Kapitel 2
Verhext

Der kommende Tag war dann vor allem von umfangreichen Heimwerkaktivitäten das Mannes der Hexe geprägt, was uns überraschend einen arbeitsfreien Tag bescherte, da er für die Modellbahn – und für uns – keine Zeit hatte. Aus Holzleisten konstruierte er neben Schreibtisch und Verkleinerungsanlage einen Rahmen, wobei er die Leisten untereinander und mit der Wand mit Metallwinkeln verschraubte. Die Hexe musste ihm dabei assistieren, wie das Staubsaugerrohr unter der Bohrmaschine platzieren, wenn Löcher in die Wand zu bohren waren, oder Leisten und Wasserwaage halten.

»Was soll das denn werden, wenn’s fertig ist?«, fragte Jonas leise.

Für eine Erweiterung der Modellbahn war es zu weit von dieser entfernt und eine Erweiterung der Werkbank passte auch irgendwie nicht, da ja die Verkleinerungsanlage dazwischen stand. Die Antwort bekamen wir dann am nächsten Tag.

Nach einem Vormittag, an dem wir wieder einmal die Modellbahn »bevölkern« mussten, schleppte der Mann der Hexe einen großen Karton mit einem bunten Bild auf der Vorderseite ins Zimmer.

»Was ist wohl in dem Karton?«, wollte Alina wissen.

Frank antwortete: »Ich habe ’mal in einer Band gespielt, und das ist eindeutig ein kleines Tonmischpult.« 

»Was will er denn hier mit einem Mischpult anfangen?« 

Auch diese Antwort bekamen wir bald darauf von der Hexe geliefert.

»Wann wird das endlich angeschlossen?«, keifte sie ihn an.

Er zuckte mit den Schultern und antwortetet: »Wenn ich fertig bin.« 

»Hier ist ja auch noch gar nichts passiert!«, bellte sie und zeigte auf die Tütchen mit den Elektronikbauteilen.

Er schaute sie nur stumm an.

»Und die Tüten hier drüben«, fuhr sie fort, »sind ja noch gar nicht ’mal ausgepackt!« 

»Wahrscheinlich Ende der Woche kann ich den ersten Test machen.« 

»Das will ich auch hoffen!«, blökte sie und verschwand so schwungvoll aus dem Zimmer, dass auch ich den Luftzug spüren konnte.

In mir stieg ein ungeheuerlicher Verdacht auf, dem ich sofort nachgehen musste.

»Frank und Reinhold, könntet ihr bitte kurz mit mir auf den Hügel kommen?«, bat ich sie. »Ich möchte euch etwas zeigen und eure Meinung dazu hören.« 

Eher widerwillig folgten mir beide auf den Hügel. Der Mann der Hexe war damit beschäftigt, das Mischpult – jetzt konnte ich das Bild auf der Verpackung erkennen – aus der Verpackung zu nehmen. Das Verpackungsstyropor machte dabei grauenhafte Quietschgeräusche, die mir in meinen kleinen Däumlingohren besonders weh taten; aber auch als normal großer Mensch konnte ich diese Geräusche noch nie ausstehen.

»Frank, wie viele Kanäle – oder wie das heißt – hat das Mischpult?«, fragte ich ihn.

Mittlerweile hatte der Mann der Hexe das Pult vollständig ausgepackt und testweise in den neu gebauten und genau passenden Rahmen gelegt; damit war diese Frage also auch schon geklärt worden.

Frank antwortete: »Sieht handelsüblich aus. Also vierundzwanzig Kanäle, wenn ich das richtig sehe.« 

»So«, fuhr ich fort, »jetzt schaut bitte auf den Schreibtisch neben die Lötstation. Dort liegen kleine Tüten mit Elektronikteilen. Könnten das so kleine Mikrofone sein, wie sie zum Beispiel in Mobiltelefonen verbaut sind und die es schon für Dreifuffzig beim Chinaversand gibt?« 

Frank wurde bleich und ihm entfuhr ein leiser Fluch.

»Als ob ich es nicht schon geahnt hatte«, meinte er.

Ich sagte: »Los, sprich’s aus.« 

»Er will uns abhören«, teilte er uns mit.

Ich schaute Reinhold an und er nickte heftig. Nun schienen beide langsam die gleichen Gedankengänge zu entwickeln.

Reinhold meinte: »Die Mikrofone sollen wahrscheinlich mindestens in alle Häuschen eingebaut werden. Und bei vierundzwanzig Stück dann auch überall sonst auf der Anlage.« 

»Jedes Mikrofon wird dann auf seinen eigenen Mischpultkanal gelegt, er hat ja genug davon«, ergänzte Frank. »Dann kann man sie getrennt aussteuern und mit Rauschfiltern oder Ähnlichem versehen, damit wir besser zu verstehen sind.« 

Nun war ich an der Reihe, heftig zu nicken.

»Nicht er, sondern sie will uns abhören«, warf Reinhold dann ein, »sie traut uns doch keinen Millimeter weit.« 

Frank fluchte leise und meinte: »Wir müssen sofort eine Krisensitzung machen und uns Plan B überlegen, wo wir uns zukünftig ungestört unterhalten können.« 

»… und was wir zukünftig noch sagen können, dürfen, sollen, wenn ein Mikrofon in der Nähe ist«, setzte ich fort.

Auf dem Weg vom Hügel herunter lief uns Sofija über den Weg.

Sie fragte: »Was ist hier los und was hat er da so laut ausgepackt und was hat euch da oben auf dem Hügel so erschreckt?« 

»Noch etwas«, sagte ich zu Frank und Reinhold, ohne auf Sofija einzugehen. »Wer in der Lage ist, funktionierende Verkleinerungsanlagen zu bauen, der hat diese Nummer in Nullkommanix fertig!« 

Von beiden kam zur Bestätigung nur ein heftiges Nicken.

»Was ist hier los?«, fragte nun auch Viktoria.

Frank antwortete: »Wir bekommen mit großer Wahrscheinlichkeit ein mittelgroßes Problem. Kommt alle in das Haus mit dem Speiseraum, wir müssen dringend etwas besprechen!« 

Viktoria hatte sich bei mir untergehakt und ließ nicht locker: »So schlimm?« 

»Eventuell ja«, gab ich zurück.

Sehr schnell hatten sich alle um den großen Esstisch versammelt.

Frank begann: »Liebe Gnominnen, liebe Gnome! Vielen Dank, dass ihr alle so schnell und so zahlreich erschienen seid!« 

Reinhold prustete los und Sofija und Danielle kicherten leise. Manche Dinge waren einfach nur noch mit Humor halbwegs zu ertragen.

»Wir bekommen ein Problem: Die Hexe will uns jetzt nicht nur mit Kameras, sondern auch mit Mikrofonen in jedem Häuschen überwachen.« 

»Das Mischpult ist schon da«, ergänzte ich, »die Kleinmikrofone auch, er muss alles nur noch zusammen löten. Ja: nur noch. Denn wie ich eben schon sagte: Für jemanden, der Verkleinerungsanlagen, voll funktionsfähige Verkleinerungsanlagen in zwei Größen zusammenbauen kann, dürfte die Mikrofonsache etwas sein, was er so nebenbei erledigt.« 

»Also müssen wir uns überlegen, wo wir uns dann noch – so wie jetzt – ungestört unterhalten können?«, wollte Sofija wissen.

Viktoria legte nach: »Wo eurer Meinung nach können wir uns dann noch ungestört unterhalten?« 

»Als Anwalt bin ich ja von Haus aus schon ein Berufspessimist«, warf Jonas ein, »hier gefangen zu sein, hat mich noch ein paar Stufen pessimistischer werden lassen. Daher lautet meine Antwort auf eure Fragen: Nirgends!« 

Das Mischpult besaß ja vierundzwanzig Eingänge, und wenn er diese alle… Wir mussten also zunächst davon ausgehen, dass alle Häuschen, der Bahnhof, der Tunnel und der Schattenbahnhof mit Mikrofonen bestückt werden sollten, und dass wir eigentlich dann keinen Ort mehr hatten, an dem wir uns ungestört unterhalten hätten können.

Die Alternativvorschläge sahen auch nicht sehr vielversprechend aus.

»Zeichensprache?« 

»Nein, das würde in der Videoüberwachung auffallen.« 

»Fremdsprachen?« 

»Wir beherrschen wohl alle ein mehr oder weniger gutes Englisch, Sofija auch Kroatisch, Danielle Französisch, aber der plötzliche Wechsel auf eine andere Sprache würde die Hexe nur noch mehr auf uns aufmerksam machen.« 

»Hexe ist ein gutes Stichwort«, sagte ich. »Plan B wären dann noch zu entwickelnde Sprachregelungen. Hexe darf man zum Beispiel nicht mehr sagen – da können alle gleich mit anfangen.« 

»Cockney Rhyming Slang«, gab Danielle unvermittelt von sich.

»Cockney was?« 

Danielle hatte sich als Übersetzerin viel mit Sprachen beschäftigen müssen und ihr Lieblingsthema waren Geheimsprachen geworden, wie Rotwelsch oder das britische Pendant, der Cockney Rhyming Slang.

»Das ist eine Art Geheimsprache«, bestätigte Reinhold, »ich hatte davon in der Zeitung gelesen.« 

Wichtigstes Merkmal dieser Sprachen war die Verwendung von Begriffen für etwas, was aber eine ganz andere Bedeutung besaß. Einstimmig beschlossen wir daher, dass jeder sich Begriffe für etwas ganz anderes ausdenken sollte.

»Wir haben ja noch ein paar Tage Zeit, bis die Mikrofoninstallation in Betrieb geht«, meinte Jonas.

Wir beendeten die Sitzung mit der Aufgabe an alle, sich Sprachregelungen zu überlegen.

Später im Bett rutschte mir spontan ein »ich hasse dich« heraus, was Viktoria ein erschrecktes »wie bitte?« entlockte.

Ich zog sie zu mir, küsste sie und erinnerte sie daran, was unsere »Hausaufgabe« für die nächsten Tage war.

Sie schaute mich mit großen Augen an und führte den Gedanken weiter.

»Das ist gar nicht so schlecht! So täuschen wir Zwietracht zwischen uns vor. Das ist bestimmt etwas, was die H…, sie noch mehr befriedigen wird.« 

»Jaja, du mich auch, du blöde Kuh.« 

Da sie sich verschluckt hatte, brach Viktoria in ein gurgelndes Lachen aus, was in einen Hustenanfall mündete. Es klang so, als ob sie sich hiermit viel Frust von der Seele hustete. Ich hatte sie noch nie so gelöst gesehen, seit ich zu ihrem »Gefährten« bestimmt worden war. Auch ich musste aufpassen, hier nicht vollkommen durchzudrehen, da kam ein wenig Humor gerade recht.

Nachdem ich einer immer noch leise kichernden Viktoria eine »abartig schlaflose Nacht« gewünscht hatte, was sie nur noch mehr kichern ließ, schliefen wir dennoch recht schnell ein.

Der folgende Tag begann mit einem bereits recht früh herumwuselnden Mann der Hexe, der begann, das Mischpult testweise zu verkabeln.

»So fährt er wenigstens nicht mit der blöden Bahn herum«, stellte Viktoria fest.

Sofija ergänzte: »Und wenn er nicht fährt, dann kommt sie meistens auch nicht, um uns zu piesacken.« 

Ich wurde mit Viktoria zusammen als Ausguck auf den Hügel abgeordnet und wir versteckten uns zwischen zwei Kunststoffbüschen – wie gerne hätte ich aber endlich einmal wieder echte Blätter gesehen, gefühlt und gerochen. Der Mann der Hexe hatte das Mischpult mit der Rückseite nach vorne auf den Schreibtisch gelegt und begann nun, Kabel in die Buchsen auf der Rückseite zu stecken. Am jeweils anderen Ende des Kabels befestigte er kleine Fähnchen aus weißem Klebeband, die er mit einem schwarzen Faserschreiber mit Ziffern beschriftete. Als er das letzte Kabel beschriftet hatte, machte er eine kleine Pause und kam nach ein paar Minuten mit einem leicht dampfenden Kaffeebecher in der Hand zurück. Ich dachte an meinen Koffeinentzug und musste feststellen, dass die Kopfschmerzen vollständig verschwunden waren. Dass er tatsächlich alle vierundzwanzig Mikrofoneingänge mit Kabeln bestückte hatte, war eine Neuigkeit, die wir dringend den anderen mitteilen mussten. Hieß es doch, dass er wirklich eine flächendeckende akustische Überwachung plante.

Mit den jetzt vollständig angeschlossenen Kabeln, die er provisorisch zu einem Kabelbaum zusammengebunden hatte, manövrierte er das Mischpult vorsichtig in das Gestell, um es anschließend daran festzuschrauben. Außen am Gestell brachte er noch einen kleinen Haken an, an den er eine großen Kopfhörer hängte.

Das Kabel mit dem Fähnchen »1« platzierte er auf den Schreibtisch und legte dann eine Schachtel Schrauben darauf, weil es immer wieder vom Schreibtisch herunter rutschen wollte. Aus einer weiteren Schachtel holte er ein kleines Kästchen, das ich wegen der Lüftungsschlitze in Himbeerform sofort als Kleinstrechner Raspberry Pi erkannte. Mit vier kleinen Schrauben befestigte er den Raspberry Pi am Gestell und verband ihn und das Mischpult mit einem kurzen und leuchtend blauen USB-Kabel.

Daher sollte also der Wind wehen: Die Mikrofone zeichneten unseren Schall auf, der im Mischpult gefiltert und auf eine einheitliche Lautstärke gebracht werden soll. Das Mischpult digitalisierte diese Signale und gab sie an den Raspberry Pi weiter, der seinerseits diese über ein Funknetzwerk – ich hatte keine Netzwerkkabel gesehen – an einen weiteren Rechner zum Aufzeichnen und Auswerten weiterreichte.

Alles in allem empfand ich es als nicht unclevere Konstruktion, wenn, ja wenn diese nicht zu unserem Nachteil aufgebaut worden wäre.

Anschließend setzte er sich an den Schreibtisch und begann, eine grüne Leiterplatte mit einer Blechschere in kleine quadratische Stückchen zu zerschneiden. Ich zählte vierundzwanzig solcher Stückchen und ich war mir sicher, dass er daran die kleinen Mikrofone löten wollte, was bedeutete… 

Auch Viktoria hatte nachgezählt und stellte nur trocken fest: »Vierundzwanzig Mikrofone, also flächendeckend!« 

Da ihn seine Frau – ich vermied jetzt auch in Gedanken das »H-Wort«, so gut es ging – zum Mittagessen gerufen hatte, stieg ich mit Viktoria vom Hügel herab, um den anderen unsere Beobachtungen mitzuteilen.

Er konnte uns natürlich nicht heimlich verkabeln, denn er musste wahrscheinlich die Hausdächer abnehmen, das Mikrofon irgendwo im Dachfirst befestigen und dann die Kabel irgendwie durch den Boden in den Untergrund führen. So standen uns unruhige Tage bevor. Die gute Nachricht war, dass dadurch die »Bevölkerung« wenigstens größtenteils wegfallen sollte.

Nachdem er wieder am Schreibtisch Platz genommen hatte, waren auch Viktoria und ich auf unseren Beobachtungsposten zurückgekehrt. Nun begann er, in einer sogenannten »Dritten Hand« – oder wie so ein Teil genau bezeichnet wurde – eines der kleinen Platinenstücke und mehrere elektronische Bauteile festzuklammern, wohl damit er zum Löten beide Hände freihaben konnte. Anschließend schwenkte er die große Leuchtlupe darüber und schaltete sie ein. Viktoria zuckte dabei leicht zusammen, was ich mir nicht erklären konnte. Die Fliegenklatsche war eindeutig »böse«, aber was war jetzt an der Lupe so schrecklich, dass diese sie gleich derartig zusammenzucken ließ? Was hatte das Mädchen hier wohl schon alles erleiden müssen… 

Mit einem Drehschalter an der Lötstation schaltete er diese auf volle Leistung. Kurz nachdem er den Lötkolben in die Hand genommen hatte, gab es einen Schlag und alle Lichter erloschen.

»War das wieder dein oller Lötkolben?«, keifte die Hexe von unten. »Kauf’ dir lieber ’mal endlich einen neuen!« 

Fluchend stand er vom Schreibtisch auf und ging aus dem Zimmer, um die Sicherung wieder einzuschalten.

»Was ist hier los?«, rief Jonas von unten.

»Sicherung ’raus!«, antwortete ich. »Der steinalte Lötkolben hat wohl einen Wackelkontakt!« 

Schon nach kurzer Zeit leuchteten alle Lampen wieder, der Mann der Hexe setzte sich wieder an den Schreibtisch und nahm aus einer Schublade eine silbrig glänzende Klebebandrolle. Er schnitt ein Stück Klebeband ab und wickelte es um die Stelle, an der das Anschlusskabel des Lötkolbens aus der Lötstation kam.

»Duct Tape holds the world together«, meinte Viktoria plötzlich.

Daraufhin musste ich sie spontan küssen und ich liebte sie dafür, in dieser Situation dennoch ein wenig Humor zeigen zu können.

Zügig hatte er an das Platinenstück ein paar Elektronikbauteile und einen im Verhältnis dazu recht großen zylindrischen Gegenstand angelötet, ohne wieder einen Kurzschluss zu verursachen. Der zylindrische Gegenstand stellte sich als Buchse für das Kabel heraus, das zum Mischpult führte. In diese Buchse steckte er das mit »1« bezeichnete Kabel ein, schaltete das Mischpult ein und setzte den Kopfhörer auf. Er schob den Mischpultregler »1« auf etwa die Mittelposition hoch, beugte sich über die kleine Platine mit den angelöteten Elektronikteilen und sagte ein paar Worte.

Nach weiteren »Eins, Zwei, Test, Test« und Herumdrehen an verschiedenen Drehknöpfen des Mischpults schaltete er das Mischpult wieder aus und hängte den Kopfhörer über den Haken. Anschließend schaltete er Lötstation und Lupe aus und lehnte sich mit einem recht zufrieden klingenden Seufzen im Stuhl zurück.

Der erste Test war für ihn also erfolgreich verlaufen, was für ihn eine gute, für uns jedoch eine schlechte Nachricht darstellte.

Wir berichteten der Gruppe vom erfolgreichen Mikrofontest und dass es nun nicht mehr lange dauern konnte, bis alle vierundzwanzig Mikrofone in die Modellbahnanlage verbaut und betriebsbereit waren. Den Rest des Tages verbrachte er mit dem Zusammenlöten von sieben weiteren Mikrofonen nebst anderen Bauteilen, so dass immerhin schon fast ein Drittel der Gesamtmenge fertiggestellt worden war.

Den Abend verbrachte die Gruppe damit, immer weitere Begriffe für das genaue Gegenteil festzulegen. So hofften wir, einsatzbereit zu sein, wenn die Mikrofone eingebaut und scharfgeschaltet werden sollten.

Mir fiel sofort das Verhalten der anderen aus der Gruppe am nächsten Morgen auf. Alle verhielten sich sehr wortkarg und als ich nachfragen wollte, ertönte schon die Stimme des Mannes der Hexe.

»Alle vorne am Bahnhof aufstellen. Ihr wisst ja, was heute läuft!« 

Nein, wusste ich nicht, Viktoria hatte es mir ja noch nicht erzählt und die anderen auch nicht – warum auch immer. Er legte den Deckel einer kleinen Schachtel auf das Gleis direkt am Bahnsteig. Die ganze Gruppe hatte sich auf dem Bahnsteig aufgestellt und ich stellte mich dazu.

Der Mann der Hexe deutete auf Danielle und Frank und rief: »Ihr seid heute dran!« 

Ich war verwirrt. Mit was waren sie »dran«? Leise fragte ich Viktoria, was los war, aber sie forderte mich lediglich auf, still zu sein. Frank ging zwei Schritte vor und ballte seine Fäuste in die Höhe.

»Nein! Ich werde mich nicht mehr für dich Perversling zum Affen machen!«, brüllte er.

»Frank, lass’ es!«, »Hör’ auf!«, »Du weißt, was passiert!«, kam von den anderen.

Etwas Bedrohliches bahnte sich an, denn alle blieben regungslos stehen.

Der Mann brüllte, so dass es mir in den Ohren weh tat: »So, du willst mir also nicht gehorchen?« 

Frank blieb weiterhin mit geballten Fäusten stehen und der Mann schnappte ihn sich.

Er tat es mit so einem harten Griff, dass man deutlich Knochen brechen hörte. Gleichzeitig stieß Frank einen Schrei aus, der mich extrem frösteln ließ. Der Mann warf Frank auf den Schreibtisch, nahm die Fliegenklatsche und schlug ihn zu einem blutigen Brei zusammen.

Das also war der Grund gewesen, warum Viktoria so wortkarg antwortete, als ich nach dem »harmlosen Tag« gefragt hatte.

Hatte ich den Mann der Hexe bisher eher unter die Kategorie »zwar durchgeknallt, aber recht harmlos« einsortiert, so hatte er durch diese Aktion auf der Bösartigkeitsskala mit seiner Frau mindestens gleichgezogen.

Und als ob die reine Gefangenschaft nicht schon traumatisierend genug war, so konnte ich jetzt meine psychische Gesundheit für mindestens die nächsten fünf Jahre vergessen, denn die brechenden Knochen und den Schrei bekam ich so schnell nicht wieder aus meinen Kopf heraus.

Langsam vervollständigte sich dass Bild, um mir ausmalen zu können, was die Gruppe bisher schon alles hatte durchmachen müssen. Gerade rechtzeitig konnte ich Danielle auffangen, die zusammensackte.

»Gute Idee«, sagte der Böse Mann, wie ich ihn ab jetzt immer bezeichnete, zu mir. »Du kommst mit und deine Gefährtin auch!« 

Der Böse Mann hatte also Danielle, Viktoria und mich für etwas ausgewählt und zu dritt kletterten wir in die Schachtel. Der Böse Mann hob die Schachtel hoch und stelle sie auf dem Schreibtisch ab. Die beiden Frauen – Danielle hatte sich wieder gefangen – kletterten aus der Schachtel heraus und begaben sich schnurstracks zu ein paar Schaumstoffstücken, die unter der großen Lupe platziert worden waren. Ich folgte ihnen und wir stellten uns unter der Lupe auf. Der Böse Mann hatte zwei Blätter von einer Küchenpapierrolle abgerissen und setzte sich mit ihnen in der Hand vor die Lupe. Er schaltete die Beleuchtung der Lupe ein und Viktoria zuckte wieder zusammen, wobei mir nun auch klar wurde, warum.

»Es geht los!«, rief der Böse Mann. »Einen flotten Dreier hatte ich noch nie. Warum bin ich nicht schon früher darauf gekommen?« 

Als ich dann das Geräusch eines Reißverschlusses hörte und Viktoria und Danielle begannen, sich gegenseitig auszuziehen, wurde mir schlagartig klar, mit was ich es hier zu tun hatte. Nun hatte der Böse Mann auf der Bösartigkeitsskala seine Frau deutlich überholt. Es lief wohl ein Mal in der Woche etwas ab, das man wohl als »Warum Pornovideos im Internet schauen, wenn seine Däumlinge einem doch echten Sex live vorführen können?« beschreiben konnte.

Ich war fassungslos, wie eiskalt er war. Gerade erst hatte er einen Menschen totgeschlagen und jetzt wollte er sich wahrscheinlich selbst befriedigen.

Bisher hatte ich Danielle und Viktoria noch nie vollkommen unbekleidet gesehen. Spätestens jetzt hatte ich mich rettungslos in Viktoria verliebt, auch wenn der Anlass jetzt ein vollkommen unerwarteter und grausamer war. Danielle war optisch sowieso eine Klasse für sich, aber sie war eigentlich auch gar nicht mein Typ.

Viktoria stolzierte auf mich zu, während Danielle anfing, mir die Hose hinunterzuziehen.

»Nicht nach oben in die Lupe schauen«, flüsterte Viktoria mir ins Ohr, als sie mich umarmte.

Danielle legte sich auf das »Schaumstoffbett«, ich musste mich auf sie legen und Viktoria sich über uns stellen. Deutlich konnte ich vernehmen, wie die Atemgeräusche des Mannes immer lauter wurden.

Nun hatte ich also mit zwei Frauen gleichzeitig Sex, während ich seit dem abrupten Ende meiner Verlobung fünf Jahre lang überhaupt keine sexuellen Aktivitäten aufweisen konnte.

Als ich dann auch einmal auf der unteren Position zu liegen kam, konnte ich nachvollziehen, was Viktoria vorhin meinte, nicht nach oben zu schauen. Durch die Lupe konnte ich nämlich seine stark vergrößerten Augen sehen, was vollkommen surreal und unheimlich wirkte. Aber auch hier halluzinierte ich nicht, denn vollkommen real waren die rhythmischen Bewegungen seines rechten Armes. Gerade als Viktoria und Danielle beide sich auf mich gesetzt hatten und zumindest Viktoria recht laut stöhnte, schnaufte auch der Böse Mann immer lauter und auch die Frequenz seiner Armbewegungen steigerte sich.

Dann war alles vorbei und er nahm sich die Küchentücher, um sich abzuwischen.

»So, Ende!«, sagte er dann. »Ihr könnt euch wieder anziehen!« 

Rasch zogen wir uns an, kletterten in die Schachtel zurück und wurden von ihm wieder auf den Bahnhof verfrachtet.

Ich setzte mich erst einmal auf meine Bank auf dem Bahnsteig und die beiden Frauen setzten sich neben mich. Danielle, der mittlerweile große Tränen die Wangen hinunter liefen, gab mir ein Küsschen.

»Danke, dass du nicht so grob mit mir warst«, sagte sie. »Manchmal verlangt er aber auch, dass wir uns gegenseitig weh tun.« 

Wieder eine Einheit auf der Bösartigkeitsskala mehr… 

Viktoria meinte von der anderen Seite: »Es tut mir leid, dass ich dir nicht davon erzählen konnte, aber ich schäme mich so dafür!« 

Ich nahm beide in den Arm und sie drückten sich beide fest an mich.

Den unerwarteten Schwenk von ein bisschen Modelleisenbahnspielen hin zu eiskalter Tötung und ebenso eiskalter sexueller Nötigung musste ich erst einmal verdauen; die nächsten schlaflosen Nächte waren damit schon vorprogrammiert.

»Ist das jede Woche so?«, fragte ich.

»Jeden Mittwoch muss sie vormittags zum Arzt oder so und er hat dann ›sturmfreie Bude‹.« 

»Seit wann macht er das?« 

Danielle antwortete: »Zumindest seit ich hier bin, also schon lange.« 

»Jede Woche holt er sich ein anderes Paar«, ergänzte Viktoria.

Ich hakte nach: »Vicky, ist dein vorheriger ›Gefährte‹ auch so getötet worden?« 

»Nein, er hatte versucht, sich auf den Schreibtisch durchzuschlagen und wollte von dort aus die Verkleinerungsanlage manipulieren, um uns hier rauszuholen. Dabei ist er von der Hexe erwischt worden.« 

»Fliegenklatsche?« 

»Fliegenklatsche.« 

»Aber es muss schon andere vor ihm gegeben haben«, stellte Danielle fest. »In einem Haus war an die Wand eingeritzt ›LAUFE FORT, SO WEIT DU KANNST!‹. Ich hatte einen Zusammenbruch erlitten, als ich das gesehen hatte.« 

Ich sagte: »Mädchen, wir müssen hier ’raus!« 

Vollkommen übergeschnappt geworden ließ ich mich dann auch noch zu den ergänzenden Worten hinreißen: »Ich verspreche euch, dass ich euch hier heraushole – und alle anderen auch.« 

»Das sagst du so einfach!« 

Danielle drehte sich zu mir um und schaute mir tief in die Augen, Viktoria fing an zu schluchzen.

»Nicht gleich morgen, vielleicht nicht gleich nächste Woche«, fuhr ich fort und ich fragte mich, was ich hier eigentlich tat. »Vielleicht auch nicht in einem Monat, aber ich hole uns hier ’raus. Alina bekommt bald ihr Kind und ich möchte nicht, dass es unter diesen Umständen aufwächst.« 

Danielle lief eine Träne aus dem Augenwinkel und sie griff meine Hand.

»Versprochen?«, fragte sie.

»Versprochen!« 

Wir wurden unterbrochen, als der Böse Mann wieder im Zimmer erschien und begann, seine Lötaktion weiterzuführen.

Viktoria meinte: »Der alte Psycho tut so, als ob nichts gewesen wäre.« 

Das entsprach auch meiner Meinung. Er war ein Psychopath, wenn ich die Definition richtig im Kopf hatte.

Das Löten ging dieses Mal ohne Kurzschluss über die Bühne und außerdem ließ er uns für den Rest des Tages in Ruhe.

Vor dem Zubettgehen nahm Danielle Viktoria und mich zur Seite.

»Kann Viktoria heute bei mir schlafen, ich kann heute nicht alleine sein?« 

»Selbstverständlich. Alles, was du willst.« 

Ob ich die schlaflose Nacht nun mit oder ohne Viktoria verbringen musste, war mir zur Zeit ziemlich egal. Wichtig war dagegen, dass die beiden Frauen ein halbwegs ordentliches seelisches Gleichgewicht behielten.

In der Nacht dachte ich lange darüber nach, was Viktoria über ihren ehemaligen Gefährten und die Verkleinerungsanlage gesagt hatte. Die große Verkleinerungsanlage, und nur in diese passte ein Mensch hinein, war auf jeden Fall die einzige Möglichkeit, wieder normale Körpergröße zu erlangen, daher baute ich sie als festen Bestandteil meines Fluchtplans mit ein. Eine normale Körpergröße hieß aber auch, die Geräte anders herum, in der Gegenrichtung, umgepolt als »Vergrößerungsanlage« oder in ähnlicher Konfiguration verwenden zu müssen. Leider hatte ich die Geräte, das große und das kleine, bisher nur in einer Richtung, der Verkleinerungsrichtung erlebt.

Nachdem ich gefühlt lediglich zwanzig Minuten geschlafen hatte, war ich am nächsten Morgen total ausgelaugt und mich dürstete nach einer ordentlichen Dosis Koffein. Kaffee oder einen dieser grauenhaft süßen »Energydrinks« gab es hier aber nicht, sondern nur Leitungswasser, welches wir mit Blechtassen aus Eimern schöpfen mussten.

Auch Viktoria und Danielle sahen nicht gerade wie das blühende Leben aus, als wir uns im »Speiseraum« versammelten. Die Stimmung war gedrückt, es war der erste tote Gefangene seit der Tötung von Viktorias ehemaligen Gefährten gewesen. Mit Frank hatten wir außerdem jemanden verloren, der mir mit seiner fachlichen Expertise bei der Analyse der Umpolmöglichkeiten der Verkleinerungsanlage hätte helfen können. Zum Glück hatte ich aber noch Reinhold als Ingenieur zur Verfügung.

Zwei Dinge brachten mich aber an diesem Tag einen Schritt weiter. Zum einen bestand die Hexe darauf, dass wir über die kleine Verkleinerungsanlage Eimer und Kisten an sie zurückschicken sollten. Zum anderen hatte der Lötkolben wieder einmal eine Fehlfunktion.

Der Böse Mann zuckte leicht, als wieder einmal das Licht ausging. Viktoria, die wieder mit mir auf unserem Beobachtungsposten ausharrte, schaute mich mit einem unerwartet freudigen Gesichtsausdruck an.

»Hat er etwa einen Schlag bekommen?«, wollte sie wissen.

»Das sieht so aus.« 

»Hoffentlich verreckt er nächstes Mal daran.« 

Auch wenn ich ihm ebenfalls einen möglichst langsamen und qualvollen Tod wünschte, so hatten wir dann doch niemanden mehr, der uns die Verkleinerungsanlagen in Stand hielt. Und was die Folge davon sein konnte, wenn ein heftigerer Kurzschluss auch noch viele Elektronikteile, vor allem in den Verkleinerungsanlagen, durchschmoren ließ, wollte ich mir lieber gar nicht ausmalen. Viktoria musste mir zähneknirschend zustimmen.

»Dann soll er wenigstens keinen mehr hochbekommen«, meinte sie.

Auch wenn ich andere Worte gewählt hätte, so musste ich ihr doch teilweise recht geben. Teilweise deshalb, weil ich die Befürchtung hatte, dass es ihn dann womöglich noch bösartiger werden ließ. Auch hier musste sie mir zustimmen.

Sie drehte sich zu mir und sah plötzlich viel ernster aus.

»Zu gestern muss ich dir noch etwas sagen«, begann sie.

Ich fasste sie an den Händen. Ja, wir hatten zwangsweise Sex miteinander gehabt; viel zu früh hatten wir in unser gerade sich erst langsam entwickelnden Beziehung schon Sex miteinander gehabt.

Sie fuhr fort: »Es war gestern nicht alles gespielt. Ich hatte tatsächlich einen Orgasmus, einen echten.« 

»Mein liebes Mädchen, dafür musst du dich doch nicht entschuldigen.« 

Machte ich sie wirklich so an, wie es so platt hieß? Sie schaute mir noch tiefer in die Augen, als sie es ohnehin schon tat.

»Das kann nur eines bedeuten«, fuhr sie fort, »ich liebe dich!« 

»Ich weiß.« 

Sie zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.

»Komm’ du mir hier jetzt nicht mit Filmzitaten!«, meinte sie.

»Harrison Ford hat den Satz in Das Imperium schlägt zurück improvisiert; das stand so nicht im Drehbuch.« 

»Ich weiß«, kam jetzt von ihr.

»Aber, liebe Vicky, du stehst voll in meinem Drehbuch!« 

Ich zog sie zu mir heran und wir küssten uns ausgiebig.

Sie löste sich abrupt von mir und zuckte zusammen, als eine Stubenfliege mit lautem Summen knapp über unsere Köpfe hinweg flog. Ich nahm Viktoria an die Hand und bat sie, mit mir auf die höchste Stelle des Hügels zu kommen. Mir war nämlich vorhin ein stetig anwachsendes Summgeräusch aufgefallen, war dann aber durch diverse Liebesschwüre etwas abgelenkt gewesen.

Ein paar Fliegen kreisten entweder in der Luft über dem Papierkorb oder liefen auf dem Rand desselben herum. Darunter befanden sich auch zwei Exemplare dieser grün schillernden Variante, die ich ausgesprochen eklig fand.

»Müll…?«, fragte Viktoria.

Im Papierkorb befanden sich bestimmt noch die Küchentücher von der »Mittwoch-Morgen-Aktion« und auch Franks Überreste, die jetzt viele Fliegen anlockten. Viktoria standen wieder Tränen in den Augen.

Sie schluchzte: »Er hat ihn einfach so in den Müll geworfen.« 

Gerade als ich ihr etwas zur Aufmunterung sagen wollte, konnte ich eine erneute Fliegenattacke auf uns nur mit Mühe abwehren.

Jeder der Gruppe hatte durch mangelnde Körperhygiene und dass man nicht wirklich die Kleidung wechseln konnte einen mehr oder weniger intensiven Körpergeruch, was ebenfalls Fliegen anlockte. Auch das Latrinenhäuschen verströmte einen gewissen Geruch.

Schnell stolperten wir den Hügel herunter und liefen ins Dorf. Wie erwartet, saß bereits eine Fliege auf dem Dach des Latrinenhäuschens.

Jonas war aus seinem Haus gekommen.

»Fliegenattacke!«, brüllte ich und zeigte auf das Latrinenhäuschen.

»Oh, ich kann mir schon vorstellen, was sie angelockt hat!« 

Nun ging auch das Licht wieder an und kurz darauf betraten die Hexe und der Böse Mann den Raum.

»Du fasst mir den blöden Lötkolben erst ’mal nicht mehr an!«, befahl sie.

Sie zeigte auf den Papierkorb.

»Und bring’ das ’raus, das lockt ja schon die Fliegen an!« 

Er nahm den Papierkorb in die Hand und sie gingen beide wieder aus dem Raum heraus.

Ich konnte gerade noch verstehen, wie sie ihm eine Frage stellte.

»Was müssen wir neu besorgen: Mann oder Frau?« 

Was müssen wir neu besorgen… Diese Frage ließ mich erst einmal schockiert innehalten. Sie hatte wieder auf der Bösartigkeitsskala mit ihm gleichgezogen. »Gleich und gleich gesellt sich gerne«, wie es so schön hieß – und hier hatten wir nicht nur einen, sondern zwei Psychopathen, die uns das Leben zur Hölle machten. Und draußen lief ein ahnungsloses Opfer herum, das sehr bald uns Gesellschaft leisten konnte.

Erst als ich jemanden mit einen Zahnstocher-Speer umher laufen sah, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Reinhold warf mir einen Speer zu, den ich auffing. Die Fliegen schienen ihren Angriff auf uns zu verstärken, und Jonas schickte alle in die Häuschen zurück. Recht unerwartet gesellte sich Viktoria zu unser kleinen Kampfeinheit, bestehend aus Reinhold, Jonas und mir.

Sie hob einen Speer hoch und rief: »Gemeinsam oder gar nicht!« 

»Gemeinsam oder gar nicht«, bestätigte ich. »Aber pass’ bitte auf dich auf!« 

Eine besonders dreiste Fliege flog nur knapp über dem Boden dicht an uns vorbei und Reinhold erzielte mit seinem Speer einen zufälligen Wirkungstreffer. Die Fliege stürzte ab, prallte auf den Boden auf und verschwand über die Anlagenkante in die Tiefe.

Eine andere noch frechere Fliege mussten wir zu viert bekämpfen, bevor wir sie niederringen konnten. Viktoria stach mehrmals mit wutverzerrtem Gesicht auf sie ein, und man sah ihr an, dass sich ihr ganzer aufgestauter Unmut dabei entlud. Gemeinsam schoben wir die leblose Fliege über die Anlagenkante und Viktorias Gesichtsausdruck hatte dabei etwas Triumphierendes an sich. Noch eine Fliege mussten wir vertreiben, indem wir sie mit Steinchen bewarfen, die wir vom Boden aufgelesen hatten.

Dann hatten sich die Fliegen verzogen, wohl auch weil der Mülleimer nicht mehr da war.

Viktoria streckte eine Faust in die Höhe und rief: »Däumlinge gegen Fliegen: Drei zu Null!« 

Es war also erst einmal überstanden und auch der Böse Mann oder die Hexe belästigten an diesem Tag nicht mehr.

Viktoria hatte sich wieder bei Danielle einquartiert und so verbrachte ich auch diese Nacht alleine. Ich fügte meiner stetig anwachsenden Liste Dinge, die Schlaflosigkeit begünstigten die Frage »Was müssen wir neu besorgen?« als neuer Platz Eins und die Fliegenattacke als neuer Platz Zwei hinzu.

Letzteres kam mir im Nachhinein vor wie Szenen aus einem billig produzierten Siebziger-Jahre-Horrorfilm, »Angriff der Killer-Fliegen« oder so ähnlich, ein »B-Movie« mit schlechten Schauspielern, ganz schlechten Dialogen und noch schlechteren Spezialeffekten. Nur hatte ich vorhin deutlich realitätsnähere Spezialeffekte erleben dürfen. Vielleicht sollte ich mir einfach einreden, heute so einen Horrorfilm spätnachts im Fernsehen angeschaut zu haben.

Der andere Punkt bereitete mir noch größeres Unbehagen. Der Böse Mann und die Hexe gingen also bald wieder auf die »Jagd«, um einen Menschen zu fangen und hierher zu verschleppen. Wir mussten uns daher schnellstens befreien und beide unschädlich machen, um unsere und auch andere Leben retten zu können. Sonst blieb es ein fast endloser Zyklus, der erst dann aufhörte, wenn beide zu alt oder zu schwach geworden waren. Das Alter von beiden schätzte ich auf etwa Anfang bis Mitte Vierzig, so dass das ganze Treiben noch etwa dreißig Jahre andauern konnte. Das war zu lange, viel zu lange.

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