Kapitel 1
Verkleinert

Instinktiv bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Zur Bestätigung wurde mir kurz darauf schwarz vor Augen, und ich konnte gerade noch spüren, wie ich zusammensackte.

Nachdem ich wieder halbwegs zu mir gekommen war, stellte ich fest, dass ich in einem schwarzen Kasten saß und mich mehrere Leute anstarrten. Mehrere Hände halfen mir auf und hielten mich fest, weil mir die Beine gleich wieder nachgaben.

»›Herzlich willkommen‹ passt hier nicht wirklich«, hörte ich eine männliche Stimme, »aber das erklären wir später.« 

Nach und nach begann ich, die Umgebung wieder klarer wahrnehmen zu können. Alles sah irgendwie künstlich und plastikhaft aus und passte so gar nicht zu den Menschen, die sich jetzt um mich versammelt hatten. Eigentlich erinnerte mich das Ganze…, nein, der Gedanke war zu abwegig. Eigentlich erinnerte mich alles an das Innere eines Modellbahnhäuschens. Ich wollte diesen Gedanken gleich wieder verwerfen, aber nachdem ich wieder normal auf den Beinen stehen konnte, begleitete mich der Trupp nach draußen und ich konnte mich umsehen.

Das durfte jetzt aber wirklich nicht wahr sein. Fast musste ich mich wieder setzen.

Ich befand mich nämlich tatsächlich auf einer Modelleisenbahnanlage. Aber wie war ich hier hin gekommen?

Die Antwort lieferte ein Riese, der sich über uns gebeugt hatte.

Er stellte mit dröhnender Stimme fest: »Der Neue ist wohl gut angekommen! Viktoria, das ist dein neuer Gefährte!« 

Die angesprochene Frau kam zu mir und nahm mich an die Hand.

Sie sagte: »Ich bin Vicky, eigentlich Viktoria. Komm’ mit, ich zeige dir dein neues Zuhause.« 

»Philipp, ich bevorzuge aber Phil«, stellte ich mich vor.

Der Riese dröhnte: »Ich brauche euch heute nicht mehr! Ihr wisst ja, wie ihr euch zu verhalten habt. Erzählt das Philipp, dem Neuen, damit ich ihn nicht gleich bestrafen muss!« 

Er hob eine von hier aus gesehen riesige Fliegenklatsche hoch, so dass Viktoria zusammen zuckte und sich fest an mich klammerte. Und der Riese kannte auch noch meinen Namen… Auf dem Weg zu unserem »neuen Zuhause« überquerten wir einen Schienenstrang, was nun wiederum mich leicht zusammen zucken ließ. Ich war der festen Ansicht, wenn ich mich hier als Modellbahnfan zu erkennen gab, hätten mich alle gleich von der Anlage gestoßen. Aber ich erkannte das charakteristische Gleismaterial mit den Messingschienen sofort wieder und konnte es auch einem Maßstab zuordnen. Es war unzweifelhaft Spurgröße Zwei/Meterspur, auch »G« genannt, Maßstab Eins zu Zweiundzwanzig Komma Fünf, ein weit verbreiteter Maßstab für Gartenbahnen. Die Anlage war aber nicht in einem Garten, sondern erstem Anschein nach in einem großen Zimmer eines Wohnhauses aufgebaut.

Eine kurze Überschlagsrechnung ergab, dass ich jetzt nur noch etwa acht Zentimeter groß sein musste. Der Blick in die Zimmerumgebung schien es auch zu bestätigen.

Ich schaute der jungen Frau namens Viktoria in die Augen. Sie machte allgemein einen überaus traurigen Eindruck.

»Phil, es ist genau so, wie du zu erkennen glaubst!«, unterbrach sie meine Gedanken, »Ich erkläre dir alles später – wir haben hier im Prinzip viel, viel Zeit.« 

Sowohl Viktoria als auch die anderen Personen sahen alle leicht verwahrlost aus, und als Viktoria sich immer fester an mich klammerte, bekam ich mit, dass ihre Kleidung einen leicht muffigen Geruch verströmte. Langsam setzten sich die Puzzleteile in meinem Kopf zusammen. So würde ich es mir vorstellen, wenn jemand länger in Gefangenschaft… Die Überlegung wurde jäh durch Viktorias Frage unterbrochen.

»Welches Datum haben wir heute?« 

Ich konnte ihr nur einen ungefähren Anhaltspunkt geben, da ich nicht wusste, wie lange ich betäubt oder bewusstlos gewesen war. Als ich ihr das Datum nannte, welches ich zuletzt in Erinnerung hatte, fiel sie mir leise schluchzend um den Hals.

»Wie lange bist du schon hier?«, wollte ich von ihr wissen.

Sie schluchzte mir irgendetwas ins Hemd, was ich aber akustisch nicht verstehen konnte.

»Wie lange?« 

Sie löste sich etwas von mir und meinte: »Wir versuchen hier, halbwegs mitzuzählen – wie die Strichliste auf der Wand einer Gefängniszelle, weißt du –, aber…« 

Ich ließ nicht locker und fragte wieder: »Wie lange?« 

»U–ungefähr k–knapp sieben Monate!«, stotterte sie leise.

Also waren meine Vermutungen doch korrekt, denn die Anzeichen von sieben Monaten Gefangenschaft waren nicht zu übersehen.

Ich bohrte nach: »Und die anderen?« 

»Ich bin hier am Kürzesten dabei.« 

»Vicky! Die anderen: Wie lange?« 

»Am Längsten? Zwei Jahre.« 

Zwei Jahre!

Ich bekam ein immer merkwürdigeres Gefühl in der Magengegend. Mindestens zwei Jahre lang hatte offenbar niemand etwas bemerkt. Es gab zwar wahrscheinlich ein paar Vermisstenanzeigen, aber wie sollte uns hier jemand finden, wenn wir alle nur acht Zentimeter groß und auf dieser Modelleisenbahnanlage und in diesem Haus gefangen gehalten wurden. Fluchtversuche waren eigentlich aussichtslos, denn wer sollte uns je wieder »groß« machen können, wenn uns jemals die Flucht von der Anlage und aus dem Haus gelingen sollte.

An einem modellbahntypischen Fachwerkhäuschen angekommen, führte Viktoria mich hinein.

»Hier ist dein – unser – Quartier!«, meinte sie.

Ich schaute mich im Haus um, es besaß nur einen einzigen Raum. Ein kleines Holzgestell und ein Schaumstoffstück stellte eine Art »Bett« dar, das mit etwas bezogen war, was ich anhand der Prägung als ein Papiertaschentuch identifizierte. In einer Ecke gab es eine kleine Schüssel und einen Eimer Wasser als Waschgelegenheit. Aus weiteren Holzteilen waren ein kleiner Tisch und zwei Stühle gebastelt worden. Es sah alles genauso aus, wie ich mir eine Gefangenschaft, beispielsweise bei »Rebellen« oder Ähnlichem, vorstellen würde. Ich musste Viktoria gar nicht darum bitten, mich zu kneifen, denn ich halluzinierte nicht und alles war echt – und ich war mittendrin, live und in Farbe.

Ihre Aussage »ich bin jetzt deine ›Gefährtin‹, also machen wir das Beste daraus« traf mich dann vollkommen auf dem falschen Fuß, denn ich empfand mich persönlich eher als größtenteils beziehungsunfähig. Der letzte Versuch in dieser Richtung war nämlich kläglich gescheitert und endete in einer abgebrochenen Verlobung, vielen Tränen und mindestens zwei sehr aufgebrachten Familien. Meine Schwester sprach danach erst einmal ein halbes Jahr kein Wort mehr mit mir.

Wenn ich mir aber die Spuren der Gefangenschaft wegdachte, war ich jetzt zwangsweise mit einer recht attraktiven jüngeren Frau verkuppelt worden; insofern war es ein kleiner Lichtblick in dieser Situation.

Wahrscheinlich musste ich mich hier sowieso sehr zusammenreißen und eine ordentliche Beziehung führen, da ich sonst mit der Fliegenklatsche Bekanntschaft machen würde. Also versuchte ich, gleich damit anzufangen.

»Bitte an Bord kommen zu dürfen, Ma’am«, sagte ich daher zu Viktoria.

Sie zauberte den Hauch eines Lächelns auf ihr Gesicht, was sie zum einen weniger traurig und zu anderen ein paar Nuancen attraktiver erschienen ließ.

Sie spielte sofort mit, salutierte und antwortete: »Erlaubnis erteilt, Sir.« 

Wir umarmten uns lange und ich hatte den Eindruck, dass sie die Berührung sichtlich genoss.

Unabsichtlich meiner Frage zuvorkommend beschrieb sie, dass sie jetzt seit mehreren Wochen keinen »Gefährten« mehr besaß. Obwohl die Gefangenengruppe eng zusammen hielt, hatte Viktoria sich doch mehr und mehr einsam gefühlt.

»Ich habe jetzt auch endlich wieder jemanden, der mich beschützt«, stellte sie mit einem erleichterten Unterton fest.

Ich dachte an den Riesen und fragte: »Vor ihm?« 

»Nein, er ist noch nicht das Schlimmste – außer ein Mal in der Woche.« 

Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was es Schlimmeres geben konnte als einen Mann, der einen offensichtlich geschrumpft hatte und bei dem ich nun wie ein Haustier in Gefangenschaft lebte.

»Es ist seine Frau«, fuhr sie fort, »wir nennen sie nur die Hexe. Die ganze Verkleinerungs- und Verschleppungsgeschichte ist, wenn wir das korrekt mitbekommen haben, ausschließlich auf ihren Mist gewachsen.« 

Wieder wurde ich von einem sehr merkwürdigen Gefühl im Magen heimgesucht – und das lag nicht wirklich daran, dass ich immer noch eine recht attraktive junge Frau umarmt hielt. Jetzt durfte ich mich erst recht nicht als Modelleisenbahnfan zu erkennen geben, dann die Ursache glaubte ich in dem an sich uralten Konflikt zwischen Mann und Frau wegen des Aufbaus einer Modelleisenbahnanlage gefunden zu haben. Er wollte eine große Anlage haben – und ich schätzte die Größe auf fast zwanzig Quadratmeter, da sie fast das ganze Zimmer einnahm, eine kleine Werkbank an der gegenüberliegenden Wand ausgenommen. Sie dagegen hatte dem offenbar nur unter der Voraussetzung zugestimmt, dass sie dann dort auch mit ihren Puppen, in diesem Fall echten verkleinerten Menschen, spielen konnte.

Viktoria bestätigte dies indirekt, indem sie mir unter Tränen beschrieb, wie die Hexe meinen »Vorgänger-Gefährten« mit der Fliegenklatsche erschlagen hatte.

Mittlerweile hatte ich mich auf einen der Stühle gesetzt, sie hatte auf meinem Schoß Platz genommen und ihre Arme um meinen Hals geschlungen. Ich gab ihr einen kleinen Kuss auf die Stirn – was machte ich hier eigentlich? Unwillkürlich kam mir meine Verlobung wieder in den Sinn.

In einem weiteren Anfall geistiger Umnachtung sagte ich dann zu ihr: »Ich werde es nicht wieder soweit kommen lassen, und dich außerdem immer beschützen!« 

Sie drückte sich fester an mich.

»Das ist aber noch nicht alles«, sagte sie und deutete auf einen Stapel Holzspeere, der in einer Ecke des Zimmers lag.

Die Speere konnte ich als handelsübliche Zahnstocher ausmachen; bei meiner jetzigen Körpergröße waren es eben Speere.

»Die sind gegen Spinnen, Stubenfliegen und andere grausliche Insekten«, erläuterte sie.

Daran hatte ich natürlich noch gar nicht gedacht. Eine etwa zwei Zentimeter große Fliege hatte ja jetzt zu mir in etwa das Größenverhältnis eines mittelgroßen Hundes. Vor etwa einem Jahr war wohl unter den Gefangenen auch ein Todesopfer durch eine Wespe zu beklagen gewesen. Daher hatte der Mann der Hexe jedem ein paar Zahnstocherspeere zur Verteidigung in die Häuschen gelegt.

»Beim Alarmruf Spinne! oder Fliege! musst du sofort alles stehen und liegen lassen, dir Speere holen und mithelfen, uns zu verteidigen.« 

Mir drängte sich die Analogie auf, dass es sich ungefähr so anfühlen musste, wenn »Rebellen« einen tief in den Urwald verschleppten und man sich dann gegen wilde Tiere wehren musste. Nur befand ich mich hier nicht in einem Urwald, sondern offenbar mitten in einer deutschen Stadt.

»Was passiert ein Mal pro Woche?«, wollte ich dann endlich von ihr wissen.

»Das erkläre ich dir, wenn es soweit ist.« 

Ich empfand es zwar als recht süß von ihr, dass sie mich nicht noch mehr beunruhigen wollte, aber trotzdem hätte ich es gerne rechtzeitig gewusst.

Sie löste sich von mir und stand auf. Schon merkte ich, dass sie unbedingt vom Thema »ein Mal pro Woche« ablenken wollte.

»Komm’ mit, ich muss dir noch etwas Wichtiges zeigen, bevor es ganz dunkel wird«, forderte sie mich auf.

Glücklicherweise fiel etwas Tageslicht durch ein kleines Fenster in den Raum, denn der Mann der Hexe hatte uns für den Rest des Tages »frei gegeben« und die elektrische Beleuchtung der Modellbahnanlage daraufhin ausgeschaltet. Viktoria nahm mich an die Hand – Berührungen schienen etwas sehr Wichtiges für sie zu sein, daran musste ich mich erst gewöhnen – und wir gingen einmal quer über die Anlage zu einer kleinen Bude am Rand der Anlagenplatte.

Die kleine Bude stellte Viktoria mir als Latrinengebäude vor. Im Inneren gab es ein kleines Holzgestell mit einem Loch in der Mitte, welches die »Toilette« darstellte. Daneben stapelten sich sogar ein paar Rollen Toilettenpapier und auf der anderen Seite gab es wieder einen Eimer und eine Schüssel zum Händewaschen.

»Bitte bleibe hier, ich kann nicht alleine sein – auch hier nicht!«, flehte sie mich an, als sie ihre Hose herunter zog und sich auf die Toilette setzte, ich aber den Raum verlassen wollte.

Mir war die ganze Situation recht unangenehm, was ein wenig dadurch ausgeglichen werden konnte, indem ich einen flüchtigen Blick auf ihren unbekleideten Unterleib werfen konnte.

Wieder angezogen, bedankte sie sich, nahm mich erneut an die Hand und wir kehrten zu unser Behausung zurück.

Es dämmerte immer mehr und der Raum wurde schließlich nur noch durch ein in einer Steckdose steckendes Kindernachtlicht schwach erhellt.

Viktoria zog sich bis auf die Unterwäsche aus, legte sich ins Bett und ich tat es ihr nach.

Natürlich war meinerseits nicht an Schlaf zu denken; meine Gedanken kreisten darum, wie ich hier hergekommen war und ob und wie ich hier wieder herauskommen konnte. Bald gab Viktoria, die sich wieder eng an mich gekuschelt hatte – so breit war das Bett nun auch wieder nicht –, regelmäßige Atemgeräusche von sich.

Ich war also auf einer Modellbahnanlage gefangen, ausgerechnet auf einer Modellbahnanlage! Alleine dieser Gedanke beschäftigte mich einige Zeit. Wie aber war ich auf irgendeine Art und Weise verkleinert worden, ohne dass mir irgendwelche Körperfunktionen oder Körperteile fehlten? Da es richtige Zauberer oder Kreaturen mit übernatürlichen Kräften wohl nicht gab, musste dies unter Einhaltung der geltenden Naturgesetze geschehen sein. Sollte etwa tatsächlich eine Art Genie eine Art Maschine erfunden haben, die genau dies bewerkstelligte? Schon jetzt war mir bewusst, dieser Person auf keinen Fall auch nur einen Nanometer weit zu trauen, da die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn ja fließend war. Sollte auch die Vergrößerung unfallfrei und reproduzierbar funktionieren, waren die kommerziellen Möglichkeiten dieser Technik doch vielfältig. Man konnte beispielsweise sonst unzugängliche Bereiche von Industrieanlagen inspizieren und warten oder kleinste Geräte mit großer Präzision zusammenbauen. Warum aber hat er dann alles lediglich zu seinem eigenen Vergnügen eingesetzt, ohne diese Technik zu vermarkten?

Irgendwann in der Nacht musste ich dann doch eingeschlafen sein, denn ich wurde erst wieder wach, als eine sehr laute und vor allem sehr unangenehm klingende Frauenstimme durch den Raum schallte.

»Aufstehen, es gibt Essen! Ihr wisst ja, was ihr heute zu tun habt!« 

Ich musste gar nicht bei Viktoria nachfragen, denn das konnte nur sie gewesen sein, die Hexe!

Viktoria richtete sich auf, gähnte und streckte sich, was einen Blick auf ihren kleinen Bauchnabel freigab.

»’Morgen«, sagte ich zu ihr, denn einen guten Morgen stellte ich mir doch ein wenig anders vor – von einer knapp bekleideten jungen Frau neben mir im Bett einmal abgesehen.

Sie gab mir einen kleinen Kuss auf die Stirn und fragte: »Gut geschlafen?« 

»Nein, ganz und gar nicht!« 

»Das ging mir die ersten Nächte auch so.« 

»Was ist mit dem Essen und was müssen wir heute tun?« 

»Zieh’ dich an und komm’ mit, ich erkläre dir dann alles.« 

Wie sich herausstellte, wurden wir ein Mal am Tag mit frischem Wasser und rudimentären Lebensmitteln versorgt. Hierzu hatte der Mann der Hexe eine kleinere Ausgabe der von den Gefangenen »Verkleinerungsanlage« getauften Maschine konstruiert, ähnlich der großen Variante, durch die ich hier auf die Anlage gekommen war.

Gemeinsam holten wir mehrere Eimer Wasser und zwei Kisten mit Lebensmitteln aus der Ausgabeeinheit der Maschine. Im Gebäude mit der »kleinen Verkleinerungsanlage« befand sich außerdem ein großer Tisch mit Stühlen, an dem wir jetzt alle Platz nahmen. Den Raum hatte jemand großspurig »Speiseraum« benannt.

Das Essen kam in acht einzelnen Portionen für die acht am Tisch anwesenden Gefangenen, wobei aber sofort einige Umverteilungen vorgenommen wurden. Das jüngste Mädchen der Gruppe bekam mehrere Extraeinheiten, und dann wurde mir auch bewusst, warum. Sie war an sich sehr schlank – zu schlank für meinen persönlichen Geschmack –, aber es war eindeutig ein ausgeprägter Babybauch zu erkennen. Wenn Viktoria schon etwa sieben Monate hier verbracht hatte, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Mädchen hier in Gefangenschaft schwanger geworden war.

Leise flüsterte mir Viktoria ins Ohr, da sie wohl mitbekommen hatte, dass ich mir diese Prozedur genauestens angesehen hatte: »Sie ist schwanger und wir geben ihr immer etwas von uns ab.« 

Auch eine andere und ebenfalls recht schlanke Frau bekam ein wenig mehr. Da ich sowieso abnehmen wollte, mein Bauch war noch etwas größer als der des Mädchens, schloss ich mich dem an und schob Viktoria etwas herüber.

Beim Essen stellten sich dann alle nacheinander vor.

Neben Viktoria saß das schwangere Mädchen Alina, Studentin und die jüngste in der Gruppe. Es folgte Jonas, ihr »Gefährte« und eigentlich Anwalt für Wirtschaftsrecht. Daneben saß Frank, Elektriker in der Haustechnik eines Großunternehmens. Auf dem nächsten Platz war Danielle zu finden, Franks »Gefährtin«, Übersetzerin für Französisch, mit einem herzallerliebsten französischen Akzent sprechend und eine wirkliche dunkeläugige Schönheit darstellend.

Mir schien es fast so, als ob zumindest die weiblichen Gefangenen nach Aussehen ausgewählt worden waren.

Der älteste der Gruppe, sowohl nach Alter als auch nach Länge der Gefangenschaft, hieß Reinhold und stellte sich als pensionierter Ingenieur vor. Zum Schluss war da noch Sofija, Reinholds »Gefährtin«, deutlich jünger als er und Krankenschwester von Beruf.

Nun festigte sich meine Ansicht, dass es womöglich kein Zufall gewesen sein konnte, diese Personen genau in dieser Kombination zu verschleppen, mich als IT-Spezialisten eingeschlossen.

Nach dem Essen trugen die Männer die Wassereimer und die Frauen das restliche Essen in die Häuschen. Bevor ich auch nur irgendein Gespräch beginnen konnte, ertönte wieder diese überaus grässliche Stimme, die wahrscheinlich von ganz alleine Metallteile von Farbresten befreien konnte.

»So, heute ist Putztag! Ihr wisst also, was ihr zu tun habt! Ich kontrolliere das heute Nachmittag!« 

Sie beugte sich über die Anlage und ihr Erscheinungsbild deckte sich größtenteils mit dem, wie ich sie mir vorgestellt hatte – nur war sie deutlich größer als gedacht. Von meiner nicht-einmal-Froschperspektive aus war es nur schwer zu schätzen, aber wenn ich die Zimmerhöhe und die Höhe des Türrahmens in Bezug setzte, kam ich etwa auf meine Größe, also auf einen Meter achtzig. So eine große Frau besaß wahrscheinlich auch eine entsprechende Kraft, und so ließ es sich wohl erklären, von wem jemand wie ich verschleppt werden konnte. Außerdem empfand ich sie als ausgesprochen hässlich, was vielleicht auch an der Perspektive liegen konnte. War aber das der Grund, warum sie sich nur mit »hübschen Puppen« umgab?

Nun sollte man natürlich nicht jemanden unbedingt ausschließlich nach dem Äußeren beurteilen, hier jedoch ergaben Aussehen, Körperfülle, Stimme und das allgemeine Verhalten ein nahezu stimmiges Gesamtbild. Es war kein Wunder, dass die anderen sie die Hexe getauft hatten.

Am »Putztag« hatten wir die Aufgabe, die Modellbahn von Staub zu befreien. Eine Modellbahnanlage staubte recht schnell voll, das war mir als Bahnfan bewusst. Nur waren es hier kein weicher Pinsel oder ein kleiner Handstaubsauger, sondern die »Bewohner« der Anlage selbst, die diese staubfrei machen mussten. Mit der schwierigsten Arbeit wurde zuerst begonnen, nämlich alle Hausdächer vom Staub zu befreien. An die »Schornsteine« waren kleine Seile geknotet, an denen man sich festbinden musste, um nicht abzustürzen. Als der kräftigste Neuzugang hatte ich mich bereit erklärt, die ersten Hausdächer zu bearbeiten. Viktoria gab mir ein Stück eines ausgedienten Hemds, um es mir dann als Staubschutz über Mund und Nase binden zu können.

»Pass’ auf dich auf«, sagte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange.

Die Arbeit war nicht ganz ungefährlich, wir hatten ja nur primitivste Sicherheitsvorkehrungen zur Verfügung. Da die Hexe wie üblich Strafen angedroht hatte, kamen wir zügig voran, auch wenn Reinhold als ältester Gefangener und Alina als Schwangere nur mit leichten Tätigkeiten betraut worden waren.

Nur noch das Dach eines Güterwaggons war noch von mir vom Staub zu befreien und wir konnten unsere Arbeiten dann am späten Nachmittag abschließen.

Vor allem meine Putzaktionen hielten der strengen Kontrolle der Hexe stand, die in alter Feldwebelmanier mit dem Finger über ausgewählte Stellen strich und diesen dann kritisch beäugte.

Wegen der ungewohnten körperlichen Anstrengung fiel ich am Abend todmüde ins Bett, nicht ohne mir vorher von Viktoria eine Beichte anhören zu müssen, dass sie mir beim Thema »Putztag« etwas verschwiegen hatte. Es war nämlich an einem Putztag gewesen, dass jemand auf einem Dach von einer Wespe attackiert worden war, hinunter fiel – damals hatten sie sich noch nicht mit Seilen abgesichert – und daraufhin verstarb. Ich drückte Viktoria ganz fest an mich und gab ihr zu verstehen, ihr daraus keine Vorwürfe konstruieren zu wollen. Es gab sozusagen eine »Lose-Lose-Situation«, also das genaue Gegenteil einer Win-Win-Situation, das hieß man konnte nur verlieren und es gab die Wahl zwischen dem Tod durch eine Wespe und dem Tod durch die Hexe. Der ganze Aufenthalt hier war generell gefährlich, sehr gefährlich sogar, da kam es darauf auch nicht mehr an.

An diesem Abend hatte ich kein Problem mit dem Einschlafen, eine weitere schlaflose Nacht wäre dann auch recht schnell an die Substanz gegangen.

Weit vor dem Weckruf der Hexe wachte ich am Morgen auf und betrachtete lange die neben mir noch friedlich schlafende Viktoria. Nicht mit einem ängstlichen Blick in den Augen und ohne einen angespannten Gesichtsausdruck sah sie noch attraktiver aus. Ich alter Beziehungskünstler hatte mich also erfolgreich erneut verliebt – und die Frau schien mir auch noch sehr positiv zugetan zu sein. Hoffentlich hielt diese Beziehung etwas länger, aber der überstrapazierte Spruch »bis dass der Tod euch scheidet« bekam in Viktorias und meiner Situation eine vollkommen reale Bedeutung.

»Guten Morgen«, hauchte ich ihr zu, als sie ihre Augen geöffnet hatte.

Dieses Mal war es tatsächlich ein besserer Morgen als gestern gewesen, denn ich hatte zum einen besser geschlafen und zum anderen war ich neben einer schönen Frau aufgewacht. Dieser Zustand hielt genau so lange an, bis wieder der Weckruf der Hexe über die Anlage schallte.

Für diesen Tag war das »Besiedeln« der Modellbahn vorgesehen. Wir mussten die gesamte Anlage »lebendig« machen, indem wir mit den Zügen fuhren, auf den Wegen spazieren gingen undsoweiter. Alles geschah unter der strengen Bewachung der Hexe und ihres Mannes, der am Schaltpult vor der Anlage Platz genommen hatte. Viktoria nutzte die Gelegenheit, um mit mir auf einen kleinen Hügel an der Anlagenseite zu klettern, von der man eine gute Übersicht über die gesamte Anlage und den größten Teil des Zimmers bekam. Sofort fielen mir die Überwachungskameras in zwei Zimmerecken auf.

»Damit kann uns die Hexe immer beobachten«, erläuterte Viktoria, nachdem ich vorsichtig auf eine der Kameras gedeutet hatte.

An der gegenüberliegenden Seite des Zimmers befand sich ein alter und sehr massiv aussehender Schreibtisch, der zu einer kleinen Werkbank umfunktioniert worden war. Neben einer normalen Schreibtischleuchte war an der Tischkante eine dieser großen beleuchteten Lupen angeschraubt, die der Mann der Hexe wohl für seine Elektronikbastelarbeiten benötigte. Auf dem Tisch selbst lag eine teilzerlegte Modellbahndiesellokomotive, die offenbar mit neuen Elektronikteilen bestückt werden sollte. So wie es aus der Ferne aussah, bekam die Lok offenbar einen Digitaldecoder eingebaut und die Beleuchtung sollte von Glühlämpchen auf LED umgestellt werden.

Mir wurde plötzlich wieder ganz flau im Magen. Ich durfte Viktoria auf keinen Fall erzählen, wie gut ich mich mit Modellbahnen auskannte. Nachher dachte sie – und womöglich der Rest der Gruppe –, dass ich von der Hexe undercover eingeschleust wurde, um sie auszuhorchen und/oder sie zu kontrollieren. Ich beschloss, höllisch aufzupassen und mich nicht zu verplappern.

Neben den eindeutig identifizierbaren Elektronikteilen befand sich eine recht professionell aussehende, wenn auch recht betagte, Lötstation und daneben lagerten viele Kunststofftütchen mit weiteren Elektronikteilen. Am Rand des Tisches waren Schaumstoffstücke aufgestapelt, die wahrscheinlich den Loks und auch Waggons beim Basteln oder Löten eine weiche Unterlage geben sollten.

Vor der Lötstation lag sie, die gefürchtete Fliegenklatsche.

Als ich sie genauer betrachtete, fragte ich mich, wie viele Flecken darauf wohl von Fliegen und wie viele von Menschen herrührten.

Den neben dem Schreibtisch auf einem kleinen Beistelltisch stehenden Kasten beschrieb Viktoria als das Gegenstück zur Verkleinerungsanlage, die sich in dem Häuschen befand, in dem wir unsere Lebensmittellieferung bekommen hatten. Die Modellbahnanlage selbst war kein klassisches Gleisoval, sondern die Strecke kam eingleisig unter dem Hügel, auf dem Viktoria und ich gerade standen, aus einem Tunnel heraus, um sich dann vor dem Bahnhof in drei Gleise zu verzweigen und in einer Art Güterbahnhof mit mehreren Gleisen und Weichen zu enden. An sich war das kein schlechter Gleisplan, dort konnte man bestimmt einige Rangiermanöver durchführen und musste nicht immer stumpf im Kreis fahren – wenn, ja wenn ich nicht hier gefangen gehalten worden wäre.

Vor dem Bahnhof befand sich das Bedienpult mit einem Gleisbildstellwerk, drei digitalen Fahrreglern sowie einem schräg in das Pult eingelassenen kleinen Flachbildschirm. Ein Mauspad mit einer darauf abgebildeten Dampflok und eine halboffene flache Schublade, in der eine Tastatur sichtbar war, rundeten das Ganze ab.

Zwischen Hügel und Bahnhof befand sich das »Dorf« mit den Häuschen, von denen nun eins für unbestimmte Zeit meine neue Heimat darstellte.

»Komm’, wir müssen hier ’runter«, sagte Viktoria, »bevor die Hexe wieder herum meckert!« 

Uns gemeinsam festhaltend stiegen wir vorsichtig den steilen Pfad herab und gingen an den Bahngleisen entlang zum Bahnhof. Ich erschrak, als sich von hinten ein Zug näherte, an uns vorbei fuhr und im Bahnhof anhielt. Der Wendezug bestand aus einer Diesellok, einem Personen- und einem Steuerwagen der österreichischen Zillertalbahn, so stand es zumindest an den Fahrzeugen angeschrieben. Aus dem Personenwagen stiegen Frank und Danielle aus.

Frank rief uns zu: »Jetzt seid ihr für die nächste Runde dran!« 

Der Steuerwagen hatte schon von zwei roten Schlussleuchten auf ein weißes Dreilicht-Spitzensignal gewechselt und der Mann der Hexe rief: »Alles einsteigen!« 

Am Bahnhof angekommen, stiegen Viktoria und ich in den Steuerwagen ein und setzten uns in eine Sitzreihe direkt hinter dem Führerstand, der von einem Lokführer aus Kunststoff besetzt war.

»Vorsicht«, warnte mich Viktoria, »es ruckelt und schaukelt etwas!« 

Tatsächlich setzte sich der Zug mit einem kleinen Bocksprung in Bewegung, hier bestand bei den Konfigurationsvariablen für die digitale Anfahrsteuerung noch Nachjustierungsbedarf. Nach Überfahren der Weichenstraße hinter dem Bahnhof machte die Strecke eine enge Kurve und verschwand im Tunnel unter dem Hügel, auf dem wir gerade noch gestanden hatten.

Das »Souterrain« der Anlage war allerdings nicht stockdunkel, sondern wurde durch an der Decke angebrachte LED-Leuchtstreifen erhellt. Sofort fiel mir eine weitere Kamera auf, die offenbar der Überwachung des Schattenbahnhofs diente, den der Zug nun anfuhr. Das Gleis verzweigte sich in einer Gleisharfe in viele Abstellgleise auf, von denen ein paar durch Zuggarnituren belegt waren, fein säuberlich nach Personen- und Güterzügen getrennt. Um die Abstellgleise herum führte die Strecke in einer langgezogenen Kehrschleife herum, die der Zug jetzt in langsamer Fahrt durchfuhr, um dann wieder in das Gleis Richtung Bahnhof einzuschwenken.

Im Bahnhof mussten wir aussteigen, und schon hörte ich durch die offene Zimmertür die Stimme der Hexe: »Mittagessen!«. Der Mann der Hexe betätigte daraufhin ein paar Schalter auf dem Stellpult und alle Signale erloschen. Er stand auf und ging aus dem Zimmer.

»Wir haben jetzt auch erst einmal Pause«, stellte Viktoria fest, »vorher möchte ich dir aber noch etwas zeigen.« 

Sie führte mich in das Innere des Bahnhofsgebäudes und zeigte mir das Portal der großen Verkleinerungsanlage.

»Ist das das Teil, durch das ich auf die Anlage gekommen bin?«, fragte ich.

Viktoria nickte.

Als ich auf die Modellbahnanlage befördert worden war, hatte ich das Gerät gar nicht richtig wahrgenommen, weil ich noch so benommen war. Es besaß aber schon eine gewisse Ironie, dass man auf diese Art und Weise ausgerechnet in einem Bahnhofsgebäude ankam.

Ich setzte mich danach auf eine nicht allzu unbequeme Bank auf dem Bahnsteig, Viktoria legte sich zu mir auf die Bank und platzierte ihren Kopf auf meinen Oberschenkeln. Während ich ihr ein paar Haare aus dem Gesicht strich, schaute sie mich mit großen Augen an.

»Das ist einer der harmloseren Tage, nicht wahr?«, fragte ich.

Sie nickte nur leicht und gab ein fast unhörbares »mmm-hmm« von sich.

Ich strich ihr durchs Haar und sie bekam leicht feuchte Augen. Was hatte sie hier wohl alles durchmachen müssen… Spontan musste ich an die Fliegenklatsche denken. Und es schien noch Schlimmeres zu geben, was ich mir zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirklich vorstellen konnte.

Schon hörte ich jemanden, und es konnte nur die Hexe sein, eine leicht knarrende Holztreppe hinauf stapfen. Wir befanden uns also mindestens im ersten Obergeschoss des Hauses.

»Sie kommt«, meinte Viktoria.

Und wieder dröhnte ihre unverwechselbare Stimme durch den Raum: »Mittagspause beendet!« 

Bald kam auch der Mann dazu und es begann von Neuem.

So verbrachten wir den restlichen Tag mit Umherspazieren, kleineren Zugfahrten sowie – und dies wurde zunehmend anstrengender – Hinauf- und Hinunterklettern auf den Hügel.

Der Tag schloss mit einem sehr intensiven Gutenachtkuss ab, der zum ersten Mal seit meiner Verschleppung auf die Modellbahnanlage nicht ein merkwürdiges, sondern ein wohliges Gefühl in der Magengegend hervorrufte.

Der nächste Tag begann wie der vorige, nur das Viktoria und ich zum »Rangieren« eingeteilt worden waren.

Zunächst einmal mussten wir aus einem kleinen Schrank im Bahnhofsgebäude orangefarbene Warnwesten, orangefarbene Helme und grobe Arbeitshandschuhe holen und anziehen. Viktoria hatte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, der jetzt vorwitzig unter dem Helm hervorschaute. In diesem Aufzug sah sie wirklich ganz knuffig aus… 

Unser erster Auftrag bestand darin, die Lokomotive eines aus dem Schattenbahnhof angekommenen Güterzuges abzukuppeln. Der Mann der Hexe hatte die LGB-Bügelkupplungen gegen eine filigranere Selbstbaukonstruktion ausgetauscht, die aber für mich nur achtzig Millimeter großen Däumling aber immer noch einiges an Kraftaufwand erforderlich machte.

Viktoria stellte sich auf die Rangiererbühne der Lok und gab dem Mann der Hexe Handzeichen, ob die Lok an- oder abgekuppelt worden und wie viel Platz zwischen Lok und Waggon vorhanden war. Das waren zwar nicht die offiziellen Rangiererhandzeichen, aber sie waren für diese Zwecke vollkommen ausreichend. Ich turnte derweil neben, auf, zwischen und unter den Fahrzeugen herum, immer auf der Hut, nicht angefahren oder gar überfahren zu werden.

Die kleine Rangierlok fuhr im Langsamfahrbereich deutlich sanfter als die große Lok, mit der ich gestern meine erste Fahrt auf der Anlage absolviert hatte, und so wurden wir auf den Rangiererbühnen nicht ganz so umher geworfen. Als wir den Zug in zwei Hälften geteilt und die Lok an das andere Ende umgesetzt hatte, konnte die erste Hälfte der Waggons vorsichtig rückwärts in die Güterabstellgleise geschoben werden. Zwischendurch mussten wir dann noch Waggons im Schattenbahnhof abstellen und neue Waggons aus dem Schattenbahnhof holen.

Als der Mann der Hexe den keifenden Aufruf zum Mittagessen von seiner Frau erhielt, bekamen auch wir erst einmal eine wohlverdiente Unterbrechung. Wir nahmen die Helme ab und setzten beziehungsweise legten uns wieder auf die Bank auf dem Bahnsteig.

Nun konnte ich mir in etwa ausmalen, was ein Rangierer für einen Knochenjob machen musste, da mir bereits jetzt alles weh tat. In Mitteleuropa kam die Entwicklung einer Mittelpufferkupplung, wie es sie in den USA und in Russland gab und die diese Vorgänge deutlich erleichtert hätte, nicht wirklich voran. Das erzählte ich Viktoria selbstverständlich nicht, um mich nicht unnötig verdächtig zu machen.

Ich hatte nämlich die Befürchtung, dass bei fleißiger Verwendung von Bahnfachbegriffen ich bei den anderen unverzüglich als Spion der Hexe verdächtig worden wäre. Und es hatte sich in der kurzen Zeit schon einiges an Begriffen angesammelt: Gleisbildstellwerk, Fahrregler, Wendezug, Steuerwagen, Dreilicht-Spitzensignal, Konfigurationsvariablen für die digitale Anfahrsteuerung, Schattenbahnhof, Gleisharfe, Bügelkupplung, Rangiererbühne, Rangiererhandzeichen, Mittelpufferkupplung. Meine schwarze Liste dieser Begriffe, die es unbedingt zu vermeiden galt, füllte sich zusehends. Wenigstens hielt es mein Hirn auf Trab.

Nach der Rangierschicht am Nachmittag war ich abends fix und fertig und wachte am nächsten Morgen mit einem ausgeprägten Muskelkater auf.

Dieser Tag war offenbar Sonntag oder ein Feiertag, was ich aus dem vormittäglichen Glockengeläut schloss. Am Sonntag gab es nach Aussagen der anderen Gefangenen immer etwas Besonderes zu Essen, heute war es ein kleiner Karton voll mit Müsliriegeln, den ich aus der Verkleinerungsanlage holte. Ich hatte seit meiner Ankunft auf diesen zwanzig Quadratmetern fast überhaupt keine zuckerhaltigen Nahrungsmittel mehr zu mir genommen (was hoffentlich meine Speckröllchen etwas reduzierte), so dass ich nach so einem Riegel wie ein Junkie nach einem frischen Drogenschuss gierte.

Ein weiteres Merkmal eines Sonntags war, »frei« zu haben, was auch immer es zu bedeuten hatte.

»Sonntags haben wir frei?«, fragte ich daher.

Viktoria klärte mich auf, dass es sonntags keine »Bevölkerung«, keinen Rangierdienst und keinen Putzdienst gab.

So verbrachte ich den ganzen Tag mit meiner Gefährtin auf unser Bahnsteigbank. Dies half auch, Muskelkater und Kopfschmerzen zu reduzieren oder zumindest davon abzulenken. Das Kopfweh verortete Viktoria in einem Koffeinentzug, und tatsächlich kam ich morgens eigentlich ohne zwei randvolle Becher mit starkem schwarzem Kaffee gar nicht in Fahrt. Hier wurde der Kaffee aber durch die Stimme der Hexe ersetzt, was mich sogar schneller wach und auch wacher werden ließ. Übrig blieb der Kopfschmerz, der sich aber hoffentlich nach und nach legen sollte.

Als ich meinen Arm um ihre Schultern legen wollte, unabsichtlich in einem etwas falschen Winkel ansetzte und dabei eine ihrer Brüste leicht berührte, drehte sie nur kurz den Kopf zur Seite, schaute mich an und nickte kaum wahrnehmbar. Ich quittierte es mit einem kleinen Kuss auf ihre Stirn, und wiederum gab es keinen Widerstand zu verzeichnen.

Von gelegentlichen Umarmungen meiner Schwester einmal abgesehen, hatte ich in den letzten fünf Jahren keinen wirklichen direkten Körperkontakt zu einer Frau gehabt. In den paar Tagen, die ich jetzt hier verbringen musste, hatte sich das aber schon erheblich zum Positiven geändert.

Viktoria und ich begannen, die freie Zeit zu nutzen und uns unsere Lebensgeschichten zu erzählen.

Sie war etwa sieben Jahre jünger als ich, hatte einen »stinklangweiligen, aber recht ordentlich bezahlten« Job in der Verwaltung eines Energieversorgungsunternehmens, wohnte in der Stadt, in der auch meine Schwester wohnte, hatte keine Geschwister, die nächste Verwandte war eine Kusine in Nordwestdeutschland, hatte keine Haustiere (»zum Glück!«) und war zur Zeit ledig.

Bei »ledig« schaute sie mich mit großen Augen an. Einerseits kam sie mir so süß und hilflos vor, andererseits konnte ich aber nur an meine geplatzte Verlobung denken. Sie passte aber eigentlich wirklich perfekt zu mir, und ich fragte mich, ob ich deswegen mit voller Absicht von der Hexe als ihr Gefährte ausgesucht worden war.

Als ich auf meine Schwester zu sprechen kam, stellten wir fest, dass es kein Zufall sein konnte, wenn Viktoria in der gleichen Stadt wohnte. Langsam kam auch so die Erinnerung zurück, was ich getan hatte, bevor ich offenbar betäubt und hierher verschleppt worden war; die Betäubung und die Verkleinerung hatten wohl eine leichte Amnesie hervorgerufen. Ich war nämlich auf dem Weg vom Bahnhof zu meiner Schwester gewesen. Das Ganze war unheimlich, sehr unheimlich.

Frank und Danielle gesellten sich zu uns und wir teilten ihnen unsere Gedanken mit. Ein Einfamilienhaus wahrscheinlich der Fünfziger oder Sechziger Jahre in einer ruhigen Wohnstraße – zumindest war kein Durchgangsverkehr deutlich wahrnehmbar – in einer deutschen Stadt mit sonntäglichem Glockengeläut gab es zu Zehntausenden, auch und gerade in dieser eher unrenovierten Form.

Danielle versicherte, dass es sich auf jeden Fall um kein französisches oder belgisches Haus handeln konnte, dafür wichen Lichtschalter und Steckdosen zu sehr ab, was Frank, der Elektriker, bestätigte. Immerhin konnten beide den Verdacht auf die Stadt, in der Viktoria und meine Schwester lebten, nicht widerlegen.

Später am Tag bekamen wir von Reinhold und Sofija eine ähnliche Aussage. Beide konnten nur genau sagen, wo wir uns nicht befinden konnten, beispielsweise nicht auf dem Balkan.

Leider brachte alles uns keinen Millimeter weiter. Keiner wusste, wo genau das Haus stand und wie wir vor allem hier wieder herauskamen.

© TOPCTEH