang auf, nachdem wir uns in der Küche mit einigen Utensilien versorgt hatten. Der Böse Mann blieb weiterhin unsichtbar, er war wohl tatsächlich tot oder längere Zeit im Krankenhaus.

Dann musste alles ganz schnell gehen, denn wir hatten nur einen Versuch.

Wir hörten, wie jemand die Haustür aufschloss und schon konnte ich durch das Milchglas der Tür erkennen, dass es sich um eine recht große Person handeln musste.

Es war sie.

Sie öffnete die Tür zum Flur und bekam von Jonas mit voller Wucht einen Schlag mit der Holzlatte auf den Bauch. Einen Schrei ausstoßend ging sie zu Boden und ihre Handtasche flog in hohem Bogen an die gegenüberliegende Wand. Ich stürzte mich auf sie und begann, ihre Arme auf den Rücken zu drehen und sie mit Kabelbindern zusammenzuschnüren. Jonas hatte sich auf ihre Beine gesetzt und begann nun ebenfalls, diese mit Kabelbindern, die ich ihm zugeworfen hatte, zusammenzubinden.

Die Hexe drehte ihren Kopf zur Seite und schrie: »Ich werde euch alle…!« 

»Nein, wirst du nicht«, erwiderte ich trocken und stopfte ihr ein zusammengeknülltes Küchentuch als Knebel in den Mund. Ehe sie es sich versah, hatte Jonas den Knebel mit einem um den Kopf gelegten Geschirrtuch fixiert.

Gemeinsam packten wir sie an den Oberarmen und hoben sie vom Boden auf. Sie war wirklich groß und kräftig und wir hatten alle Mühe, sie im Zaum zu halten, obwohl sie gefesselt war.

»Halt’ endlich still«, brummte Jonas und verpasste ihr einen Faustschlag in die Nieren, so dass sie zur Seite kippte.

Daraufhin wurde sie etwas ruhiger und wir konnten sie auf eine Trittleiter in einem Abstellraum neben der Küche setzen. Mit den restlichen Kabelbindern banden wir sie an der Leiter und die Leiter an einem Rohr und einem Regal fest.

Jonas rüttelte an der Leiter. Diese bewegte sich nur wenige Millimeter – hier kam die Hexe erst einmal nicht von der Stelle.

Schnurstracks liefen wir zum Modellbahnzimmer und verkündeten unseren Triumph.

Ich lief in den Keller zurück und stellte mich vor der Verkleinerungsanlage auf.

»Anlage frei!«, brüllte ich nach oben.

Jonas brüllte zurück: »Nächster kommt!« 

Als dritte Person hatten wir Alina auserkoren, denn sie und ihr Baby mussten schnellstens versorgt werden. Ich fing sie auf und und setzte sie auf den Boden.

»Willkommen zurück, es wird gleich besser«, meinte ich zu ihr.

Sie fragte: »Bin ich wieder…?« 

»Ja, wieder normal groß und am Stück.« 

Sie umklammerte meine Beine und hauchte »Danke«.

»Anlage frei!« 

»Nächster kommt!« 

Danielle fiel mir sofort um den Hals, als sie aus der Anlage trat. Auch sie setzte ich sanft auf den Boden ab, ebenso Sofija, die ihr folgte. Ich wies Alina an, die anderen nach oben zu führen und erst einmal im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Vorher drückte ich Danielle noch den Besenstiel in die Hand, falls der Böse Mann doch plötzlich erscheinen sollte. Viktoria wollte sich erst gar nicht von mir lösen, als ich sie in Empfang nahm.

Reinhold war als letzter an der Reihe. Als er die Anlage verließ, flackerten die Lichter, die Anlage gab ein merkwürdiges Geräusch von sich und einige Lichter in den Rechnerschränken erloschen. Er schaute entsetzt auf einen blutenden Stumpf, wo gerade eben noch sein linker Unterarm gewesen war.

»So ein blöder Obermist!«, fluchte ich laut, dass es von den Kellerwänden hallte.

Viktoria stieß einen spitzen Schrei aus und ich brüllte »Sofijaaa!« nach oben.

Buchstäblich in letzter Sekunde hatte die Anlage offensichtlich eine Fehlfunktion bekommen und damit einen Teil von Reinholds Arm bei sich behalten. Dieser schwirrte jetzt wahrscheinlich als nicht zustellbare Datenpakete im Netzwerk herum. Viktoria versuchte, mit ein paar glücklicherweise sauberen Tüchern die Blutung zu stellen. Sofija stürzte in den Raum und ich warf ihr ein paar Kabelbinder zu.

»Kannst du damit den Arm abbinden oder so?«, fragte ich sie.

Sie nickte, murmelte etwas von »Feldlazarett, Jugoslawienkrieg« und machte sich gleich ans Werk.

»Brüll’ bitte nicht so laut«, meinte Viktoria zu mir.

»Ach was, da war noch noch gar nichts. Wenn man es richtig macht, geben die Sensoren der Haustechnik Störmeldungen aus.« 

Reinhold kicherte und stellte fest: « Du bist und bleibst ein Spinner, aber der Spruch ist gut, den muss ich mir merken.« 

Mein Plan, ihn etwas abzulenken, war aufgegangen.

Jonas steckte seinen Kopf durch die Tür.

»Irgendetwas schiefgegangen?«, wollte er wissen.

»Jede Menge«, antwortete ich, »schau ’mal, ob du im Badezimmer oder so etwas Verbandmaterial findet. Vicky, hilf ihm bitte!« 

Sie küsste mich auf die Wange und meinte »geht klar«.

Dank des Abbindens und des von Sofija angelegten professionellen Verbands konnten wir die Blutung dann tatsächlich stillen und Reinhold aus dem Keller in das Wohnzimmer bringen.

Danielle machte den großen Fernsehsessel frei und wir setzten Reinhold erst einmal hinein.

Alina fing plötzlich an, quiekende Laute auszustoßen und ihren Bauch zu halten.

»Wehen?«, fragte Sofija.

»I–ich weiß nicht…« 

Ich warf Sofija ein schnurloses Telefon zu, das ich von seiner Basisstation auf einem Sideboard genommen hatte.

»Ruf’ 112 an, du weißt am Besten, was hier medizinisch los ist!« 

Jonas hatte Briefe vom Sideboard genommen und durchgesehen.

»Ich kann dir auch sagen, wo wir sind!«, rief er. »Auf den Briefen steht immer die gleiche Adresse, das muss hier sein.« 

Er nannte Sofija die Adresse und sie wählte den Notruf.

»Sofija, lege dann bitte nicht auf, sondern gib mir dann das Telefon«, bat ich sie.

Sie gab ein »mmm-hmm« von sich und ich konnte gerade noch aus den Augenwinkeln erkennen, wie Danielle mit »Wo ist sie?«-Gebrüll aus dem Zimmer zur Küche rannte.

»Jonas!«, rief ich, aber er war schon aufgesprungen und lief ihr nach.

Vom Wohnzimmer aus gab es zwei Wege zum Abstellraum, durch die Küche oder oder durch das Esszimmer. Ich nahm daher den Weg durch das Esszimmer.

Vor dem Abstellraum konnten wir sie gerade noch abfangen. Nachdem sie sich wieder etwas beruhigt hatte, ließen wir sie wieder los. Ich stellte mich aber vor den Raum, um jederzeit eingreifen zu können.

»Also gut, nur einen Schlag!«, sagte Jonas. »Wir brauchen sie lebend und am Stück.« 

Danielle ging in den Abstellraum vor und boxte dann der Hexe mit voller Wucht in den Bauch, so dass Leiter und Regal laut schepperten. Anschließend fiel Danielle mir weinend um den Hals und ich nahm sie Arm in Arm wieder mit ins Wohnzimmer. Dort übergab ich sie an Viktoria und ließ mir von Sofija das Telefon geben.

»Verbinden Sie mich bitte mit dem Polizeinotruf«, bat ich.

Nach ein paar Sekunden Warteschleifenmusik – der Notruf hatte wirklich eine Warteschleifenmusik! – meldete sich eine weibliche Stimme mit »Polizeinotruf, was kann ich für sie tun?« 

Ich nannte die Adresse und sagte: »Ich bin gerade von der 112 weiterverbunden worden, weil wir hier auch die Polizei brauchen. Wir sind hier sieben Personen, die sich aus einer Gefangenschaft befreien konnten. Die Frau, die uns gefangengehalten hat, konnten wir überwältigen und fesseln.« 

»Sieben Personen, Frau überwältigt«, wurde wiederholt. »Lebt die Frau noch?« 

»Ja, wir haben sie nur gefesselt.« 

Auf die Frage, ob noch mehr Personen gefangen gehalten werden oder wurden, antwortete ich, dass ein paar Menschen mittlerweile von der Frau und ihrem Mann, ihrem Komplizen – der übrigens immer noch unauffindbar war –, auch getötet worden waren. Ich teilte der Frau aus der Notrufzentrale alle mir bekannten Namen mit, zuerst die der Überlebenden. Dabei hoffte ich, dass viele Namen in der Vermisstenkartei auftauchten – oder wie jetzt ein modernerer Ausdruck dafür war.

Nach den ersten vier Namen hörte ich, wie im Hintergrund der Geräuschpegel an Intensität zunahm. Ich stellte mir die Situation wie im Film vor, dass die Frau neben ihrer Telefonanlage jetzt auf einen großen roten Knopf gedrückt hatte, weil etwas Großes sich anbahnte und die ganze Notrufzentrale mit eingebunden werden musste.

»Sie sehen wahrscheinlich jetzt, dass ich Sie nicht veräppeln will«, meinte ich.

»Alles gut, in fünf Minuten ist eine Streife bei Ihnen.« 

»Dann müsste auch der Notarzt hier sein. Ich erwarte sie vor dem Haus an der Straße.« 

Ich verabschiedete mich, drückte auf den Auflegeknopf und warf das Telefon auf den Couchtisch.

»Wo gehst du hin?«, fragte Viktoria.

»Ich treffe mich draußen mit Notarzt und Polente.« 

»Ich komme mit ’raus, ich muss an die frische Luft!« 

»Ich auch!«, stimmte Danielle ihr zu.

Ich bat beide, auf einer kleinen Gartenmauer Platz zu nehmen. Viktoria schaute nach oben.

»Blauer Himmel! Und Wolken!« jauchzte sie.

Danielle bog einen Zweig eines Nadelbaumes zu ihr hin und schnupperte daran.

»Das riecht soo schön nach Wald!« 

Nach so vielen Monaten nur mit der Zimmerdecke als Himmel und nur von Plastikgewächsen umgeben, konnte ich mir vorstellen, wie beide sich jetzt fühlten.

Schon konnte ich ein Pressluft-Martinshorn in der Ferne hören und ging zum Gartentörchen, an dem Jonas bereits Aufstellung genommen hatte. Ich schaute mich um und hielt inne. Ein großer Hochspannungsleitungsmast mit einem unter der obersten Traverse angebrachten Kranz von Mobilfunkantennen kam mir seltsam bekannt vor. Auch die ganze Gegend kam mir seltsam bekannt vor.

»Du«, sagte ich zu Jonas, »ich kenn’ das hier! Da hinten, die zweite rechts, wohnt meine Schwester!« 

Ich konnte mich aber beim besten Willen nicht mehr an die Einzelheiten erinnern, als ich auf dem Weg zu meiner Schwester verschleppt worden war, wohl weil die Betäubung und/oder die Verkleinerung eine Art Amnesie ausgelöst haben musste. Es war sowieso ein Wunder, dass ich überhaupt noch klar denken konnte, waren meine Gehirnzellen doch zwei Mal komplett auseinandergepflückt und wieder zusammengesetzt worden.

Ich hatte im Vorbeigehen in einem Raum, der wohl das Arbeitszimmer darstellte, etwas erspäht, das wie eine dreidimensionale Darstellung eines bekannten mathematischen Objekts aussah, nämlich ein sogenanntes Möbiusband. Jonas stimmte mir zu, dass die Mathematik eines Möbiusbands wohl den theoretischen Hintergrund für die ganze Verkleinerungs- und Vergrößerungsgeschichte darstellte.

»So ein Band hat doch eine große und eine kleine Seite, oder? Das ist, trotz allem, schlau, sehr schlau!«, musste er anerkennen.

Ich ergänzte: »Und es gibt dann doch einen theoretisch endlosen Zyklus von Verkleinerung und Vergrößerung.« 

»Theoretisch vielleicht«, meinte er, »aber nicht bei realen Objekten wie Kunststoffkisten.« 

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